Mittwoch, 25. Dezember 2013

Wegmarken der Menschheit



Gautama Buddha und Jesus sind für mich Giganten und stehen für fundamentale Wegmarken der Menschen, Wegmarken des wahren Humanismus in der Evolution der Menschheit. Sie sind die Großen, nicht Alexander oder Friedrich.

Gewiss: ihre Botschaften werden und wurden immer wieder verdreht, verwässert und sogar in ihr Gegenteil verkehrt, aber diese Botschaften bleiben trotzdem große Realitäten der Menschheit, in welcher Form auch immer, trotz Diktatoren und Ausbeutung.

Noch die antiken Griechen kannten die liebevolle Zuwendung, tätige Nächstenliebe und Toleranz nicht, trotz des schon entwickelten Humanismus: Es gab den anerkannten Rat, Sklaven wie nützliche Haustiere zu behandeln. Dass zudem auch Frauen Menschen waren, genau wie die freien Griechen-Männer, war unbekannt und galt als abwegig.


Damit haben Gautama Buddha und Jesus gründlich aufgeräumt: Ihre Lehren sind für die Menschen heute frisch und kraftvoll wie damals, sie unterschieden nicht nach Kasten, Sklaven und Freien; diese Freien, die angeblich allein am wahren Geist teilhaben und erwachen könnten.

So wurden neue Energien in die Evolution der Menschheits-Geschichte eingebracht; die Liebe zu den Menschen, zu sich selbst und der Humanismus für alle können nicht mehr negiert und wegdiskutiert werden.

Es ist wie es ist!

Zu den Festtagen wünsche ich Euch und Ihnen das Beste. Und: Meditation und Achtsamkeit geben innere Ruhe und Kraft: auch und gerade für das Neue Jahr.

Mit lieben Grüßen
Yudo J. Seggelke

Sonntag, 15. Dezember 2013

Die leuchtende Perle: Heraus aus der schwarzen Höhle des Dämons



Die Aussage, dass Universum, Körper und Geist einer leuchtenden Perle gleichen, ist zunächst eine buddhistische Lehre, zwar mit sehr viel Aussagekraft und Realitätsnähe, aber sie eine Lehre und Theorie und muss durch die Praxis des Lebens verwirklicht werden. Sie muss lebendig und kraftvoll werden.

So hat Meister Gensa zum Beispiel einen Mönch, dem er diesen Satz gelehrt hatte, am folgenden Tag gefragt, wie er die Äußerung verstehe. Dabei stellte Gensa fest, dass der Schüler sich noch in abstrakten intellektuellen Überlegungen erging: er bezeichnete das Denken in dessen isoliertem Geist als

gewaltige Anstrengung, um in die Höhle eines Dämons in einem schwarzen Berg zu gelangen.“

Ich verstehe das so, dass der abstrakte denkende Geist auch bei höchster Anstrengung nur in die „finstere Höhle eines Dämons“ gelangen kann, ohne sich dessen eventuell bewusst zu sein. Gerade komplexes Denken ist häufig nicht nur eine Sackgasse, sondern führt sogar in eine dunkle Höhle der Psyche, in die kein Licht eindringen kann. Das Ego gerät dann durch intellektuelle Energien in die Isolation der dunklen Höhle, es verliert den Fluss und die Bindungskraft des Lebens mit seiner Umwelt und den anderen Menschen: das ist gerade kein geistiges Heldentum.

Dies bedeutet aber keinesfalls, dass Dōgen die Lehre und das ehrliche und gründliche Denken mit dem Verstand ablehnt oder die Vernunft verwirft: Sein großes Werk Shōbōgenzō, „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“, ist der Beweis für das genaue Gegenteil. Und niemand wird behaupten, dass dieses fulminante Werk, das sich jetzt für uns öffnen kann, geistig leichte Kost ist. Aber Körper und Geist, Theorie und Praxis, Lehre und Wirklichkeit dürfen nicht voneinander getrennt werden: Es ist die Einheit, die uns zum befreiten Leben und Handeln führt.

