Freitag, 23. Mai 2008

Das umfassende Erforschen der buddhistischen Lehre und Praxis



Das Kloster Tokei in


Dieses Kapitel (Kap. 62) hat die japanische Bezeichnung Hensan. Hen bedeutet ´umfassend, überall und weit´, und san heißt wörtlich ´besichtigen oder aufsuchen´. Damit wird an die Tradition angeknüpft, dass die Mönche und Nonnen im alten China bisweilen von einem Kloster zum anderen wanderten, um die buddhistische Lehre bei verschiedenen Meistern und in anderen Umgebungen zu studieren und zu erlernen.

Dôgen warnt jedoch davor, dass sich buddhistische Wanderungen entwickeln könnten, die nicht genug in die Tiefe gehen. Er betont die Wichtigkeit, die Praxis und Lehre bei einem guten Meister gründlich zu erlernen und nachhaltig zu praktizieren. Es sei nicht unbedingt sinnvoll, zu vielen verschiedenen Meistern zu wandern, wenn man seinen eigenen wahren Lehrer gefunden habe. Diese Warnung ist sicher auch heute von großer Bedeutung, denn wenn man bei vielen Lehrern nur ein bisschen studiert und praktiziert, kann man nicht in den umfassenden Buddha-Dharma eindringen und sein eigenes Leben gründlich verändern. Dann kann man keinen neuen Weg finden, um die eigenen alten Probleme wirklich aufzulösen. Das ist in der Tat die nicht selten anzutreffende Form des modernen ´buddhistischen Tourismus´.
Am Anfang des Kapitels sagt Dôgen:

"Die große Wahrheit der Buddhas und Vorfahren im Dharma ist das durch und durch umfassende Erforschen des Höchsten. Es verwirklicht sich, wenn alle Hindernisse überwunden sind und sich ungeahnte Kräfte offenbaren. Wenn dies (wirklich) so ist, öffnen sich die Blüten und die konkrete Welt entsteht."

Er sagt damit, dass der höchste Zustand des Erwachens durch fortwährendes Lernen und Erforschen erlangt wird, das zusammen mit der buddhistischen Übungspraxis unverzichtbar ist. Interessant ist die Analogie zur modernen jetzigen Zeit, wo ein lebenslanges Lernen im Beruf wegen der sich verändernden Lebensumstände gefordert wird. Sicher gibt es beim Menschen die Kräfte des Verharrens, die genau dieses Lernen und Erforschen während des ganzen Lebens beeinträchtigen oder sogar hindern. In dem Kapitel "Die Weiterentwicklung jenseits der Erleuchtung" sagt Dôgen, dass auch nach dem Erlangen des höchsten Zustandes eine dauernde Weiterentwicklung notwendig ist, dass man immer weiter forscht und vertieft, um die großartige buddhistische Lehre immer besser zu ´verstehen´. Wichtig für diesen höchsten Zustand ist die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber und das moralisch richtige und klare Handeln gegenüber anderen. Dabei sollten wir nicht nur die schöne Seite des Lebens, oder wie Dôgen sagt, die „süße Melone“, sondern auch die dunkle Seite nämlich den „bitteren Kürbis“ unverstellt und jeweils tiefgründig erfahren und erforschen, weil sonst die Wirklichkeit und Wahrheit einseitig idealisiert wird.

Dôgen zitiert dann ein berühmtes Koan-Gespräch zwischen Meister Seppo und seinem großen Schüler Meister Gensa. Seppo fragte diesen:

"Du Asket (Gensa), warum gehst du nicht fort, um die Wahrheit umfassender zu erforschen?"

Meister Gensa antwortete:

"Bodhidharma kam nicht ins östliche Land und der zweite Vorfahre im Dharma ging nicht zum westlichen Himmel."

Diese Aussage wurde von Seppo vollständig bestätigt.
Was bedeutet nun das zunächst paradox erscheinende Koan? Denn wir wissen historisch, dass Bodhidharma vom Westen kam und in China als erster authentischer Nachfolger von Gautama Buddha den wahren Buddhismus einführte und an seinen Nachfolger, den zweiten Vorfahren im Dharma, weiter gab. Dieser blieb allerdings wirklich in China und reiste nicht nach Indien. Dies hätte im buddhistischen Sinne keinen Sinn gemacht, weil er den wahren Dharma ja bereits von seinem eigenen Lehrer authentisch erlernte und übernahm. Meister Gensa ist bekannt für sehr prägnante, treffende Aussagen. Er versuchte immer zum Kern der Wirklichkeit vorzudringen und sich nicht in herkömmlichen Vorstellungen zu verlieren, und seien sie noch so ´edel oder heilig´.

Die Aussage, dass der Nachfolger und zweite Vorfahre im Dharma, Taiso Eka in China blieb und nicht umherwanderte, nachdem er in Bodhidharma seinen wahren Meister gefunden hatte, entspricht zweifellos dem Tenor dieses Kapitels. Warum sollte man umherreisen, wenn man seinen eigenen wahren Lehrer gefunden hat? Was bedeutet aber, dass Bodhidharma nicht aus Indien kam? Dies kann man sicher so verstehen, dass dessen geografische Herkunft und sein Wandern keine große Bedeutung haben, sondern dass die lebendige buddhistische Lehre in China die Wahrheit und Wirklichkeit im Hier und Jetzt ist. Woher der Meister gekommen ist, gehört der Ebene des Denkens und der Vorstellungen an und sagt eigentlich wenig über die authentische Lehre und Praxis selbst aus, die durch ihn nachher großartig in China aufblühte und viele wunderbare Meister hervorbrachte.

Dôgen berichtet die Geschichte des Meisters Nangaku, der Schüler des großen Meisters Daikan Enô wurde und etwa fünfzehn Jahre unter ihm lernte und sich entwickelte. Sein Lehrer hatte ihn bei der Ankunft gefragt:

"Was ist es, das so gekommen ist?" Er wusste zunächst nicht darauf zu antworten und beschäftigte sich mit dieser Koan-Frage intensiv acht Jahre lang. Danach antwortete Nangaku seinem Meister:

"Etwas mit Worten zu erklären trifft nicht den Kern der Sache".

Dieser fragte ihn darauf: "Stützt du dich auf die Praxis und Erfahrung oder nicht?"
Nangaku
antwortete: "Es gibt die Praxis und es gibt die Erfahrung, aber wenn sie nicht rein sind, kann man sie nicht verwirklichen."

Daikan Enô fügte hinzu: "Ich bin so und du bist auch so und die Buddhas und Vorfahren in Indien waren ebenso."

In dieser berühmten Koan-Geschichte werden die zentralen Eckpunkte der buddhistischen Lehre angesprochen. Zunächst wird klargestellt, dass ein Mensch niemals mit Denken und Worten vollständig ´verstanden´ werden kann, denn auch "der Geist kann nicht erfasst werden." Dieses wirklich zu erfahren und zu erforschen und nicht unbedacht daherzusagen, erforderte beim Schüler Nangaku acht Jahre des Lernens, Forschens und der intensiven Praxis im Alltag. Danach ging es um die Übungspraxis des Zazen selbst und um die Einheit von Erfahrung und Praxis.

Dies sind die Kernaussagen des Zazen, dass nämlich je im Augenblick die Wirklichkeit, das Gleichgewicht und die Erleuchtung mit der Wahrheit des Universums zusammenfallen. Wesentlich für diese buddhistische Wahrheit ist die Übereinstimmung des Denkens und Handelns mit Moral, oder wie es bei Dôgen heißt, dass die „Reinheit und diese Wahrheit niemals beschmutzt und verunreinigt werden können“. Dies gilt auch, wenn wir in der realen Welt immer wieder unmoralisches Handeln und verbrecherisches Tun beobachten oder sogar erfahren müssen.

