Sonntag, 8. Dezember 2013

Der Fisch mit den goldenen Schuppen und die leuchtende Perle


In der Legende heißt es über den großen Zen-Meister Gensa, dass er als Fischer nicht auf den Fisch mit den goldenen Schuppen gewartet habe. Diese Aussage interpretiere ich so, dass Gensa nicht einfach darauf gehofft hat, dass ihm irgendwann einmal ohne große eigene Anstrengung ein wertvoller Fisch mit goldenen Schuppen ins Netz geht, der ihm materiellen Reichtum bringen würde. Denn es ist häufig ein großer Irrtum, dass plötzlicher Reichtum ein glückliches und erfülltes Leben bedeutet. Die goldenen Schuppen könnte man im Gegensatz dazu aber auch spirituell interpretieren: Durch die Meditation auf dem Buddha-Weg erhalten wir Schutz und Glanz zugleich, wie goldene Schuppen, aber nicht materiell. Vielleicht hat Meister Gensa einen solchen Fisch gesucht?

Dōgen schildert, dass Gensa auf seiner Wanderschaft schließlich zum Tempel des großen Meisters Seppō kam, wo er intensiv und ausdauernd praktizierte und die buddhistische Lehre studierte. Eines Tages wollte Gensa weitersuchen und hatte sich jedoch kaum vom Kloster entfernt, als er auf dem schmalen Pfad mit seinen offenen Sandalen an einen Stein stieß und seinen Zeh verletzte, sodass dieser stark blutete und stark schmerzte. In diesem Augenblick hatte er ein Erlebnis tiefer Erkenntnis und sagte zu sich:

„(Es wird gelehrt,) dass dieser Körper keine wirkliche Existenz ist. Woher kommt der Schmerz?“

Im damaligen China war die Auffassung verbreitet, dass allein der Geist Wirklichkeit habe und der Körper überhaupt nicht wirklich existiere. Der Körper wäre dann nur ein Spiegelbild im Gehirn – wie eine Fata Morgana in der Wüste, die suggeriert, dass es am Horizont ein reales Gewässer gibt, das sich jedoch verflüchtigt, wenn man näher herankommt. Durch seinen Schmerz war Gensa jäh im Augenblick klar geworden, dass Körper und Geist immer eine Einheit sind. Die Lehre eines vom Körper losgelösten Geistes ist selbst eine Fata Morgana, die im realen Leben keinen Bestand hat und keine Hilfe bei den vielfältigen Lebensproblemen bietet.
Er kehrte dann zum Kloster zurück, berichtete Seppō von seiner Erkenntnis und schloss mit den Worten:

„Schließlich kann ich überhaupt nicht von anderen getäuscht werden.“

Damit drückte er aus, dass jede Lehre, und wenn sie noch so ehrlich und wohl durchdacht übermittelt wird, das eigene Erleben und die eigene Erfahrung nicht ersetzen kann. Wie viel weniger nützt es uns, dass wir von anderen getäuscht werden oder uns selbst täuschen?

Seppō schätzte Gensa wegen seiner klaren, kompromisslosen Erkenntnis und seiner Fähigkeit, sich präzise auszudrücken; er hielt ihn für einen ganz hervorragenden Schüler. Gensa wurde später der Nachfolger von Seppō, und es sind viele tiefgründige Kōan-Dialoge dieser beiden großen Zen-Meister bekannt, die im Lauf der Zeit immer wieder interpretiert und zu einem wesentlichen Bestandteil des Zen wurden.

Nachdem Gensa die Wahrheit des Buddhismus erlangt hatte, lehrte er die Menschen mit den Worten:
„Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist eine leuchtende Perle.“

Wenn sich seine Schüler in intellektuellen Konstrukten verloren hatten und sich in eine „rein geistige“ Welt der erträumten Erleuchtung verirrten, holte er sie mit seinen Worten über die leuchtende Perle in die Wirklichkeit des Hier und Jetzt zurück. Die Perle ist nicht nur rund und damit wie der Vollmond oder der Kreis das Symbol der wahren Erleuchtung und Realität im Buddhismus, sondern sie ist auch als Kugel dreidimensional gerundet und kann hin- und herrollen.

Im Sinne des überwundenen Dualismus kann man sagen, dass die Kugel im Universum rollt oder dass das Universum um die Kugel rollt. Außerdem reflektiert eine Perle die gesamte Umgebung wie ein leuchtender Spiegel – auch dies ist ein tiefes Gleichnis der buddhistischen Klarheit und Wirklichkeit. Das Symbol der Perle übersteigt materielle Dimensionen wie weit oder groß, mager oder klein, quadratisch oder rund, ein zentrierter Punkt oder eine gestreckte Linie.

Die künstlichen Unterscheidungen des Verstandes und die dabei auftretenden Emotionen werden im Zen auf die Wirklichkeit zurückgeführt, die so konkret wie eine leuchtende Perle ist. Diese Identität mit der Wirklichkeit ist so, wie wenn wir „die Dinge entwickeln und (uns selbst) in den Augenblick werfen“, wie Dōgen es im Kapitel über die Sein-Zeit formuliert. Der Augenblick der Gegenwart ist von größter Bedeutung, um zur Wirklichkeit und Wahrheit zu gelangen. Ein separierter Geist, der noch so wunderbar und poetisch beschrieben wird, ist niemals in der Lage, zur Wirklichkeit durchzustoßen. Lehre und Denken sind zwar wichtige Hilfsmittel auf dem Buddha-Weg, aber ohne die Praxis und das Leben und Handeln im Augenblick bleiben sie eine Fata Morgana, die sich auflöst, wenn man sich ihnen ehrlich nähert. Es gibt in der Wirklichkeit keinen Geist ohne den Körper.


Das ist die Essenz der leuchtenden Perle. Und gibt es etwas Schöneres als eine leuchtende Perle?