Von großer Bedeutung ist laut Dōgen auch „die Tugend der leuchtenden Perle“, denn die buddhistische Wirklichkeit ist niemals von der Ethik des Handelns abgetrennt. Das Leitbild des Bodhisattva, das in der Mahāyāna-Zeit umfassend entwickelt wurde, beinhaltet gerade Handeln und Hilfe für andere Menschen und nicht den spirituellen Egoismus, der nur an der eigenen Erleuchtung interessiert ist.

Liebevolle Zuwendung, Mitgefühl, Mitfreude und gelebter Gleichmut sind die wesentlichen Merkmale auch des frühen Buddhismus. In den „himmlischen Verweilungen“ hat sie Gautama Buddha selbst pädagogisch geschickt und überzeugend beschrieben.

Das ist daher kein engstirniger Intellektualismus, kein egoistischer Materialismus, aber auch keine spirituelle Ideologie, die sich aus der Wirklichkeit verabschiedet hat und in abgelegenen Klöstern ein Leben führt, das dann nur als künstlich und unnatürlich bezeichnet werden kann. Der wahre Buddhist geht auf den Marktplatz, auch wenn es dort äußerlich schmutzig zugeht. Gerade die leuchtende Perle ist ein untrüglicher Hinweis darauf, dass ein abgelöster, abstrakter Geist und intellektuelles Denken nicht ausreichen, um die Wirklichkeit und Schönheit dieser Welt zu erfahren und die Einheit mit ihr zu erleben.


Sonntag, 8. Dezember 2013

Der Fisch mit den goldenen Schuppen und die leuchtende Perle


In der Legende heißt es über den großen Zen-Meister Gensa, dass er als Fischer nicht auf den Fisch mit den goldenen Schuppen gewartet habe. Diese Aussage interpretiere ich so, dass Gensa nicht einfach darauf gehofft hat, dass ihm irgendwann einmal ohne große eigene Anstrengung ein wertvoller Fisch mit goldenen Schuppen ins Netz geht, der ihm materiellen Reichtum bringen würde. Denn es ist häufig ein großer Irrtum, dass plötzlicher Reichtum ein glückliches und erfülltes Leben bedeutet. Die goldenen Schuppen könnte man im Gegensatz dazu aber auch spirituell interpretieren: Durch die Meditation auf dem Buddha-Weg erhalten wir Schutz und Glanz zugleich, wie goldene Schuppen, aber nicht materiell. Vielleicht hat Meister Gensa einen solchen Fisch gesucht?

Dōgen schildert, dass Gensa auf seiner Wanderschaft schließlich zum Tempel des großen Meisters Seppō kam, wo er intensiv und ausdauernd praktizierte und die buddhistische Lehre studierte. Eines Tages wollte Gensa weitersuchen und hatte sich jedoch kaum vom Kloster entfernt, als er auf dem schmalen Pfad mit seinen offenen Sandalen an einen Stein stieß und seinen Zeh verletzte, sodass dieser stark blutete und stark schmerzte. In diesem Augenblick hatte er ein Erlebnis tiefer Erkenntnis und sagte zu sich:

„(Es wird gelehrt,) dass dieser Körper keine wirkliche Existenz ist. Woher kommt der Schmerz?“

Im damaligen China war die Auffassung verbreitet, dass allein der Geist Wirklichkeit habe und der Körper überhaupt nicht wirklich existiere. Der Körper wäre dann nur ein Spiegelbild im Gehirn – wie eine Fata Morgana in der Wüste, die suggeriert, dass es am Horizont ein reales Gewässer gibt, das sich jedoch verflüchtigt, wenn man näher herankommt. Durch seinen Schmerz war Gensa jäh im Augenblick klar geworden, dass Körper und Geist immer eine Einheit sind. Die Lehre eines vom Körper losgelösten Geistes ist selbst eine Fata Morgana, die im realen Leben keinen Bestand hat und keine Hilfe bei den vielfältigen Lebensproblemen bietet.
Er kehrte dann zum Kloster zurück, berichtete Seppō von seiner Erkenntnis und schloss mit den Worten:

„Schließlich kann ich überhaupt nicht von anderen getäuscht werden.“

Damit drückte er aus, dass jede Lehre, und wenn sie noch so ehrlich und wohl durchdacht übermittelt wird, das eigene Erleben und die eigene Erfahrung nicht ersetzen kann. Wie viel weniger nützt es uns, dass wir von anderen getäuscht werden oder uns selbst täuschen?