Dôgen warnt dann davor, dass man in ein Kloster eintritt und die buddhistische Lehre nur oberflächlich übernimmt und sie nicht gründlich erforscht. Es geht darum, dass man "das ganze Auge erfährt, das alle Sichtweisen umfasst. Dies bedeutet das Höchste im konkreten Tun und Handeln zu verwirklichen." Man kann das nicht in kurzer Zeit und ohne intensive Bemühungen verwirklichen. Im Grunde ist es dabei unwichtig, an welchem Ort, in welchem Kloster oder in welchem Zusammenhang dies geschieht. Allerdings ist ein wahrer Lehrer dabei von großer Bedeutung.
Im Verhältnis zu dieser konkreten Praxis des Buddha-Weges ist in der Tat die Frage, ob Bodhidharma aus Indien kam, eher theoretischer Natur und weniger wichtig und man kann sie eigentlich fast beliebig mit Ja oder Nein beantworten. Die lebendige Lehre und Praxis in einem Kloster zu erlernen, ist die wesentliche Aufgabe des Schülers, und dabei ist nicht zuletzt der direkte Kontakt mit dem Meister wesentlich. Aus demselben Grund wäre es sinnlos gewesen, wenn der Nachfolger von Bodhidharma, Meister Taiso Eka, nach Indien gereist wäre, denn die wahre Lehre hatte er von seinem eigenen Meister erlernt und mehr konnte er nicht erfahren und erforschen. Dôgen sagt dazu:


"Er ging nicht zum westlichen Himmel, weil er direkt in (Bodhidharmas) blaue Augen hineingesprungen ist."


Er will damit sagen, dass die lebendige Beziehung zwischen Lehrer und Schüler maßgeblich ist und nicht wo und in welchem Land der Lernprozess stattfindet. Ob man viele Hunderte von Orten aufsucht, um nach der Wahrheit zu suchen, ist wirklich unwesentlich. Entscheidend ist, dass man sich auf den Weg macht, einen wahren Lehrer findet und dann intensiv lernt, praktiziert und die buddhistische Lehre erforscht.


Nach Dôgen begegnet man durch einen wahren Lehrer dann direkt Shakyamuni Buddha. Damit begegnet man sich zum ersten Mal wirklich selbst und man kann anderen Menschen wahrhaft begegnen. Dies findet in einem Augenblick unmittelbar und wahrhaftig statt, denn nach der Lehre von Dôgen und Nishijima Roshi ist man dann je in der Gegenwart, in der Wirklichkeit und in der Einheit mit dem Universum. So erfährt man nach Dôgen sich selbst, die Welt, den Meister und erfährt die anderen Menschen. Er sagt, wenn dies nicht im gegenwärtigen Augenblick geschieht, kann man weder sich selbst noch die Welt wirklich erfahren. Er erläutert dann:


"Wenn dieses Erfahren und Erforschen aber nicht unmittelbar im Jetzt stattfindet, ist es unmöglich, …das Tun und Handeln zu erfahren, ist es unmöglich das Buddha-Auge zu erfahren und es ist es ist unmöglich, euer Selbst zu fischen."


Damit nimmt er Bezug auf Meister Gensa, der zunächst Fischer war, bevor er sich auf den Weg des Buddha-Dharma begab.
Gegen Ende des Kapitels zitiert Dôgen seinen eigenen Meister Tendô Nyojô mit einem Gedicht:


"Die große Wahrheit ist ohne Tor, sie springt über eure menschlichen Gehirne hinaus" und weiter: "Wenn ein großer Meister sich überschlägt, tanzt er mit dem Herbstwind, die Aprikosenblüten fallen erstaunt herab und fliegen im scharlachroten Durcheinander."


Damit wird die Begrenztheit des Denkens angesprochen, sodass man "über die Gehirne hinaus springen" muss. Es hat auch keinen Sinn, die Lehre lediglich theoretisch aufzunehmen und wiederzugeben und sozusagen auswendig zu lernen. Vielmehr ist es das lebendige Leben selbst, wenn "der Meister mit dem Herbstwind tanzt und die wunderbaren Blüten fallen und durcheinander wirbeln."
Am Ende kommt Dôgen auf die Zazen-Praxis zu sprechen und sagt:


"Das umfassende Erforschen bedeutet nur zu sitzen und dabei Körper und Geist fallen zu lassen. Den ganzen Körper umfassend zu erforschen bedeutet, dass euer Kommen nichts anderes ist, als jetzt hierher zu kommen."


Wenn man also "aus dem Gehirn herausspringt" eröffnet sich die Wahrheit der Zazen-Praxis, in der man alle Gedanken und Gefühle fallen lässt. Man sitzt in geistiger Klarheit im Gleichgewicht und "denkt aus dem Nichtdenken." Nishijima Roshi betont, dass man daher die Zazen-Praxis nicht als Meditation bezeichnen sollte, weil man sich nicht auf irgendetwas Bestimmtes konzentriert und nicht das eigene Denken anstrengt, um ein Problem, ein Paradox oder eine Frage zu lösen.


Diese Praxis des Shikantaza strahlt nach Dôgen in das ganze Leben der Menschen, so wie der Klang einer Glocke nach dem Anschlagen fortdauert und damit seine eigentliche Kraft erst entwickelt. Eine solche Praxis vollzieht sich unmittelbar, "dass kein Haar dazwischen passt." Sie basiert auf der buddhistischen Lehre, geht aber über die theoretische Lehre hinaus zum eigenen Erfahren, Erforschen und Erleben. Dann „überschreiten wir das gewöhnliche Dasein und Handeln des Menschen wie (ein Kürbis über sein übliches Dasein als) Kürbis hinausspringt“

Dienstag, 20. Mai 2008

Die Natur des Dharma oder die Natur der Wirklichkeit

In dem Kapitel "Die Dharma-Natur" (Kap. 54, Hosshô) beschreibt Dôgen die Natur, also das Wesen der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit selbst kann man mit einem Begriff wie ´Dharma-Natur´ selbstverständlich nur bezeichnen, denn Begriff und Wirklichkeit sind nicht identisch. Das Wort zeigt auf diese Wirklichkeit, ohne dass es selbst diese Realität ist.


Wandbuddha in Datong, China

Es ist wichtig, immer zwischen den Begriffen einerseits und den Tatsachen und der Wirklichkeit andererseits so klar wie möglich zu unterscheiden. Dies ist übrigens auch die Grundlage der modernen wissenschaftlichen Semiotik, die sich mit den Begriffen, Bezeichnungen, Bedeutungen und Inhalten beschäftigt (vgl. Umberto Eco).
Der Zen-Buddhismus hat diese Unterscheidung seit über 1.500 Jahre in fabelhafter Klarheit herausgearbeitet und sie ist für die unmittelbare Erfahrung und das Handeln in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt von wesentlicher Bedeutung. Wer nur den Ideen die höchste Bedeutung zuerkennt, kann zu dieser Wirklichkeit nicht vorstoßen. Das Gleiche gilt für denjenigen, der nur die Form und Materie als real anerkennt und sich auf die Wahrnehmung beschränkt. Dies gilt auch für große Bereiche der heutigen Naturwissenschaft, die mit hervorragenden Methoden und hoch entwickelten Instrumenten der Materie, der Energie und den physikalischen und chemischen Prozessen auf der Spur ist und nicht zuletzt im Bereich der Technik hervorragende Ergebnisse erzielt hat.

Aber die zentralen spirituellen und psychischen Probleme der Menschen wurden damit nicht wirklich gelöst. Die vielfältigen Formen des Leidens wurden bereits bei Gautama Buddha sehr genau bezeichnet und gehören in der Tat überwiegend den psychischen und sozialen Bereichen an. Wer also das Leiden der Menschen überwinden will, kann weder mit den Ideen und dem Denken (Idealismus) noch mit der Wahrnehmung und der Naturwissenschaft (Materialismus) allein weiterkommen. Dies wird auch von den großen Forschern wie z. B. Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg genau so bestätigt. Naturwissenschaft und Religion schließen sich danach überhaupt nicht aus, sondern ergänzen sich im Gegenteil zur umfassenden Wirklichkeit des Lebens und des Universums.

Der zentrale Ansatz des Buddhismus geht über die beiden oben genannten Formen des Lebensverständnisses hinaus. Er bezieht das Handeln im Augenblick der Gegenwart ein und überschreitet das intellektuelle Denken und die Wahrnehmung. Er führt damit zum höchsten befreiten Zustand des Lebens und zum Erwachen. Dieser Zustand ist nach Nishijima Roshi durch das umfassende innere und äußere Gleichgewicht gekennzeichnet, das vor allem in der Zazen-Praxis geübt werden kann und erfahren wird. Dôgen und Nishijima Roshi halten diese Übungspraxis für unverzichtbar, ohne allerdings die buddhistische Lehre, das Denken generell oder die Wahrnehmung abzuwerten und als nebensächlich anzusehen.
Dôgen sagt am Anfang des Kapitels:

"Es gibt ein Erwachen aus euch selbst heraus, das unabhängig von einem Meister ist. Dieses unabhängige Erwachen aus euch selbst heraus ist nichts anderes als das Wirken der Dharma-Natur."

