Montag, 30. Juli 2012

Die fulminante Einheit von Praxis und Erfahrung




Wenn Praxis und direkte Erfahrung im Augenblick eine Einheit bilden, ergibt sich der reine höchste Zustand, den die handelnden Buddhas bewahren und in der Praxis anstreben. Alle großen Meister und ewigen Buddhas haben die Einheit von Lehre, Praxis und Erfahrung verwirklicht und die beiden großen chinesischen Meister Daikan Enō und Nangaku sind sich darüber einig, dass es bei ihnen selbst genau so verwirklicht ist. Sie sind damit handelnde Buddhas und haben die Verschmutzungen überwunden. Indem Daikan Enō die indischen Meister und Vorfahren im Dharma einbezieht, macht er zudem klar, dass die Zazen-Praxis nicht erst in China entstanden ist. Sie gehört zum ursprünglichen Kern jeder buddhistischen Lehre und Praxis, dem Samadhi.
Dōgen unterstreicht im Folgenden, dass diese Reinheit gerade das Typische und Charakteristische der Buddhas ist:
„In diesem unverschmutzten Zustand, der wahrlich jenseits vom ‚Ich‘ und jenseits vom ‚Du‘ ist, gibt es das wahre und reine Handeln der Buddhas, das sie bewahren und erstreben. (Dies ist) das wirkliche Selbst, also das ganz konkrete (offene und klare) Selbst.“
Im Gespräch zwischen den beiden großen buddhistischen Meistern gibt es daher beim wahren und reinen Handeln der Buddhas keine Trennung zwischen Ich und Du. Gleichzeitig werden das kleine abgetrennte „Ich“ und das isolierte „Du“ überschritten. Dōgen erklärt:
„Der Meister ist hervorragend, weil er (sagt), ‚ich bin genau so‘, und der Schüler ist stark, weil (er sagt), ‚Du bist auch so‘. Des Meisters Vortrefflichkeit und des Schülers Stärke sind die Vollkommenheit im Wissen und Handeln des handelnden Buddhas.“
Wissen und Verhalten ist laut Dōgen bei beiden Meistern identisch und lässt keine Unterscheidung von Ich und Du zu. Damit überschreitet die Formulierung von Daikan Enō den üblichen Begriff des „Ich“ und geht deshalb auch über das normale „Du“ hinaus. Auf keinen Fall geht es im Übrigen nur um isoliertes, angehäuftes Wissen, sondern gerade um die Einheit mit dem wahren Handeln.
Dann fasst Dōgen noch einmal das Wichtigste zusammen:
„Wir haben daher gesehen, dass Praxis-und-Erfahrung jenseits von (Begriffen und Vorstellungen) wie Essenz und Form oder Substanz und Detail ist.“
Die Einheit von Praxis und Erfahrung ist das Handeln der Buddhas und die Wirklichkeit, und dies ist jenseits von Begriffen oder Inhalten der buddhistischen Lehre. Gerade die Bezeichnungen Essenz und Form, aber auch Substanz und Detail haben nämlich zunächst keinen Bezug zum Handeln und zum Augenblick, sie suggerieren eine Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit. Das widerspricht aber ganz grundsätzlich dem Handeln im Augenblick und ist bestenfalls ein Hinweis auf die Wirklichkeit – wie der Finger, der auf den Mond zeigt.

