Donnerstag, 22. Juni 2017

Die Frage der Buddha-Natur auf den Punkt bringen


Dôgen formuliert überraschend:

„Menschen werden Buddha, aber die Buddha-Natur kann nicht Buddha werden.“

Das klingt eigenartig. Was ist gemeint? Er fragt sogar weiter, ob der junge Daikan Enô sich dieser Tatsache bewusst war. Ich verstehe das so: Jeder Mensch kann erwachen und damit zur klaren Wirklichkeit gelangen. Genau diese Wirklichkeit und Wahrheit sind die Buddha-Natur. Es ist jedoch irrig zu glauben, dass die Buddha-Natur wie ein abgegrenzter Samen im Menschen vorhanden ist und sich dann verwirklicht. In diesem gedachten oder erträumten Fall wäre die Buddha-Natur vorher als eigene vom Menschen getrennte Entität da und würde dann irgendwie Buddha werden. Nach Nishijima Roshi wäre eine solche Vorstellung dem Idealismus zuzurechnen und damit irreal. Dieser gibt den nicht materiellen Ideen und Gedanken die höchste Bedeutung und behauptet sogar, dass sich Ideen materiell realisieren und so der Ursprung aller Form und Materie sind. Dôgen lehnt eine solche Irrlehre in diesem Kapitel kategorisch ab.

Er bezeichnet die Kraft, die Wirklichkeit und Wahrheit unverstellt und unverzerrt zu erkennen und zu erleben, als „die höchste Kraft der Sammlung“ auf die Wirklichkeit, genau so wie sie ist. Solche Formulierungen verwendet er häufiger im Shôbôgenzô, zum Beispiel: „Die Wirklichkeit ist durch die Wirklichkeit fokussiert“ und dadurch kraftvoll und nicht zerstreut. Das heißt, sie ist nichts als die Wirklichkeit selbst, ohne Zusätze, Verengung [i] und ohne überflüssige "Gehirnwellen" (ein Begriff aus dem Yoga).

Dôgen erklärt aber, dass er die Frage „Welches Konkrete ist die Buddha-Natur?“ für außerordentlich wichtig hält. Er überlegt, ob der junge Daikan Enô mit seinem damaligen Geist bei seiner Ankunft im Kloster diese Frage bereits gestellt hätte, und er bedauert, dass es nur wenige Menschen in seiner Zeit gab, die eine solch präzise Frage nach der Buddha-Natur stellen und untersuchen konnten. Spitzfindige Diskussionen der Theoretiker über die Existenz oder Nicht-Existenz einer "Entität der Buddha-Natur" hält er dagegen für überflüssig und bedeutungslos.

Bei dieser Frage geht es ihm weniger um ein Ergebnis oder eine scheinpräzise Definition, also eine behauptete abschließende Beantwortung, sondern darum, dass wir durch einen lebendigen Prozess der Analyse tiefer in die Bedeutung dessen, was mit Buddha-Natur bezeichnet wird, eindringen können. Denn Vorstellung und Bezeichnung sind nicht die Wirklichkeit, sondern deuten auf sie. Nicht mehr und nicht weniger.

Er empfiehlt uns, dass wir diese Frage
zweimal oder dreimal und für lange Zeitalter durchsieben“.

Dies ist ein sehr konkretes Gleichnis, das den Schwerpunkt auf das Handeln und Tun legt und nicht auf das erträumte Ergebnis. Es besagt, dass die eigentliche Kraft „genau im Sieb" und dem siebenden Menschen gegenwärtig ist. In seiner typischen Weise rät Dôgen uns, diese Frage aufzugreifen, zu behandeln und wieder loszulassen. Aber mit unsinnigen Fragen wie zum Beispiel, ob die Buddha-Natur ohne Materie, feinstofflich oder rein geistig sei, sollten wir uns nicht beschäftigen, sondern stattdessen sorgfältig praktizieren und sinnvoll handeln: Just do it, make yourself.






[i] vgl. Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 12, Fußnote 57

Montag, 5. Juni 2017

Wie werden wir im Augenblick Buddha?

Dôgen sagt:

Wir werden sofort genau in dem Augenblick Buddha, (wenn wir) ohne sind, (das ist) die Buddha-Natur. Wer diese Aussage niemals gehört und beherzigt hat, ist nicht Buddha geworden.“

Das klingt eigenartig, ist es aber nicht. Im Zen weisen scheinbare Paradoxien oft auf ganz zentrale Wahrheiten der alten Meister hin. Dôgen verstärkt:

"Wer die Wahrheit nicht kennt, dass „alle Lebewesen, die ohne sind, die Buddha-Natur sind“,

kann demnach laut Dôgen unmöglich den wahren Buddhismus erfahren und erlernt haben. Meister Konin hatte sofort intuitiv erkannt, dass Daikan Enô bei seiner Ankunft den festen Willen und die Fähigkeit hatte, den Buddhismus in Theorie und Praxis authentisch zu erlernen.

Damit zeichnete er den Weg und die Art und Weise des Lernprozesses für Daikan Enô präzise vor. Dieser sollte also die Wirklichkeit und nichts als die Wirklichkeit erlernen; dazu dienten sowohl die Zazen-Praxis als auch andere konkrete praktische Arbeiten im Kloster.

Als Nächstes zitiert Dôgen noch einmal Daikan Enô:

„Die Menschen haben Süden und Norden, aber die Buddha-Natur ist ohne Süden und Norden.“

Dôgen fordert uns auf, diese Aussage sehr genau zu untersuchen und dabei mit unverstelltem Geist vorzugehen – man könnte auch sagen mit Anfängergeist im Sinne von Shunryu Suzuki: ohne Vorbedingungen, ohne zu verurteilen und frei von ideologischen Verhärtungen.

Ich interpretiere Daikan Enôs Worte folgendermaßen: Die Bezeichnungen Norden und Süden sind auf eine materielle Ebene beschränkt, die nicht in der Lage ist, die höchste Ebene des Erwachens, der Wirklichkeit und damit der Buddha-Natur zu beschreiben. Außerdem schwingt darin die damals übliche Diskriminierung des Südens durch den Norden mit.


Derartige Bewertungen und Diskriminierungen haben im Zusammenhang mit der Buddha-Natur aber nicht die geringste Bedeutung. Im Gegenteil: Sie sind schädliche "likes" und dislikes". Die Buddha-Natur ist die wahre Natur des Menschen und der Welt; räumliche Zuordnungen sind daher nicht relevant. Zu dieser Natur kann sich nach Buddha jeder entwickeln und emanzipieren.