Seppō schätzte Gensa wegen seiner klaren, kompromisslosen Erkenntnis und seiner Fähigkeit, sich präzise auszudrücken; er hielt ihn für einen ganz hervorragenden Schüler. Gensa wurde später der Nachfolger von Seppō, und es sind viele tiefgründige Kōan-Dialoge dieser beiden großen Zen-Meister bekannt, die im Lauf der Zeit immer wieder interpretiert und zu einem wesentlichen Bestandteil des Zen wurden.

Nachdem Gensa die Wahrheit des Buddhismus erlangt hatte, lehrte er die Menschen mit den Worten:
„Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist eine leuchtende Perle.“

Wenn sich seine Schüler in intellektuellen Konstrukten verloren hatten und sich in eine „rein geistige“ Welt der erträumten Erleuchtung verirrten, holte er sie mit seinen Worten über die leuchtende Perle in die Wirklichkeit des Hier und Jetzt zurück. Die Perle ist nicht nur rund und damit wie der Vollmond oder der Kreis das Symbol der wahren Erleuchtung und Realität im Buddhismus, sondern sie ist auch als Kugel dreidimensional gerundet und kann hin- und herrollen.

Im Sinne des überwundenen Dualismus kann man sagen, dass die Kugel im Universum rollt oder dass das Universum um die Kugel rollt. Außerdem reflektiert eine Perle die gesamte Umgebung wie ein leuchtender Spiegel – auch dies ist ein tiefes Gleichnis der buddhistischen Klarheit und Wirklichkeit. Das Symbol der Perle übersteigt materielle Dimensionen wie weit oder groß, mager oder klein, quadratisch oder rund, ein zentrierter Punkt oder eine gestreckte Linie.

Die künstlichen Unterscheidungen des Verstandes und die dabei auftretenden Emotionen werden im Zen auf die Wirklichkeit zurückgeführt, die so konkret wie eine leuchtende Perle ist. Diese Identität mit der Wirklichkeit ist so, wie wenn wir „die Dinge entwickeln und (uns selbst) in den Augenblick werfen“, wie Dōgen es im Kapitel über die Sein-Zeit formuliert. Der Augenblick der Gegenwart ist von größter Bedeutung, um zur Wirklichkeit und Wahrheit zu gelangen. Ein separierter Geist, der noch so wunderbar und poetisch beschrieben wird, ist niemals in der Lage, zur Wirklichkeit durchzustoßen. Lehre und Denken sind zwar wichtige Hilfsmittel auf dem Buddha-Weg, aber ohne die Praxis und das Leben und Handeln im Augenblick bleiben sie eine Fata Morgana, die sich auflöst, wenn man sich ihnen ehrlich nähert. Es gibt in der Wirklichkeit keinen Geist ohne den Körper.


Das ist die Essenz der leuchtenden Perle. Und gibt es etwas Schöneres als eine leuchtende Perle?

Sonntag, 1. Dezember 2013

Geist, Körper und Universum sind eine leuchtende Perle


Nachdem Dōgen im Jahre 1233 den Buddhismus und das buddhistische Leben sehr präzise dargestellt hatte, vergingen einige Jahre, bis er 1238 den Text „Das ganze Universum ist eine leuchtende Perle“ verfasste, das vierte Kapitel im Shōbōgenzō. Das japanische Wort ikka bedeutet „eins“, myō heißt „leuchtend“, „klar“, „strahlend“, und ju ist im Deutschen die „Perle“. 