Damit ist die positive und optimistische Lebenshaltung des Buddhismus treffend gekennzeichnet. Denn das Erwachen ist der Ausweg aus dem vielfältigen Leiden, in das wir im Laufe unseres Lebens hineingeraten und es ist nach Dôgen mit der Dharma-Natur identisch. Das Erwachen ist kein gesonderter oder gar ekstatischer Zustand, den Goethe vielleicht als ´Himmel hoch jauchzend´ bezeichnen würde, sondern entspricht der ureigenen Natur und dem Wesen des Universums und des Menschen, die hier als Dharma-Natur bezeichnet werden.
Gleichwohl rät Dôgen uns im Folgenden dringend, einen guten Meister zu suchen, um sich unter ihm zu schulen. Wir sollten dazu die großartigen Sutras des Buddhismus genau studieren. Beides ergibt einen wesentlichen Zugang zur Dharma-Natur. Dies heißt nichts anderes, als dass wir selbst identisch mit der Dharma-Natur sind und diese sich im Erwachen offenbart. Aber es ist ohne fähigen Lehrer und ohne die Sutras sehr schwierig, in diesem Sinne zu erwachen. Es bedarf darüber hinaus erheblicher Anstrengung, um die Befreiung und das Gleichgewicht zu erlangen. Sie werden uns also nicht allein durch Wissen und Glauben geschenkt, sondern müssen auf dem richtigen Wege unter der Führung eines wahren Lehrers erarbeitet werden.
Dôgen sagt hierzu:

"Alle Wesen folgen guten Lehrern und den Sutras, bis sie die Buddha-Wirkung erfahren und die Wahrheit erlangen."

Er bezeichnet dies als den Samadhi der Dharma-Natur, den wir "durch die Begegnung mit dem Samadhi der Dharma-Natur selbst erlangen." Obgleich wir die Dharma-Natur von Natur aus kennen, ein solches Wissen also bereits schon lange in uns tragen bedeutet dies,

"dass wir die uns angeborene Weisheit durch die Begegnung mit der uns angeborenen Weisheit erlernen."

Durch die Übungspraxis, das Lernen von und mit einem Lehrer und die buddhistische Lehre der Sutras begegnen wir nach Dôgen der "angeborenen und natürlichen Weisheit" und diese begegnet sich dadurch selbst. Denn wenn wir sie nicht hätten, könnten wir ihr nicht begegnen und könnten sie nicht erfahren, selbst wenn wir wahre Lehrer und die Sutras hätten und durch sie lernen würden. Dôgen sagt dazu:

"Durch die Kraft ihres eigenen Wissens verwirklichen alle Buddhas, Bodhisattvas und alle Lebewesen die große Wahrheit der alles umfassenden Dharma-Natur“. Durch die Hilfe der guten Lehrer und Sutras verwirklichen wir nach Dôgen die Dharma-Natur "aus sich selbst heraus".

Er bezeichnet diese Dharma-Natur als das wahre Selbst, das etwas ganz anderes ist als das kleine egoistische Ego. Dieses unterscheidet zwischen Subjekt und Objekt hauptsächlich wegen der eigenen Interessen und Vorteile. Durch die damit zwangsläufig ´eingebaute´ Begrenzung in unserem Leben können wir dem Leiden dann nicht entkommen und wir entfremden uns von uns selbst. Dôgen sagt:

"Ein guter Lehrer ist die Dharma-Natur und er ist das (wahre) Selbst.“

Die Dharma-Natur ist daher unser guter Lehrer auf dem Weg der Befreiung und des Erwachens. Die falsche Sicht des Selbst bezeichnet Dôgen sogar als Dämon, der außerhalb des Buddha-Weges ist und uns von ihm abdrängt. Dieser große Weg ist nicht zuletzt das erwachte Leben und Handeln im Alltag, wenn wir „zum Frühstück kommen, zu Mittag essen und Tee trinken."
Dôgen bedauert, dass es viele Menschen gibt, die sich selbst als Praktizierende auf dem Buddha-Weg bezeichnen, die sich aber mit der Frage und dem Inhalt der Dharma-Natur überhaupt nicht beschäftigt haben und "ein Leben lang sprachlos herumgestolpert sind." Es gäbe sogar Mönche, die Meister geworden sind, ohne sich mit der Dharma-Natur beschäftigt zu haben. Wenn sie mit diesen zentralen Fragen in Berührung kommen, fällt "ihr Körper und Geist sogleich in einen Abgrund der Verwirrung".

Sicher aufgrund vielfältiger eigener Erfahrungen beschreibt er diese Menschen so, dass sie leider das Wissen und die Erfahrung der Dharma-Natur weit weg in die Zukunft verlagern und sich in der Gegenwart nicht damit beschäftigen. Sie sehen einen angeblichen Unterschied zwischen der spirituellen Welt der Dharma-Natur und den konkreten Gegebenheiten des Alltags, der Formen und des Handelns. Dies sei aber grundsätzlich falsch. Auch mit äußerst intelligenten Diskussionen kann man die Dharma-Natur jedoch nicht ausloten, da sie zum Bereich der Erfahrung, des Handelns und des höchsten Zustandes der Wirklichkeit gehört. Mit dem unterscheidenden Denken der zeitlichen Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Begriffen wie ´existent´ oder ´nicht existent´ ist es daher nicht möglich, der Dharma-Natur näherzukommen.
Dôgen zitiert dann die tiefgründige Aussage von Zenmeister Baso:

"Seit unzähligen Weltzeitaltern haben alle Lebewesen den Samadhi der Dharma-Natur nicht verlassen. Sie leben immer in der Wirklichkeit dieses Samadhi, der Dharma-Natur, ganz gleich ob sie sich ankleiden, essen, reden oder sich unterhalten."

Dies bedeutet in beeindruckender Klarheit, dass nicht nur die positiven und idealen Bereiche des Lebens identisch mit der Dharma-Natur sind, sondern überhaupt alles, was es im Universum, auf der Welt und bei den Lebewesen und Menschen gibt. Dôgen sagt dazu, dass Meister Baso auf der Dharma-Natur ´reitet´, denn sein Name bedeutet ´Pferdemeister´. Er sagt, dass wir die Mahlzeit essen und die Mahlzeit uns isst und will damit die Trennung von Subjekt und Objekt überschreiten, die beim wahren Handeln je im Augenblick ohnehin bedeutungslos ist. Die Dharma-Natur kann damit niemals den Menschen verlassen und der Mensch verlässt niemals die Dharma-Natur.

Im Folgenden wird die Einheit der Dharma-Natur mit dem Hier und Jetzt an diesem Ort und jetzt zu dieser Zeit herausgearbeitet. Dies alles ist nach Dôgen im Handeln des Alltags der wirkliche Samadhi der Dharma-Natur. An anderer Stelle erklärt Dôgen, dass die Zazen-Praxis "der König der Samadhis" ist, dass wir also mit dieser Übungs-Praxis ganz im Samadhi der Dharma-Natur sind.

Der unverzerrte Gebrauch der Wahrnehmung der sechs Sinne und das Handeln im Alltag seien identisch mit dem Samadhi der Dharma-Natur. Wenn wir diese dagegen nicht gebrauchen, existiert der Samadhi der Dharma-Natur überhaupt nicht. Diese Wahrheit sei seit Gautama Buddha authentisch von einem Meister zum anderen übermittelt worden und habe so auch Zenmeister Baso erreicht. Dann ging sie weiter zu Meister Dôgen selbst. Dadurch bleibt die Dharma-Natur kraftvoll und lebendig. Dabei sei es nach Dôgen nicht unbedingt erforderlich, dass wir beim Reden und Handeln das Bewusstsein haben, dass darin die Dharma-Natur wirksam sei.
Eine materialistische Sicht unseres Körpers, die nur eine Ansammlung von Atomen und Molekülen, von Informationsverarbeitung und Genen kennt, kann die von Dôgen gemeinte Dharma-Natur nicht erfassen. Aber wenn man so denkt, sei nach Dôgen damit trotz der Begrenzung des Verständnisses die Dharma-Natur auch wirksam. Eine abstrakte Bezeichnung der Natur muss immer unterschieden werden von dem „fließenden Wasser selbst und den Bäumen, die blühen oder kahl werden“.
Dôgen fährt fort:

"Deshalb ist es die wirkliche (Dharma)-Natur, wenn die Blüten sich öffnen und die Blätter herabfallen."