Dienstag, 17. Juli 2012

Der Ort des Handelns




Nachdem Dōgen die Sein-Zeit des Handelns sowie die Abgrenzung von Vorstellungen und Begriffen untersucht hat, geht es ihm nun um den Ort:
„Obgleich es Hunderttausende zahllose Orte gibt, wo es keine Buddhas und Menschen gibt, beschmutzen (jene Orte) nicht den handelnden Buddha.“
Anders ausgedrückt: Das reine und wahre Handeln ist unabhängig von anderen Orten, die ohne Buddha sind und wo keine menschlichen Lebewesen wohnen und die daher nicht in der Wirklichkeit des Buddhismus sein können.
Eine „Verschmutzung“ der handelnden Buddhas kann auch nicht eintreten, wenn die Praxis getrennt wird von der Erfahrung, wenn also im Zazen die Übungspraxis einem entfernten und getrennten Ziel dienen soll, zum Beispiel Buddha zu werden.
Dōgen räumt jedoch ein: „Dies bedeutet nicht, dass Praxis und Erfahrung (immer) unbeschmutzt sind.“ Nishijima und Cross erläutern diese Äußerung in einer Fußnote zu ihrer Übersetzung des Shōbōgenzō folgendermaßen: „Mit anderen Worten ist die Motivation im Zustand des handelnden Buddhas immer rein, aber die Motivation im Zazen und in anderen buddhistischen Übungen (der normalen Menschen) ist nicht immer rein. ‚Verschmutzung‘ beschreibt zum Beispiel den Zustand, dass man im Zazen mit der Erwartung von Vorteil und Belohnung sitzt, die sich vom Handeln und von der Erfahrung des Zazen selbst unterscheidet.“ Durch diese Trennung von Handeln und Erfahrung und die Konzentration auf das gierig angestrebte Ziel entsteht also die von Dōgen angesprochene Verschmutzung.
Nishijima betont in diesem Zusammenhang, dass handelnde Buddhas niemals unrein sind und niemals beschmutzt werden können. Wenn wir selbst dieses ursprüngliche Handeln im Augenblick verwirklichen, werden wir frei! Ferner weist er darauf hin, dass Zazen genau dieses Handeln im Augenblick ist, das uns befreit und keine Befleckung aufweist. Dōgen erklärt diese Wahrheit des Zazen in mehreren Kapiteln im Shōbōgenzō und in seiner Schrift Fukan zazengi. Um dieses Thema zu vertiefen, zitiert er hier ein berühmtes, aber häufig missverstandenes Kōan-Gespräch zwischen den Meistern Daikan Enō und Nangaku, das im Shōbōgenzō sowie in der Kōan-Sammlung Shinji Shōbōgenzō ausführlich wiedergegeben ist.
In diesem Gespräch fragt Daikan Enō den Meister Nangaku: „Verlässt du dich auf die Praxis-und-Erfahrung oder nicht?“ Nangaku antwortet: „Es ist nicht so, dass es keine Praxis-und-Erfahrung gibt. Aber der Zustand kann niemals beschmutzt werden.“ Damit bestätigt Nangaku also, dass es die Praxis-und-Erfahrung als Einheit wirklich gibt und hat so den ersten Teil der Frage von Daikan Enō positiv beantwortet. Dann fügt er hinzu, dass dieser Zustand in der Einheit von Praxis-und-Erfahrung immer rein ist, also nicht beschmutzt werden kann. Eine Beschmutzung würde nur dann entstehen, wenn Praxis und Erfahrung voneinander getrennt würden und man irgendetwas aus egoistischen Motiven anstrebt.
Daikan Enō geht darauf ein und erwidert: „Genau diese Unbeschmutztheit ist es, welche die Buddhas bewahren und erstreben. Du bist genau so, ich bin auch so. Und die alten Meister von Indien waren auch genau so.“

Dienstag, 10. Juli 2012

Die Fesseln des Geistes sind wie Schlingpflanzen




Die Fesseln der falschen Ideen und Vorstellungen des Geistes wurden im alten China mit den Schlingpflanzen verglichen, die sich um einen Baum ranken und ihn einschnüren. Erst wenn man die Axt an den Baum legt und ihn zu Fall bringt, sterben auch die Schlingpflanzen ab; in vergleichbarer Weise können wir Menschen uns von unseren Fesseln – den endlosen Gedankenketten – befreien. Aber wir sollten „den Baum fällen“, der die Schlingpflanzen stützt und sie erst ermöglicht. Der Baum entspricht der falsche unklare Lebensweise und Lebensideologie. Er ist die Stütze der Schlingen, die uns einengen oder sogar erwürgen!

