Sonntag, 23. Februar 2014

Meister Tokuzan, die Reiskuchenverkäuferin und die Frage nach dem Geist


Dōgen erzählt zum Geist eine alte Geschichte aus dem chinesischen Buddhismus. Darin geht es um die Begegnung zwischen Meister Tokuzan, bevor er zum Meister wurde, und einer alten Frau, die Reiskuchen verkaufte. Tokuzan wurde auch Shu genannt – der König des Diamant-Sūtra – und war in China berühmt wegen seines großen Wissens und seiner Qualitäten als Gelehrter.

Es heißt sogar, dass er unter den damaligen 800 Gelehrten der Beste war und sich insbesondere mit umfangreichen Kommentaren zum Diamant-Sūtra hervorgetan hatte. Diese Kommentare sollen mehrere Kilo schwer gewesen sein, und es gab keinen anderen Lehrer der Sūtras, der es mit ihm aufnehmen konnte. Deshalb war Tokuzan von besonderem Stolz über sein Wissen und seine Berühmtheit erfüllt.

Als er hörte, dass es im Süden Chinas in einem Kloster auf dem Berg Ryutan einen großen Meister und wahren Kenner des Diamant-Sūtra gebe, wurde sein Ehrgeiz angestachelt, und er entschloss sich, die aufwendige Reise dorthin auf sich zu nehmen, um sich mit diesem Meister zu messen, von dem man sagte, dass er ein wahrer Nachfolger im Dharma und authentischer Linienhalter sei.

Auf seinem Weg traf Tokuzan eine alte Frau, als er einmal Rast machte, und fragte sie: „Was für ein Mensch bist du?“

Die Frau antwortete: „Ich bin eine alte Frau, die Reiskuchen verkauft.“

Der Gelehrte Tokuzan fragte weiter: „Willst du mir einige Reiskuchen verkaufen?“

Die Frau stellte jedoch die gar nicht schüchterne Gegenfrage, warum der Meister denn die Reiskuchen kaufen wolle, und dieser erwiderte:

Ich möchte gern Reiskuchen kaufen, um meinen Geist zu stärken.

Die alte Frau fragte daraufhin neugierig, was Tokuzan mit sich herumtragen würde, und dieser antwortete nicht ohne Stolz:
„Hast du nicht gehört, ich bin Shu, der König des Diamant-Sūtra. Ich habe das Diamant-Sūtra gemeistert. Es gibt keinen Teil (des Sūtra), den ich nicht verstanden habe. Was ich mit mir trage, sind die Kommentare zum Diamant-Sūtra.“

Nachdem die Frau den Meister aufmerksam gemustert hatte, sagte sie: „Diese alte Frau hat eine Frage, wird der Meister mir erlauben, sie (an ihn zu richten) oder nicht?“
Tokuzan antwortete gönnerhaft:

Ich erlaube es, du magst fragen, was immer du willst.“

Die Frau war in der Tat nicht schüchtern und wollte den Gelehrten nun sogar auf die Probe stellen, indem sie sagte:
Ich habe gehört, dass es im Diamant-Sūtra heißt, dass der vergangene Geist nicht erfasst werden kann, dass der gegenwärtige Geist nicht erfasst werden kann und dass der zukünftige Geist nicht erfasst werden kann. Welchen Geist beabsichtigst du mit meinem Reiskuchen zu stärken?“ Und sie fügte sogar noch mutiger hinzu: „Wenn der Meister in der Lage ist, etwas zu sagen, will ich ihm die Reiskuchen verkaufen. Wenn der Meister nicht in der Lage ist, etwas zu sagen, will ich ihm nicht die Reiskuchen verkaufen.“


Dem berühmten „König des Diamant-Sūtra“ verschlug es tatsächlich die Sprache, denn er konnte in der Tat diese geschickte Frage der alten und scheinbar ungebildeten Frau nicht beantworten. Diese weigerte sich dann auch prompt, ihm einen Reiskuchen zu verkaufen, und schritt von dannen, indem sie die weiten Ärmel ihres Gewandes bedeutungsvoll hin- und herschwenkte.