Die Dharma-Natur ist also keine dauerhafte Essenz, die vom Augenblick und der Zeit unabhängig ist, sondern sie verwirklicht sich, indem sich eine Blume öffnet. Dôgen empfiehlt uns dann dringend, nicht nur andere Menschen zu befragen und alles zu glauben, was diese uns erzählen, sondern konsequent eigene Erfahrungen zu sammeln. Wir sollen immer weiter in den Bereich der Dharma-Natur hinein kommen, uns mit diesen Fragen gründlich beschäftigen, sie wieder loslassen und von neuem angehen. Nach Dôgen gibt es ein Denken,

"das sich von Begriffen und Vorstellungen befreit hat und deshalb die Dharma-Natur selbst ist. Das alles umfassende Denken im Denken über die Dharma-Natur ist so beschaffen."

Am Ende des Kapitels stellt Dôgen eine Vielzahl von Fragen, die über Basos Worte noch hinausgehen. Er will uns sicher damit anregen, dass wir uns nicht mit den Zitaten großer Meister zufriedenzugeben, sondern durch eigene vielfältige Fragen immer tiefer in das hinein kommen, was als Dharma-Natur bezeichnet wird. Er sagt:

"Zum Beispiel sagte Baso nicht, dass die ganze Dharma-Natur die Dharma-Natur nicht verlassen kann. Er sagte nicht, dass die ganze Dharma-Natur das Ganze der Dharma-Natur ist und sagte nicht, dass alle Lebewesen sich selbst als Lebewesen nicht verlassen können. Er sagte auch nicht, dass die Dharma-Natur frei vom (Begriff) ´Dharma-Natur´ ist und nicht, dass sich die Lebewesen von (der Vorstellung) eines Lebewesens befreien können."

Schließlich befragt er Meister Baso, was dieser mit "alle Lebewesen" wirklich ausdrücken will, denn letztlich ist es mit dem denkenden Verstand und Begriffen nicht zu erfassen. Er zitiert die Sätze berühmter Meister in diesem Zusammenhang: "Was ist es, das so gekommen ist?" und "etwas mit Worten zu erklären trifft nicht den Kern der Sache." Er fordert uns auf, diese Frage sofort zu beantworten und spontan zu erklären. Er möchte uns also unmittelbar einbeziehen, um uns davor zu bewahren, dass wir seine große Lehre nur passiv aufnehmen und sie nicht selbst erfahren und erforschen.

Samstag, 10. Mai 2008

Anleitung zur Zazen-Praxis

Der große Meister Kodo Sawaki


In diesem Kapitel (Kap. 58, Zazengi) beschreibt Dôgen in knapper Form die Übungs-Praxis des Zazen. Im ganzen Shôbôgenzô wird deutlich, wie wichtig diese Praxis für Dôgen war, der sie erst unter seinem Lehrer Tendo Nyojo in China erlernt hatte und dann selbst praktizierte. Er lehrte sie in Japan nach seiner Rückkehr mit aller Klarheit und Überzeugungskraft als das Wesentliche im Buddhismus. In neuerer Zeit hat der große Meister Kodo Sawaki diese Zazen-Praxis belebt, vervollkommnet und an uns weiter gegeben (vgl. die historischen Fotos)

In seinem ersten kurzen Werk nach der Chinareise beschreibt er die Zazen-Praxis ausführlicher als hier und inhaltlich weitgehend identisch. (Anleitung zum Zazen, Fukan Zazengi), das von Nishijima Roshi kürzlich neu übersetzt und ausführlich kommentiert wurde (Internet, http://gudoblog-e.blogspot.com). Im Shôbôgenzô gibt es außerdem drei weitere bedeutende Kapitel, die sich speziell auf Zazen beziehen. Zum einen das erste Kapitel (Bendowa), in der das Streben nach der Wahrheit mit der Zazen-Praxis unauflösbar verschmolzen wird. Dies markiert für den japanischen Buddhismus vor allem der Sôtô-Tradition einen Neuanfang. Bis dahin war die Zazen-Praxis in der Form des Shikantaza, also der Zazen-Praxis ohne Konzentration und Denken, unbekannt. Es war dort lediglich die Koan-Methode der Rinzai-Linie durch den Meister Esei eingeführt worden, die Dôgen vor seiner Chinareise mehrere Jahre lang übte.
Zazen wird in zwei weiteren Kapiteln, "Die Bambusnadel der heilenden Zazen-Praxis" (Kap. 27, Zazenshin) und "Der Samadhi, welcher der König der Samadhis ist" (Kap. 72, Zanmai o zanmai) aus verschiedenen Sichtweisen beschrieben. Es gibt demnach insgesamt fünf wesentliche Quellen speziell zu dieser Übungs-Praxis, in denen Dôgen sehr konkrete praktische Hinweise gibt und auch philosophische und spirituelle Dimensionen anspricht. Nishijima Roshi hält die Zazen-Praxis ebenfalls für unerlässlich auf dem Buddha-Weg und bezeichnet die richtige Zazen-Praxis als die erste Erleuchtung im Augenblick des Hier und Jetzt, also des Sitzens bei der Übung.
Dôgen beginnt dieses kurze Kapitel wie folgt:

"Zen wirklich zu erfahren bedeutet, in Zazen zu sitzen."

Er empfiehlt einen ruhigen, sauberen Ort, der nicht zu dunkel ist und an dem man nicht durch Wind, Regen oder zu große Hitze und Kälte gestört wird. Es soll ein einfacher, aber sauberer Ort sein, der als Umgebung für die Zazen-Praxis geeignet ist. Dôgen verweist auf Gautama Buddha, der unter dem Bodhi-Baum praktizierte und dort das große Erwachen erlebte. Er berichtet von dem großen Meister Sekito Kisen, der auf einem flachen Felsen im Freien praktizierte. Beide benutzten nach der Überlieferung weiches Gras als Unterlage und als Zazen-Sitz. Dôgen spricht davon, dass es am Übungs-Ort "im Winter warm und im Sommer kühl“ sein soll und lehnt damit jede asketische Praxis ab. Viele meinen fälschlich, die Zazen-Praxis müsse als asketische und schmerzhafte Übung durchgeführt werden. Sie halten den Zazen-Raum zum Beispiel im Winter ausgesprochen kühl, indem sie die Heizung herunterdrehen. Dies ist nach Dogen nicht sinnvoll. Dasselbe gilt für zu heiße Räume, sodass im Sommer bei großer Hitze eine gewisse Kühlung sinnvoll ist.

Er rät uns, alle Gedanken und Bindungen an Schwierigkeiten, Hoffnungen, Ziele und Ängste des Alltags wegzulassen und uns davon vollständig zu lösen. Auch Bewertungen nach Recht und Unrecht und damit verbundene Gedankengänge und Gefühle sollen während der Zazen-Praxis vermieden werden. Genauso sollen Theorien über den Geist, über das Denken, über Anschauungen, Wahrnehmungen, buddhistische Lehren usw. weggelassen werden. Wir sollten während der Zazen-Zeit mäßig essen und trinken, d.h., weder hungern noch üppige Mahlzeiten zu uns nehmen.

Wie in den Kapiteln zum buddhistischen Gewand des Kesa betont Dôgen, dass man dieses bei der Zazen-Praxis anlegen sollte. Auch Nishijima Roshi empfiehlt uns, dieses buddhistische Kleidungsstück während der Übung zu tragen. Dôgen zieht ein rundes Sitzkissen vor, das mit Kapok gefüllt sein sollte. Die im Westen häufig verwendeten Getreide-Spelzen für die Füllung des Kissens werden von Nishijima Roshi nicht unterstützt. Nach meiner Erfahrung sind diese Kissen zwar zunächst ganz angenehm, werden aber sehr hart und drückend, wenn man längere Zeit praktiziert. Für eine Sesshin von mehreren Tagen mit vielen Sitzperioden sind sie daher weniger geeignet.