Wenn die ignorante Sichtweise und die darauf gründende Lebensphilosophie wie ein Baum gefällt werden, vertrocknen die Fesseln, die uns von der Freiheit ferngehalten haben. Ohne das reine Handeln bleiben wir jedoch in falschen Vorstellungen und im ideologischen Denken gefangen. Und obgleich wir uns mit aller Kraft gedanklich bemühen, können wir diesen dunklen „Höhlen“ nicht entkommen, die außerhalb der buddhistischen Lehre liegen.

Nach Dōgen kann eine solche unklare Ideologie „weder die Krankheit des Dharma-Körpers noch die Entbehrung des Freuden-Körpers erkennen.“ Aufgrund solcher „Denknester“ und „Denkhöhlen“ leiden und verkümmern wir spirituell und entbehren sogar die wirklichen körperlichen Freuden. Wenn der Materialismus also körperliche Genüsse verspricht, das auf Vorteilsdenken beruht, kann die Erwartung des „wunderbaren Genusses“ niemals eingelöst werden. Die angekündigten sinnlichen Freuden geben uns dann nicht einmal eine schale körperliche Befriedigung.
Wir müssen deshalb zum reinen klaren Handeln zurückkommen und uns von den gedanklichen Schlingpflanzen befreien.

Sogar unter den Theoretikern, also den Lehrern der Sūtras und Kommentare, und anderen Menschen, die den Buddha-Dharma nur von Weitem kennen, ist bekannt, dass eindimensionale Ignoranz unzureichend ist, um die wahre Dharma-Natur zu erkennen.

Allerdings sind sich diese Theoretiker nicht bewusst, dass schon ihr theoretischer Begriff „Dharma-Natur“ eine Fessel darstellt, welche die Sicht der vielfältigen Dharma-Natur gewaltig einengt. Genau durch diese Fixierung auf die Vorstellung und den Begriff erzeugen sie genau ihre eingeengte Sichtweise, ohne sich jedoch darüber im Klaren zu sein. Wenn sich ein solcher Theoretiker bewusst wäre, dass er gerade durch seiner eingeengten Sichtweise in Wirklichkeit ganz unwissend ist, könnte diese Erkenntnis vielleicht zu einem fruchtbaren Samen „für das Erwecken des Bodhi-Geistes (des Erwachens)“ werden. Er müsste sich also seiner eigenen Unwissenheit bewusst werden, sonst hat er keine Chance.

Ein handelnder Buddha wurde niemals durch theoretische Vorstellungen und die eigene Unwissenheit gefesselt und eingeengt. Er handelt fortwährend und ist nicht auf einen einzigen Zustand im Bewusstsein fixiert:
 „Die Lebenszeit, die ich durch meine ursprüngliche Praxis des Bodhisattva-Weges verwirklicht habe, ist auch jetzt nicht ausgeschöpft, sondern wird noch zweimal so lang sein wie die vorherige Anzahl (von Zeitaltern).“

Dieses Zitat aus dem Lotos-Sūtra sagt nicht mehr oder weniger, als dass Buddha immer weiter handeln wird, obgleich er nach der Vollendung des Bodhisattva-Weges das große Erwachen eines Buddhas erfahren hat. Dabei darf die Lebenszeit eines Bodhisattva nicht als Zeitstrecke verstanden werden, denn es geht nicht um die lineare Zeit, die von der Vergangenheit in die Zukunft reicht, sondern entscheidend ist jeder existenzielle Augenblick des Handelns genau in der jeweiligen Gegenwart. 