Sonntag, 16. Februar 2014

Der wahre, große Geist


Dass der Geist mit dem üblichen Denken nicht erfasst werden kann, ist eine zentrale Aussage aller Buddhas und Vorfahren im Dharma, welche die höchste Lebensphilosophie des Erwachens (Sanskrit: anuttara-samyak-sambodhi) verwirklicht haben. Damit wird laut Dōgen der wahre, große Geist von den gewöhnlichen unklaren Ideen und Gedanken unterschieden, denn er hat eine umfassende Bedeutung, die über die Tätigkeit des nur denkenden Gehirns und des einfachen Bewusstseins hinausgeht.

Ein solches umfassendes Verständnis von Geist wird bei Dōgen genauer untersucht. Zum Geist gehören auch die Berge, Flüsse, Seen und das ganze Universum: das ist das gemeinsame Entstehen und das gemeinsame Sein. Es mag einem westlich geschulten Philosophen recht eigenartig erscheinen, weil er den Dualismus als methodische Grundlage der Philosophie annimmt. Aber für mich kommt darin ein Kernpunkt des Buddhismus, der genau die lebendige gemeinsame Wirklichkeit unseres Lebens trifft, präzise zum Ausdruck.

Eine dualistische Trennung zwischen dem Geist des denkenden Subjekts, das nur Ideen denkt und Wahrnehmungsinformationen aus der Umwelt verarbeitet, und der umfassenden lebensvollen Wirklichkeit ist damit überwunden. Diese Überwindung kennzeichnet den höchsten Zustand des Menschen, den Nishijima Roshi als vierte Lebensphilosophie bezeichnet. Gedanken und Ideen sowie die Wahrnehmung von Sinneseindrücken und deren Verarbeitung, aber vor allem das Handeln mit Menschen und Sachen im Augenblick dürfen nicht vom Geist getrennt werden, sondern bilden mit dem Körper eine umfassende, nicht-dualistische Gesamtheit. Das ist der Zen-Geist des Shōbōgenzō.

Dōgen behandelt in diesem Kapitel fast nüchtern, dass ein solcher Geist nur mit dem üblichen Denken und der unterscheidenden Wahrnehmung nicht erfasst werden kann, dass er also unfassbar ist. Der Geist besitzt eine unendliche Komplexität, und es ist völlig aussichtslos, ihn mit naturwissenschaftlichen Methoden, zum Beispiel der Gehirnforschung, vollständig ausloten zu wollen. Aber der Geist ist keine Fata Morgana, sondern Wirklichkeit, er kann zu großer Klarheit gelangen. Dōgen zitiert aus dem Diamant-Sūtra:

„Der vergangene Geist kann nicht erfasst werden, der gegenwärtige Geist kann nicht erfasst werden, und der zukünftige Geist kann nicht erfasst werden.“

Diese zentralen Aussagen sind aus seiner Sicht die Buddhas und die großen Meister selbst. Wie es heißt, erfuhr Hui Neng (Daikan Enō) die große Klarheit und beschloss Buddhismus zu erlernen, als er diesen Satz auf einem Marktplatz hörte. Die Buddhas hätten diesen wichtigen Satz bewahrt und darauf vertraut, dass die dreifache Welt des Geistes, also die Wirklichkeit, nicht erfasst werden kann. Genauso hätten sie darauf vertraut, dass der Geist der Dharmas, also der vielfältigen konkreten Dinge und Phänomene, nicht zu erfassen sei.


Dieses Bewahren ist nach Dōgen nur im lebendigen Strom der Übertragung in den authentischen buddhistischen Linien möglich. Allein aus theoretischen Schriften, also durch das Lesen von Büchern oder auch das Hören von Dharma-Vorträgen, könne man den Buddhismus nicht verwirklichen, sondern er müsse von einem lebenden Meister von Angesicht zu Angesicht, also von der Ganzheit des überindividuellen Selbst eines Meisters zum anderen, weitergegeben werden.