Man sollte in der Mitte des runden Sitzkissens Platz nehmen, also weder am vorderen, noch am hinteren Rand sitzen. Dadurch hat man einerseits eine genügend große Auflagefläche für das Gesäß, sodass unnötiger Druck auf die Haut vermieden wird. Auf der anderen Seite hat man eine gewisse Stütze durch den hinteren Teil des Kissens, das sich ein wenig hochwölbt, während man sitzt. Von großer Bedeutung ist die senkrechte Haltung mit gekreuzten Beinen, entweder im ganzen oder halben Lotossitz. Nishijima Roshi empfiehlt auch den burmesischen Lotossitz, bei dem die Unterschenkel und Füße nicht übereinander, sondern vor einander liegen, wenn die anderen Haltungen zu schmerzhaft sind. Von ganz großer Bedeutung ist ein völlig gestreckter gerader Rücken, so als ob man einen „Spazierstock verschluckt“ hat.

Man sieht immer wieder Bilder, bei denen Zazen Praktizierende mit jahrelanger Erfahrung einen etwas krummen und nicht völlig gestreckten Rücken haben oder sogar den Schneidersitz verwenden. Dabei werden die Knie nicht auf den Boden gedrückt, sondern stehen schräg nach oben. Diese Sitzhaltungen sind für die Zazen-Praxis ungeeignet und sollten vermieden werden. Außerdem sollten der Rücken und die Wirbelsäule wirklich gerade und senkrecht nach oben gehalten werden, sodass man weder nach links noch nach rechts geneigt ist.

Dôgen empfiehlt die ineinander gelegten Hände weder zu hoch noch zu tief zu halten und sagt uns, dass wir die leicht zusammengelegten Daumen in der Höhe des Bauchnabels halten sollten. Die Hände liegen dabei locker im Schoß und sind nicht zu weit unten aufgelegt. Die Augen sollten leicht geöffnet sein. Es wird also nicht empfohlen, die Augen zu schließen. Der Grund liegt darin, dass man bei geschlossenen Augen leicht in Träumereien und Gedanken verfällt, die bei der Zazen-Praxis gerade vermieden werden sollten.
Wie im Fukan Zazengi sagt Dogen in diesem Kapitel:

"Wenn ihr still und unbewegt sitzt, denkt aus dem Grund des Nichtdenkens. Wie kann man aus dem Grund des Nichtdenkens denken? Es ist jenseits des Denkens. Dies ist die wahre Kunst beim Zazen."

Er sagt uns also, dass wir unseren Geist vom Denken befreien und entlasten sollen und dass dies ganz wesentlich für die positive Wirkung dieser Übungs-Praxis ist. Dies bedeutet, dass wir nicht in Gedankengänge abgleiten und uns nicht an Bewertungen, z. B. über Recht und Unrecht festmachen. Wenn wir uns dessen bewusst werden, sollten wir uns möglichst bald davon lösen und zu einem Geist zurückzukehren, der keine Gedanken, Bewertungen und Gefühle hat. Dies bedeutet nicht, dass man ohne Bewusstsein ist, wie manchmal fälschlich gelehrt wird.
Dôgen sagt am Ende dieses Kapitels:

"Zazen bedeutet nicht, Zen-Konzentration zu erlernen, es ist vielmehr das Dharma-Tor des Friedens und der Freude. Es ist die reine Praxis und Erfahrung."

Das heißt, dass eine Konzentration auf das Zählen und den Atem für Dôgen nicht die richtige Zazen-Praxis ist und dass auch die intensive Beschäftigung mit einem Koan, mit einer Visualisierung, mit einem spirituellen Inhalt oder einer Frage nicht der richtigen Zazen-Praxis des Shikantaza angehört. Er sagt uns im Gegenteil, dass wir uns von solchen Konzentrationsübungen befreien sollten und dass sich dadurch "das Dharma-Tor des Friedens und der Freude" öffnet. Das heißt, dass wir eine gewisse geistige Entspannung beim Zazen erleben. Er betont an anderer Stelle, dass wir nicht an wunderbaren Zielen des Buddha-Weges haften sollen, zum Beispiel ein Buddha zu werden oder „mit Gewalt“ die Erleuchtung zu erlangen. Die Wirkung der Zazen-Praxis stellt sich im Augenblick dieses Handelns ohne Zielvorstellungen und Absichten ein. Konzentrationsübungen wären dafür hinderlich und würden die Praxis des Shikantaza unmöglich machen und damit die Wirkung dieser Übung verfehlen.

Montag, 5. Mai 2008

Der ganze Körper des Tathâgata und das Lotos-Sûtra

In China und Japan wurden die Reliquien und Gebeine der Heiligen und großen Meister hoch verehrt. Für diese wurden besondere Gebäude errichtet, die als Stûpa bezeichnet werden. Oft gab es sogar größere Mengen dieser Gebeine, die von den lebenden Buddhisten achtungsvoll in verschiedene Zeremonien einbezogen wurden und in vielfältigen Formen, zum Beispiel mit Musik, Wimpeln, Fahnen, Perlenketten, Blumengirlanden usw. geehrt wurden.

Pagode im Kloster Tokein
In diesem Kapitel (Kap.71, Nyorai zenshin) erläutert Dôgen, dass für ihn der Körper von Gautama Buddha, der auch Tathâgata genannt wird, das ganze Universum umfasst. Die große Wertschätzung und Ehrerbietung gebührt nicht nur den Gebeinen Buddhas und der Heiligen, sondern dem ganzen Universum, also seinem Körper. Dies ist in der Tat die aussagekräftige und weit gefasste Lehre des Buddhismus, die auch die sogenannte belebte und unbelebte Natur wie Berge und Wasser umfasst. In einem anderen Kapitel heißt es zum Beispiel, dass die Bäche und Flüsse die Zungen Gautama Buddhas sind, die uns den Dharma ohne Unterbrechung lehren, und dass die Berge sein Körper sind. Damit wird die Trennung von Mensch und Natur aufgehoben.

Diese ist vor allem nicht der Gegner des Menschen, der uns mit seiner Gewalt und unberechenbaren Wucht Angst einflößt. Aber die Natur dient auch nicht nur der romantischen oder gar sentimentalen Erbauung, die in der neuen Zeit als Konsum organisiert ist und mit dem „normalen“ Handeln der Menschen im Alltag nichts zu tun hat. Beide Formen der verengten Beziehung zur Natur sind bekanntlich im Westen häufig anzutreffen, und dabei überwiegt wohl heute die romantische Komponente. Im Mittelalter stand eher die Angst einflößende Urgewalt von Katastrophen und Hungersnöten im Vordergrund. Als Goethe zum Beispiel das erste Mal den höchsten Berg im Harz, den Brocken, bestieg, galt dies als außerordentlich gefährlich und waghalsig. Dies nicht zuletzt, weil dort böse Mächte hausen sollten, die zusammen mit den Naturgewalten für den Menschen äußerst gefährlich seien. Die Katastrophen der Natur dienen heute als Bilder in den Medien mehr der Zerstreuung und Sensationslust und helfen, die geistige Langeweile vergessen zu machen.
In diesem Kapitel beschreibt Dôgen nicht nur die Einheit des Universums mit Gautama Buddha, sondern preist die Sûtras, also die schriftlichen Überlieferungen der buddhistischen Lehre, außerordentlich. Er sagt, man solle diese tief verehren und für sie Stûpas bauen, während die Gebeine und Knochen der Heiligen demgegenüber weniger aussagekräftig sind. Dies ist eine verblüffende Wahrheit, denn welche Reliquien wären wertvoller als die buddhistischen Schriften selbst? Damit gibt er einen wesentlichen Inhalt des Lotus-Sûtra wieder. Er kannte dieses sehr gut, da er als ganz junger Mönch in ein Kloster der Tendai-Linie eintrat, die es als wesentliche Grundlage der buddhistischen Lehre ansieht und es außerordentlich schätzt.
Dôgen zitiert am Anfang dieses Kapitels Shakyamuni Buddha aus dem Lotus-Sûtra :

"An jedem Ort wo (dieses Lotus-Sûtra) gelehrt, gelesen, rezitiert und niedergeschrieben wird und wo die Bände dieses Sûtras aufbewahrt werden, sollten wir einen Stûpa der sieben Juwelen errichten. Es ist nicht notwendig, die Gebeine darin aufzubewahren. Warum? (Weil) sich in diesem Stûpa bereits der ganze Körper des Tathâgata befindet."

