Dōgen zitiert einen berühmten Dialog zwischen den beiden großen
Zen-Meistern Seppō und Gensa. Der ältere Seppō fragte:
„Wenn
plötzlich ein klarer Spiegel daherkommt, was dann?“
Damit wird das Gleichnis des Spiegels aus einer anderen Perspektive
betrachtet: der Spiegel kommt daher und nicht ein Mensch. Vorher hatte Meister
Seppō erläutert, dass sein eigenes Gesicht wie ein ewiger Spiegel sei, er also
über den intuitiven buddhistischen Weisheits-Geist verfüge und deshalb einen
Fremden genau als Fremden und einen Chinesen genau als Chinesen sehe, wenn sie
kommen. Damit will er ausdrücken,
dass er die Wirklichkeit genau so sieht, wie sie ist.
Der jüngere Meister Gensa war mit dieser Aussage jedoch nicht ganz zufrieden, denn er wollte
noch stärker zwischen Vorstellung und
Wirklichkeit unterscheiden. Daher
antwortete er:
„Zerschlagen
in hundert Teile und Stücke!“
Diese Bemerkung klingt zunächst unverständlich oder gar unhöflich. Warum
zerbirst der ewige Spiegel in hundert Stücke, wenn vor ihm ein anderer Spiegel erscheint? Also zwei ewige Spiegel begegnen
sich wirklich, sie sind dann in Wechsel-Wirkung. M. E. ist das ein Super-Kōan.
Nishijima Roshi deutet diese
Aussage so, dass im konkreten Hier und Jetzt auch der ewige Spiegel nur eine Idee ist und so verstanden werden muss.
Diese Idee habe in Bezug auf die Wirklichkeit und den Körper-und-Geist selbst
keinen eigenständigen Bestand. So tiefgründig und poetisch das Gleichnis des
ewigen Spiegels für den intuitiven klaren Geist auch sei, so sehr müsse man
sich davon auch wieder lösen, um die volle Wirklichkeit und Wahrheit der
Gegenwart zu erfahren und zu erfassen. Die Idee eines Geistes ist etwas anderes
als der wirkliche Körper-und-Geist.
Deshalb sagte Meister Gensa, dass der Spiegel als Gleichnis und Idee in hundert Stücke zerspringt, wenn er mit
der Wirklichkeit selbst konfrontiert
wird. Denn Gleichnisse und Worte können die Wirklichkeit des Buddha-Dharma
immer nur teilweise beschreiben und dürfen nicht mit der Wirklichkeit selbst
verwechselt werden. Worte dienen der Verständigung zwischen den Menschen und
auch der Weitergabe der Lehre des Buddhismus. Sie sind wichtig und unverzichtbar
in der menschlichen Kultur, aber sie haben auch ihre Grenzen und bergen Gefahren.
Im Zen-Buddhismus geht es darum, durch die Praxis, vor allem des Zazen,
zur Wirklichkeit selbst zu gelangen, die durch Worte zwar in einem gewissen
Umfang beschrieben und vorbereitet, aber nicht ersetzt werden kann. So sind
Gleichnisse wie zum Beispiel das Symbol des ewigen Spiegels wie ein Fingerzeig
auf den Mond, aber nicht die Wirklichkeit des Mondes selbst.
Am Ende seiner Erläuterung zu diesem Kōan stellt Dōgen selbst eine Frage
an den damals jungen Meister Gensa:
„Mag es
sein, dass das, was sich vor uns offenbart, nur die Zungenspitze als Sand,
Kieselsteine, Zäune und Mauern (materielle Wahrnehmung) geworden ist und auf
diese Weise zu ‚Zerschlagen in hundert Teile und Stücke‘ wurde. Welche Form
nimmt das ‚Zerschlagen‘ an? Ewige blaue Tiefe; der Mond im Raum.“
Vielleicht hatte Gensa in der Tat zwar die symbolische und abstrakte
Sichtweise des ewigen Spiegels kritisiert, wäre aber selbst nicht über ein
begrenztes Verständnis der äußeren Form und des Materiellen und der sie
beschreibenden Sprache hinausgekommen. Dem folge ich nicht.
Dōgen selbst antwortet im
selben Sinne poetisch, man könnte wohl sagen paradox. Dem möchte ich gerne
folgen:
"Ewige blaue Tiefe; der Mond im Raum !"