Montag, 2. Juli 2012

Intuitive Klarheit im Handeln



Das Wesentliche der Buddha-Lehre ist unauflösbar mit dem Handeln verbunden. Die Wirklichkeit gibt es nicht allein im Geist, wie sogar einige buddhistische Schulen behaupten, sondern im Handeln von Körper-und-Geist. Wir dürfen aber nicht nur die materiellen und körperlichen Dimensionen beim Handeln als wesentlich erachten. Zusammengefasst kann man sagen, dass es keine Zeit, keine Himmelsrichtungen, keinen Buddha und keine Aktionen ohne dieses reine, ausgezeichnete Handeln gibt, das natürlich ist, aber keinesfalls banal, und eine schwer zu erklärende Ausstrahlung besitzt. Wer so handelt, hat tiefe innere Freude und Ruhe!

Durch das Handeln befreien wir uns von einengenden Begriffen und Vorstellungen, auch wenn sie so heilig erscheinen wie „Buddha“ oder „Dharma“. Wer an ihnen haftet und an sie gekettet ist, wird von Dōgen sogar als Dämon bezeichnet! Besonders der Begriff Bodhi-Wahrheit für das Erwachen zum höchsten Zustand kann uns fesseln, wenn wir nicht rein und wahrhaftig handeln. Die sinnliche Wahrnehmung des Sehens und das Denken können uns in ganz besonderer Weise in Fesseln legen. Dōgen formuliert es so:
„Wir gehen durch die Zeit einer Vorstellung (Scheinwelt) hindurch, (sind) genau im Augenblick und erhoffen nicht, dass es die Zeit der Befreiung (und Erleuchtung) ist. Wir würden (sonst das Bodhi-Erwachen gründlich) missverstehen.“

Dieser Satz bedarf der Erläuterung. Ich interpretiere ihn so, dass wir durch das Handeln die Zeit des Denkens, der Vorstellungen und des Bewusstseins über die Wahrheit ohne Schwierigkeiten durchlaufen und hinter uns lassen. Würden wir darin stecken bleiben, dann würden wir das Erwachen verfehlen. Nur im Augenblick selbst und nicht in einer Zeitstrecke der Ideen und Vorstellungen gibt es Klarheit und Erwachen. Das hängt auch damit zusammen, dass wir uns nicht vollständig darüber bewusst sind, dass der Augenblick genau die Wirklichkeit und Befreiung ist. Diese übersteigt das Denken und die Wahrnehmung, die zu langsam sind und die volle Wirklichkeit niemals erfassen können. 

Es kommt laut Dōgen darauf an, dass wir das Erwachen in intuitiver Klarheit als unmittelbare Wirklichkeit erfahren, nicht mehr und nicht weniger. Begriffe und Vorstellungen – nicht zuletzt diejenigen über die Erleuchtung – können dabei sogar erheblich schaden. Das direkte klare Handeln kann jedoch keine falsche Sichtweise und falsche Lebensphilosophie sein. Dōgen schildert dann seinen eigenen Lernprozess:
„Ich erinnere mich (an meine eigenen früheren Vorstellungen und Sichtweisen) genau: Ich habe mich selbst ohne einen Strick gefesselt! Dies sind Fesselungen, die immer wirksam waren und sich endlos fortsetzten.“

Das heißt, dass in unserem Leben ohne das Handeln im Augenblick ständig falsche Ideen, Ideologien und Sichtweisen als schmerzhafte Fesselungen wirksam sind, aus denen wir uns nicht ohne Weiteres befreien können. Es gibt dann keine intuitive Klarheit und es gelingt uns überhaupt nicht, diese Vorstellungen und diesen unklaren Geist durch Denken selbst zu verändern - noch nicht einmal zu erkennen, dass reines Handeln im Augenblick Erwachen und Befreiung ist.


Das sind in der Tat radikale Aussagen, die in ihrer Eindeutigkeit nichts zu wünschen übriglassen. Dōgen stellt das reine, ungekünstelte Handeln des Menschen als Königsweg zur Wirklichkeit und Befreiung vor. In erster Linie meint er damit sicher die Zazen-Praxis, sie ist intuitive Klarheit und  "Tiefen-Sanierung" des Selbst.