Montag, 28. Dezember 2015

Plötzlich kommt ein klarer Spiegel daher



Dōgen zitiert einen berühmten Dialog zwischen den beiden großen Zen-Meistern Seppō und Gensa. Der ältere Seppō fragte:

„Wenn plötzlich ein klarer Spiegel daherkommt, was dann?“

Damit wird das Gleichnis des Spiegels aus einer anderen Perspektive betrachtet: der Spiegel kommt daher und nicht ein Mensch. Vorher hatte Meister Seppō erläutert, dass sein eigenes Gesicht wie ein ewiger Spiegel sei, er also über den intuitiven buddhistischen Weisheits-Geist verfüge und deshalb einen Fremden genau als Fremden und einen Chinesen genau als Chinesen sehe, wenn sie kommen. Damit will er ausdrücken, dass er die Wirklichkeit genau so sieht, wie sie ist.

Der jüngere Meister Gensa war mit dieser Aussage jedoch nicht ganz zufrieden, denn er wollte noch stärker zwischen Vorstellung und Wirklichkeit unterscheiden. Daher antwortete er:

„Zerschlagen in hundert Teile und Stücke!“

Diese Bemerkung klingt zunächst unverständlich oder gar unhöflich. Warum zerbirst der ewige Spiegel in hundert Stücke, wenn vor ihm ein anderer Spiegel erscheint? Also zwei ewige Spiegel begegnen sich wirklich, sie sind dann in Wechsel-Wirkung. M. E. ist das ein Super-Kōan.

Nishijima Roshi deutet diese Aussage so, dass im konkreten Hier und Jetzt auch der ewige Spiegel nur eine Idee ist und so verstanden werden muss. Diese Idee habe in Bezug auf die Wirklichkeit und den Körper-und-Geist selbst keinen eigenständigen Bestand. So tiefgründig und poetisch das Gleichnis des ewigen Spiegels für den intuitiven klaren Geist auch sei, so sehr müsse man sich davon auch wieder lösen, um die volle Wirklichkeit und Wahrheit der Gegenwart zu erfahren und zu erfassen. Die Idee eines Geistes ist etwas anderes als der wirkliche Körper-und-Geist.


Deshalb sagte Meister Gensa, dass der Spiegel als Gleichnis und Idee in hundert Stücke zerspringt, wenn er mit der Wirklichkeit selbst konfrontiert wird. Denn Gleichnisse und Worte können die Wirklichkeit des Buddha-Dharma immer nur teilweise beschreiben und dürfen nicht mit der Wirklichkeit selbst verwechselt werden. Worte dienen der Verständigung zwischen den Menschen und auch der Weitergabe der Lehre des Buddhismus. Sie sind wichtig und unverzichtbar in der menschlichen Kultur, aber sie haben auch ihre Grenzen und bergen Gefahren.

Im Zen-Buddhismus geht es darum, durch die Praxis, vor allem des Zazen, zur Wirklichkeit selbst zu gelangen, die durch Worte zwar in einem gewissen Umfang beschrieben und vorbereitet, aber nicht ersetzt werden kann. So sind Gleichnisse wie zum Beispiel das Symbol des ewigen Spiegels wie ein Fingerzeig auf den Mond, aber nicht die Wirklichkeit des Mondes selbst.

Am Ende seiner Erläuterung zu diesem Kōan stellt Dōgen selbst eine Frage an den damals jungen Meister Gensa:

„Mag es sein, dass das, was sich vor uns offenbart, nur die Zungenspitze als Sand, Kieselsteine, Zäune und Mauern (materielle Wahrnehmung) geworden ist und auf diese Weise zu ‚Zerschlagen in hundert Teile und Stücke‘ wurde. Welche Form nimmt das ‚Zerschlagen‘ an? Ewige blaue Tiefe; der Mond im Raum.“

Vielleicht hatte Gensa in der Tat zwar die symbolische und abstrakte Sichtweise des ewigen Spiegels kritisiert, wäre aber selbst nicht über ein begrenztes Verständnis der äußeren Form und des Materiellen und der sie beschreibenden Sprache hinausgekommen. Dem folge ich nicht.

Dōgen selbst antwortet im selben Sinne poetisch, man könnte wohl sagen paradox. Dem möchte ich gerne folgen:

"Ewige blaue Tiefe; der Mond im Raum !"