Er zählt die verschiedenen Formen der Ehrerbietung und Zeremonien für die Ganzheit von Stûpa, Sûtra und dem Körper Gautama Buddhas auf: Blumen, Düfte, Perlenketten, seidene Baldachine, Fahnen, Flaggen, Musik und Lobgesänge. Er empfiehlt den Menschen, sich vor dem Stûpa niederzuwerfen und auf diese Weise die eigene hohe Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen.
Dôgen verdeutlicht, dass das Lesen, Rezitieren und Niederschreiben des Sûtra mit ganzem Herzen und in der ganzen Wirklichkeit der Einheit von Mensch und Universum geschehen solle. Denn

"die Bände des Sûtras sind nichts anderes als die wirkliche Form (des Universums)."

Er arbeitet heraus, dass die Schriften der Sûtras der ganze Körper des Tathâgata sind und dass dieser eine wunderbare Einheit mit dem Universum sei.
In der Tat ist es eine ganz wichtige Aussage, dass die überlieferten schriftlichen Formen der buddhistischen Lehre, also die Sûtras, von höchster Bedeutung für die buddhistische Lehre und deren Weitergabe von einer Generation zur anderen sind. Demgegenüber sei die Verehrung der Gebeine der Heiligen oft allein im Ideellen und Spirituellen angesiedelt. Sie kann sogar als Flucht aus dem Alltag in eine heile spirituelle Welt verstanden werden. Der Alltag ist in der Tat oft durch mühsames Handeln und schwieriges Überleben gekennzeichnet. Eine solche Flucht entspricht aber keineswegs dem Zen-Buddhismus, der die Einheit der Praxis, des Alltags und der Theorie lehrt und sie als unteilbar versteht.

Dôgen schätzte das Lotus-Sûtra außerordentlich. Dabei ist jedoch zu betonen, dass er eine neue buddhistische Tiefe und Wirklichkeit offen legte. Die Wunder und mystischen, märchenhaften Begebenheiten, die im Lotus-Sûtra geschildert werden, sind für ihn weniger wichtig. Er gibt ihnen eine neue umfassende buddhistische Bedeutung. Dieses Sûtra ist für ihn die buddhistische Realität selbst. Sein großartiges Verständnis hat er in dem Kapitel "Die Dharmablume dreht die Blume des Dharma (Hokke ten hokke) niedergelegt, das zweifellos zu den großartigsten Texten des Shôbôgenzô gehört. Leider gleichen die verfügbaren westlichen Übersetzungen meist wirklichkeitsfremden Wunderbüchern, in denen scheinbar die Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden. Damit wird der höchste Zustand im Buddhismus aber falsch verstanden und dargestellt, weil dieser gerade das Vordringen zur Wirklichkeit bedeutet. Diese ist in der Tat das größte Wunder.
Dôgen sagt, dass die verschiedenen Bereiche der Verehrung von Blumendüften, Perlenketten, Lobgesängen usw. sowohl himmlisch als auch konkret sind, und er nennt dies "ausgewählt". Er wiederholt noch einmal:

"Wir sollten den Stûpa errichten, aber es ist nicht notwendig, Gebeine darin aufzubewahren, denn es ist klar, dass die Bände des Sûtras selbst schon die Gebeine und der ganze Körper des Tathâgata sind."

Im Lotus-Sûtra wird die hohe Bedeutung dieser Lehre betont und die großartige Wirkung beschrieben, die bereits von einem einzigen Wort dieses Textes ausgeht, wenn man es rezitiert, anderen vorträgt oder abschreibt. Wenn man sich vor den Stûpas und den Sûtras niederwirft, sei man in unmittelbarer Nähe des höchsten erwachten Zustandes, der auf Sanskrit Anuttara-samyak-sambodhi heißt. Dies werde "die vollkommene Nähe" genannt. Er betont, dass es wichtig sei, dieses Sûtra hier und jetzt zu empfangen, zu bewahren, zu lesen, zu rezitieren, zu erklären, auszulegen und niederzuschreiben. Wenn man sich vor den Bänden des Sûtras niederwirft und es verehrt, sei dies dasselbe, als wenn man sich vor Gautama Buddha selbst niederwirft. Es ist gleichzeitig die höchste Verehrung für die Wirklichkeit des Universums, das alles umfasst.

Dôgen sagt nichts anderes, als dass die Knochen und Gebeine, die häufig verehrt werden, und die Bände des Sûtras eine Einheit bilden und dass sie außerdem der ganze Körper Gautama Buddhas sind. Er verwendet dafür die zunächst schwer verständliche Formulierung:

"Es gibt die Knochen des Löwen, es gibt die Knochen eines Buddhas aus Holz, es gibt die Knochen eines Buddha-Bildnisses und es gibt die Knochen des Menschen. Dies alles sind die Bände des Sûtras."

Er geht damit über die materielle konkretistische Vorstellung der Knochen als Reliquien hinaus, indem er sie als Gleichnisse für die Bände der Sûtras versteht. An anderer Stelle betont Dôgen, wie wichtig die Lehre für den Weg des Buddhismus ist. Er grenzt damit sein eigenes Verständnis von Strömungen im Zen-Buddhismus ab, welche die Lehren, Theorien und schriftlichen Texte als unwichtig ablehnen oder sogar als gefährlich und irreführend bezeichnen. Gleichwohl ist die Übungs-Praxis und das Handeln im Alltag für Dôgen von zentraler Bedeutung und er betont auch in diesem Kapitel die ausdauernde und viele Zeitalter währende Übungspraxis von Gautama Buddha selbst. Er zitiert noch einmal das Lotus-Sûtra:

"Ich habe gesehen, (wie) Shakyamuni Tathâgata während endloser Weltzeitalter durch harte Praxis und schmerzhafte Übung Verdienste ansammelte und Tugend anhäufte und wie er auf dem Bodhisattva-Weg niemals innehielt."

Dies heißt, dass die Übungspraxis auch für die Vorfahren im Dharma und Gautama Buddha selbst niemals aufhört, also immer weiter geht und dadurch eine nicht unterbrochene Weiterentwicklung ermöglicht. Dies hat Dôgen eindrucksvoll in einem anderen Kapitel "Die Weiterentwicklung nach demErwachen" ausgebreitet. Er tritt damit vordergründigen Behauptungen von selbst ernannten Meistern entgegen, die uns weis machen wollen, dass sie nach der großen Erleuchtung keine weitere Übungspraxis mehr ausführen müssen. Am Ende des Kapitels sagt er, dass Gautama Buddha

"noch kraftvoller praktizierte, als er die Buddhaschaft bereits erlangt hatte und dabei immer noch weiter vorangeht. Dies ist das kraftvolle Handeln des ganzen Körpers."

Samstag, 3. Mai 2008

Was ist in unserer Sprache verborgen?

In diesem kurzen, aber inhaltsreichen Kapitel (Kap. 51, Mitsugo) untersucht Meister Dogen die Beziehung der Sprache zur wahren buddhistischen Lehre, also der Schatzkammer des wahren Dharma-Auges.
Nishijima Roshi klärt Fragen zum Shôbôgenzô

Dogen selbst ist zweifellos ein großer Künstler der Sprache und seine Texte sind von hoher spiritueller und dichterischer Qualität. Es wird berichtet, dass er schon als Kind chinesische Gedichte schrieb und eine besondere Liebe und Verbindung zur Sprache hatte. Es ist bekannt, dass er neue Wortschöpfungen in die japanische Sprache der damaligen Zeit einführte, um buddhistische Lehrinhalte auszudrücken, die mit den Begriffen des damaligen Japanisch nicht zu beschreiben waren. Seine Schriften sind für Philosophen des Ostens und des Westens von großer Bedeutung. Für neue philosophische Inhalte benötigt man eine besondere Sprache, um sie aussagekräftig und philosophisch treffend zu formulieren.