Dieses Kapitel behandelt die berühmten Worte des großen Meisters Gensa, der immer wieder lehrte, dass das ganze Universum in allen Richtungen wie eine leuchtende, strahlende Perle ist. Nishijima Roshi erklärt, dass Dōgen diese Aussage sehr schätzte. Das ist eine ganz andere Erfahrung des Lebens und der Welt, als der heutige oft negative oder sogar nihilistische Zeitgeist!

Im Buddhismus wird großen Wert darauf gelegt, dass man Theorie und Lehre sowie Vorstellungen und Ideen nicht mit der Wirklichkeit und Wahrheit selbst verwechselt. Um das zu verdeutlichen, wird häufig das folgende Gleichnis verwendet: Wenn der Finger auf den Mond zeigt, darf man niemals den Finger mit dem Mond verwechseln. Dieser ist zum Beispiel in seiner Rundheit das Symbol für ein erfülltes Leben, das wir heute als den Zustand der Erleuchtung bezeichnen.

Die Lehre und Theorie, sei es schriftlich oder mündlich im Vortrag, verweisen auf diese buddhistische Wahrheit der Erleuchtung wie der Finger auf den Mond. Aber die Wirklichkeit des Mondes ist unabhängig von dem Finger und existiert auch, wenn der Finger nicht auf ihn zeigt. So können die buddhistische Lehre, buddhistische Bilder oder Figuren von Gautama Buddha auf die Wirklichkeit und Wahrheit hinweisen, aber sie können die Realität nicht ersetzen. Diese können wir nur selbst erfahren.
In der westlichen Philosophie und auch Theologie fehlt aus meiner Sicht häufig diese wichtige Unterscheidung, weil zwischen Ideen, Fantasien, Hoffnungen, Glauben und Ängsten einerseits und der Wirklichkeit selbst andererseits zu wenig oder überhaupt nicht getrennt wird. Das führt zwangsläufig zu Unsicherheiten im Leben und macht die Menschen für falsche Ideen und gefährliche Ideologien anfällig.

Gensa war einer der profiliertesten Zen-Meister und hat auf diesen Unterschied zwischen Theorie und Wirklichkeit sehr deutlich hingewiesen. Dass er die Welt und die Menschen mit einer leuchtenden Perle gleichsetzt, zeigt seine positive Weltsicht und seine Freude an der Schönheit der Natur. Ich kann mir kaum ein aussagekräftigeres und schöneres Symbol für die Welt, unseren Körper und Geist vorstellen als eine leuchtende Perle.

Gensa betont, dass der Geist nicht isoliert vom Körper und der Wirklichkeit existiert, sondern immer eine Einheit mit ihnen bildet. Eine leuchtende Perle wäre auch in der Tat ungeeignet als Symbol für einen abstrakten, weltabgewandten Geist oder Weltgeist. Hegel, der Philosoph des deutschen Idealismus, kam sicher nicht auf die Idee, den von ihm gelehrten Weltgeist als Perle zu bezeichnen. Auch bei ihm vermisse ich die klare Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Worten und Gedanken.

Es ist historisch überliefert, dass Meister Gensa zunächst dem bürgerlichen Beruf eines Fischers nachging und in seinem Boot auf dem Nantai-Fluss fischte. Wir können davon ausgehen, dass er sich dabei hin und wieder auf dem großen Strom einfach treiben ließ und sich an der großartigen Natur erfreute. Im Alter von 30 Jahren fasste er den Entschluss, sein Leben radikal zu verändern. Er verließ die anderen Fischer und den Fluss und ging in die Berge, um einen buddhistischen Meister zu suchen. Davor hatte er kein Sūtra gelesen und keine Lehrrede eines Buddhisten gehört.

Ich vermute, dass ihm in der Mitte seines Lebens, denn damals war die Lebenserwartung sehr viel geringer als heute, plötzlich bewusst wurde, dass sein bisheriges Leben mit all seinen Unwägbarkeiten, Unsicherheiten und Bedrohungen wenig sinnvoll war. Er hatte bis dahin die Klarheit der Wirklichkeit und Wahrheit nicht erfahren. Ich kann mir vorstellen, dass er auch Fische nicht mehr mit seinem Netz einfangen und töten wollte.