Dogen betont häufig, dass wesentliche Bereiche des Buddha-Dharma mit dem unterscheidenden Verstand und der Sprache nicht vollständig erfasst werden können. Er fordert uns auf, die Möglichkeiten der Sprache auszuschöpfen und beim Buddha-Dharma darüber hinauszugehen. Daraus darf der Schluss gezogen werden, dass er die Sprache als Teil des Buddha-Weges sehr schätzte und auf keinen Fall ablehnte. Ganz im Gegenteil sind Worte, Sätze und Lehrreden für ihn unabdingbar, um den Buddha-Weg zu gehen und an dessen Anfang den Bodhi-Geist zu erwecken. Andererseits beschreibt er viele Begebenheiten, bei denen der Buddha-Dharma übermittelt wurde, ohne dass Worte benutzt wurden, zum Beispiel durch Gesten, die Art und Weise sich zu bewegen und nicht zuletzt wortlos zu handeln.
Im höchsten Zustand des Erwachens ist die Sprache für Dogen ein wesentliches "geschicktes Mittel", um im lebendigen Kontakt zwischen den Menschen die buddhistische Lehre zu übermitteln. Dies gilt zwischen Lehrern und Schülern, aber auch zwischen den Meistern untereinander, die dadurch „jenseits der Erleuchtung“ weitere Klarheit gewinnen.
Für die Lernenden oder Menschen, die ganz außerhalb der Buddhalehre stehen, erweckt die Sprache der Meister sicher den Anschein, dass sie wie eine Geheimsprache für andere nicht verstehbar ist. Man könnte sagen, dass der Meister eine verborgene Sprache verwendet, die für den anderen nicht oder nur teilweise zu entschlüsseln ist.

Weil die Sprache und das unterscheidende Denken Grenzen der Leistungsfähigkeit haben, kann man sagen, dass es wesentliche Inhalte der buddhistischen Lehre gibt, die für die Sprache nicht erreichbar und damit verborgen sind. Dogen ermutigt uns jedoch, die Möglichkeiten der Sprache auszuschöpfen und bis an ihre Grenzen zu gehen. Wenn wir sie erreicht haben, sollten wir verstummen und die Sprache überschreiten. Das gewöhnliche Denken und Reden der Menschen schöpft nach Dogen deren Möglichkeiten jedoch nicht aus. Er betont, dass die Theoretiker, Sprachwissenschaftler des Buddhismus, Kommentatoren und sogar Dichter, die den Buddha-Dharma nicht kennen, keine Möglichkeit haben, zum Kern der Lehre vorzudringen. Weder überragende Intelligenz allein noch außergewöhnliche sprachliche Fähigkeiten sind demnach in der Lage, den Buddha-Dharma zu ´verstehen´ und in Worte zu fassen. Für diese Menschen ist die Buddha-Lehre in der Tat ein verborgener Schatz, den sie nicht mit ihren Fähigkeiten heben können.

Was mit Worten jedoch nicht ausgesagt werden kann, hat für die lebendige Übertragung der buddhistischen Lehre eine große Bedeutung. Aber es ist keine Geheimlehre, die zum Beispiel durch ein Ritual der Einweihung übermittelt und dann sofort verstanden werden kann. Das Leben lässt sich mit der Sprache nur im bestimmten Umfang erfassen, beschreiben und kommunizieren. Die Sprache wächst und verändert sich mit dem Menschen. Wir sollten nicht meinen, dass wir mit unserem subjektiven Denken endgültige Aussagen und Weisheiten erfassen können. Das Wunderbare der Wirklichkeit überschreitet das Denken und Reden. Dogen rät uns, dies in Bescheidenheit und Klarheit anzuerkennen.

Er beschreibt in verschiedenen Beispielen und Koan-Gesprächen, dass es eine wirklich umfassende Verständigung und ein wahres Verstehen zwischen den Menschen geben kann, die intuitiv im Augenblick stattfinden. Ein solches intuitives Verstehen erfordert nach Dogen die Übungspraxis des Zazen. Dabei konzentriert man sich mit dem Geist nicht auf ein Thema oder eine Frage, sondern sitzt gerade ohne Denken und Wahrnehmung mit entleertem Bewusstsein. Nishijima Roshi zählt daher die Zazen-Praxis nicht zu den Methoden der Meditation, bei der sich der Geist in voller Konzentration auf etwas Bestimmtes bezieht, z. B. auf eine Frage oder ein Bild. Zazen ist "das Denken aus dem Nicht-Denken" und diese Praxis ist zwar bewusst, aber kein unterscheidendes Denken und kein Wahrnehmen. Fesselnde Emotionen verlieren beim Zazen ihre Bedeutung und lösen sich auf, wenn sich in der Praxis das Gleichgewicht und die erste Erleuchtung ereignen.
Dogen beginnt das Kapitel mit folgender Aussage:

"Wenn die große Wahrheit, die alle Buddhas bewahrt und beherzigt haben, sich mit dem ganzen Universum verwirklicht, bedeutet dies, dass die Worte "du bist so und ich bin so" und "du musst sie gut bewahren und behüten" unmittelbar im Jetzt erfahren werden“.

Die Sprache ist hierbei ein Fingerzeig auf etwas, das über die Sprache hinausgeht. Gleichwohl gibt es eine tiefe Verständigung und Übereinstimmung zwischen bestimmten Menschen, die miteinander sprechen. Das obige zweite Zitat stammt von Bodhidharma und betrifft seinen Nachfolger Taiso Eka. Der Meister bestätigte damit seinem Schüler, dass er die Essenz und den wahren Kern der Buddha-Lehre erfasst habe und diesen großen Schatz hüten und bewahren solle.
Dogen berichtet in der folgenden Koan-Geschichte, dass ein hoher Beamter des Staates dem großen Meister Ungo ein Geschenk überbrachte und ihn bei dieser Gelegenheit fragte:

"Es heißt, der Weltgeehrte (Buddha) hätte eine verborgene Sprache gehabt, aber für Mahakashyapa gab es (dabei) nichts Verborgenes. Was ist die verborgene Sprache des Weltgeehrten?“

(Als Antwort) rief der große Meister aus: "Beamter!" und dieser antwortete mit "Ja".
Dann fragte der große Meister: "Verstehst du dies oder nicht?" und der hohe Beamte antwortete: "Ich verstehe es nicht." Darauf sagte der Meister:

"Wenn du dies nicht verstehst, ist das die verborgene Sprache des Weltgeehrten und wenn du dies verstehst, ist es (wie bei) Mahakashyapa, für den es (dabei) nichts Verborgenes gab.“

Dogen schätzte den großen Meister Ungo sehr und verdeutlicht, dass es sich bei diesem Koan-Gespräch um zentrale Aussagen zur Sprache und zum wirklich oder scheinbar Verborgenen handelt. Er betont, dass der Meister in der authentischen Nachfolge der großen Buddhas und Meister stand und er die große Wahrheit des Buddha-Dharma verwirklicht hatte. Er bittet uns, dieses Gespräch sehr genau und konkret zu untersuchen, zu verstehen und nicht in allgemeine und abstrakte Überlegungen abzuschweifen. Wegen der authentischen Übertragungslinie wurde die Wirklichkeit und Wahrheit der buddhistischen Lehre genau und unverzerrt an Meister Ungo übermittelt und ist in dieses Koan-Gespräch eingeflossen.

Wenn wir den Zusammenhang von Sprache und Verborgenem untersuchen wollen, ist dieses Koan also ein hervorragender Einstieg. Gautama Buddha besaß die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, die hier als verborgene Sprache bezeichnet wird. Sein authentischer Nachfolger verstand dies, sodass sie ihm nicht verborgen war.
Nach Dogen sollten wir nicht versuchen, das Verborgene des Buddha-Dharma überstürzt und in einem Schritt verstehen und entschlüsseln zu wollen. Wir sollten uns dagegen immer wieder und in allen Einzelheiten damit beschäftigen und es gründlich untersuchen: "So als ob ihr einen harten Gegenstand durchschneiden müsst.“

Hinter dem einfachen Anruf "Beamter!" und dessen unmittelbarer Reaktion mit der Antwort "Ja" verbergen sich tiefgründige Zusammenhänge, die anhand dieser Koan-Geschichte angesprochen und aufgedeckt werden sollen.

Der Beamte war sicher ein intelligenter Mensch, der die damals sehr schwierige Ausbildung in der chinesischen Verwaltung durchlaufen hatte und sich in vielfältigen harten Prüfungen bewähren musste. Er hatte eine sehr hohe Position im Staat erreicht und war sicher stolz darauf. Er identifizierte sich vollständig mit seiner erfolgreichen Berufsrolle. Er war sicher im mündlichen und schriftlichen Ausdruck ungewöhnlich geschult, und hatte besonders große Fähigkeiten im sprachlichen Ausdruck. Als er mit seiner Berufsposition „Beamter“ angesprochen wurde, antwortete er automatisch mit "Ja", ohne sich viel dabei zu denken. Aber ist der Berufstitel das Wichtigste des Menschen und ist er überhaupt aussagefähig, wenn es um wirklich Wesentliches geht?

Der Beamte hatte sich offensichtlich nicht gefragt, wer der Meister als Mensch und Buddhist ist und wer er selbst wirklich sei. In diesem Koan-Gespräch wird deutlich, dass der kluge Beamte am Äußerlichen der Bezeichnung in der Beamtenhierarchie klebte und im Verhältnis zum Meister eher einer Berufs-Marionette glich. Daher waren ihm die Sprache und Bedeutung des Meisters und Buddha-Dharma verborgen und er konnte sie nicht verstehen. Das bedeutet keineswegs, dass er rhetorisch ungeschult war und kein breites Wissen auf bestimmten Gebieten besaß. Was der Meisters als „Verstehen“ bezeichnet, betrifft nicht den denkenden Verstand des anderen, sondern bedeutet ein umfassendes intuitives Erfassen. Wer dies besitzt für den ist wie bei Mahakashyapa nichts verborgen.

Das wirkliche „Verstehen“ im Sinne des Buddhismus wird durch einen wahren Lehrer vermittelt. Ohne ihn wird es nicht einmal klar, was wir überhaupt verstanden haben und was nicht. Dann wissen wir nicht einmal selbst, was uns verborgen ist. Es kann nicht ausgelotet werden, welche tiefgründigen Fragen unter der gewöhnlichen Sprache der Menschen verdeckt sind. Manche verstehen wichtige Zusammenhänge auch dann nicht, wenn nichts verborgen ist und alles klar und offen vor ihnen liegt.
Dogen beschreibt dies wie folgt:

"Deshalb haben wir die verborgene Sprache (Buddhas) niemals als eine uns unbekannte Sprache erlernt. Genau in dem Augenblick, wenn wir den Buddha-Dharma (mit dem Verstand) nicht verstehen, ist dies ein wichtiger Teil der verborgenen Sprache. Diese Sprache ist zweifellos die Eigenart des Weltgeehrten und sie ist die ihm eigene Sprache."

Dogen bezieht sich hier auf den Augenblick je in der Gegenwart, in dem intuitives Verständnis möglich ist. Dies ist die Sprache Gautama Buddhas und der großen Meister, wenn sie den Buddha-Dharma lehren.
Es greift zu kurz, wenn man sagt, dass das Hochhalten der Blume von Gautama Buddha bei der Dharma-Übertragung zu Mahakashyapa die verborgene Sprache sei, weil dies ohne Worte zum Wesentlichen des Buddha-Dharma geschah. Es ist nach Dogen ganz falsch zu sagen, dass Buddhas Lehre "in der Form der Sprache und Worte oberflächlich sei", weil es sich nur um Buchstaben, Worte und Sätze handelt. Es ist auch nicht richtig zu sagen, dass durch das wortlose Hochhalten der Blume der Buddha-Dharma seinen Anfang genommen habe, und dies sei viel wesentlicher als die Sprache. Mahakashyapa habe das Ganze sogar vorhergesehen, weil er die verborgene Sprache Buddhas kannte.

Dogen verwehrt sich in aller Klarheit dagegen, dass man die Worte von Gautama Buddha und der großen Meister als oberflächlich und unwesentlich abqualifiziert und die wortlose Geste im Gegensatz dazu viel höher einschätzt.
Dogen sagt:

"Ein solcher Mensch weiß zwar, dass der Weltgeehrte sich in seinen Reden der Buchstaben und Namen bedient, er weiß aber nicht, dass der Weltgeehrte Buchstaben und Namen weit übersteigt. Er muss sich noch von den Gefühlen der gewöhnlichen Menschen befreien. Die Befreiung, die Dharmalehre selbst und die Lehre, die aus Worten besteht, drehen das Dharmarad und durchdringen den Körper und den Geist aller Buddhas und Vorfahren im Dharma."

Die hohe Bedeutung der Sprache wird dadurch unterstrichen, dass Gautama Buddha die Dharma-Übertragung danach mit Worten ausdrückte und bestätigte. Das wortlose Hochhalten der Blume und die folgende sprachliche Formulierung sind von gleichem Rang und gleich hoher Bedeutung. Es ist daher unmöglich, die Sprache als minderwertiger gegenüber der Geste einzuschätzen.
Der Weltgeehrte sagte nämlich danach :

"Ich besitze die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges und den wunderbaren Geist des Nirwana, ich gebe sie an Mahakashyapa weiter."

Dogen folgert, dass Gautama Buddha die Sprache keineswegs als minderwertig einstufte, denn sonst hätte er die Blume ein zweites Mal hochhalten können, ohne die Dharma-Übertragung mit Worten auszudrücken. Aber diese Sprache vermittelt eine tiefgründige Bedeutung, die je im Augenblick Wirklichkeit und Wahrheit ist und von gewöhnlichen Menschen nicht verstanden und in ihrer Tiefgründigkeit nicht ausgelotet werden kann.

Dogen lehnt die Vorstellung gewöhnlicher Menschen ab, dass diese verborgene Sprache ein Geheimwissen sei, das allein den erwachten Mönchen und Laien zugänglich sei. Diese hätten dann das alles umfassendes Wissen als Geheimlehre und es gäbe für sie überhaupt nichts Verborgenes mehr, weil sie alles durchschauen. Das kann aber nicht richtig sein, denn nach Dogen ist der Geist unfassbar, und je weiter wir auf dem Weg des Buddha-Dharma vorangegangen ist, desto mehr wird uns klar, dass wir die tiefgründige Wirklichkeit und Wahrheit von uns selbst und vom Universum nicht mit dem Verstand und der Sprache umfassend verstehen können. Dogen sagt hierzu:

"In dem Augenblick, wenn ihr einem Menschen begegnet, hört ihr die Sprache des Verborgenen und ihr sprecht die Sprache des Verborgenen. Wenn ihr euch selbst erkennt, erkennt ihr das verborgene Handeln. Wie viel mehr können die Buddhas und Vorfahren im Dharma in den verborgenen Sinn der verborgenen Sprache, die wir hier beschrieben haben, eindringen?"

Sprechen und Handeln gehen Hand in Hand, schließen sich nicht aus. Sie lassen sich auch nicht gegeneinander aufrechnen, welches wertvoller sei und welches minderwertiger. Der Buddha-Dharma kann sich beim Menschen und im Universum verwirklichen, wenn Sprechen und Handeln im Gleichgewicht sind, also beim Erwachen oder bei der Erleuchtung.

"Das verborgene Handeln überschreitet unser eigenes Wissen und das der anderen, nur das in uns Verborgene kann es erkennen und die jeweils anderen Wesen in ihrer Verborgenheit verstehen es nicht."

Dogen sagt weiter,
"dass jeder Ort wo die Menschen belehrt werden und jeder Augenblick, in dem (Menschen) die Lehre hören und annehmen immer die Offenbarung dieses Verborgenen ist. Was ist der gegenwärtige Augenblick? Weil er unfassbar ist, verbirgt er sich vor euch, vor den anderen, vor den Buddhas und Vorfahren im Dharma und vor fremden Wesen. "

Auf dem Weg des Buddhismus klären wir durch die Lehre, das Handeln und die Erfahrung das vorhandene Verborgene in uns selbst, in den Buddhas und in den Vorfahren. "Damit klären und durchdringen sie das Verborgene Selbst. "
Am Ende des Kapitels zitiert Dogen den Lehrer seines eigenen Meisters Tendo Nyojo mit folgendem Gedicht:

"Der Weltgeehrte spricht eine verborgene Sprache,
für Mahakashyapa gibt es nichts Verborgenes,
ein Regen, herunterfallende Blüten in der Nacht,
die ganze Stadt ist erfüllt vom Wohlgeruch fließenden Wassers."


Besonders die beiden letzten Zeilen sprechen mit ihrer poetischen Wortwahl direkt das Verborgene jenseits der gewöhnlichen Sprache an, denn sie vermitteln den Geist des wahren Dharma-Auges. Dogen sagt:

"Ihr solltet eure Augen und Ohren mit großer Intuition und Klarheit benutzen. Wo sonst könnt ihr die Einheit von Körper und Geist verwirklichen?"