Dôgen formuliert
überraschend:
„Menschen werden Buddha, aber die
Buddha-Natur kann nicht Buddha werden.“
Das klingt eigenartig. Was
ist gemeint? Er fragt sogar weiter, ob der junge Daikan Enô sich dieser
Tatsache bewusst war. Ich verstehe das so: Jeder Mensch kann erwachen und damit
zur klaren Wirklichkeit gelangen. Genau diese Wirklichkeit und Wahrheit sind die
Buddha-Natur. Es ist jedoch irrig zu glauben, dass die Buddha-Natur wie ein abgegrenzter Samen im Menschen vorhanden
ist und sich dann verwirklicht. In diesem gedachten oder erträumten Fall wäre
die Buddha-Natur vorher als eigene vom
Menschen getrennte Entität da und
würde dann irgendwie Buddha werden. Nach Nishijima
Roshi wäre eine solche Vorstellung dem
Idealismus zuzurechnen und damit irreal. Dieser gibt den nicht materiellen Ideen und Gedanken die höchste Bedeutung
und behauptet sogar, dass sich Ideen materiell
realisieren und so der Ursprung aller Form und Materie sind. Dôgen lehnt
eine solche Irrlehre in diesem Kapitel kategorisch ab.
Er bezeichnet die Kraft, die
Wirklichkeit und Wahrheit unverstellt
und unverzerrt zu erkennen und zu erleben, als „die höchste Kraft der Sammlung“ auf die Wirklichkeit, genau so wie
sie ist. Solche Formulierungen verwendet er häufiger im Shôbôgenzô, zum Beispiel: „Die
Wirklichkeit ist durch die Wirklichkeit fokussiert“ und dadurch kraftvoll
und nicht zerstreut. Das heißt, sie ist nichts
als die Wirklichkeit selbst, ohne Zusätze, Verengung [i] und
ohne überflüssige "Gehirnwellen"
(ein Begriff aus dem Yoga).
Dôgen erklärt aber, dass er
die Frage „Welches Konkrete ist die
Buddha-Natur?“ für außerordentlich wichtig hält. Er überlegt, ob der junge
Daikan Enô mit seinem damaligen Geist bei seiner Ankunft im Kloster diese Frage
bereits gestellt hätte, und er bedauert, dass es nur wenige Menschen in seiner
Zeit gab, die eine solch präzise Frage nach der Buddha-Natur stellen und
untersuchen konnten. Spitzfindige Diskussionen der Theoretiker über die
Existenz oder Nicht-Existenz einer "Entität der Buddha-Natur" hält er
dagegen für überflüssig und bedeutungslos.
Bei dieser Frage geht es ihm
weniger um ein Ergebnis oder eine scheinpräzise Definition, also eine behauptete
abschließende Beantwortung, sondern darum, dass wir durch einen lebendigen Prozess der Analyse tiefer in die Bedeutung dessen, was mit
Buddha-Natur bezeichnet wird,
eindringen können. Denn Vorstellung und Bezeichnung sind nicht die
Wirklichkeit, sondern deuten auf sie. Nicht mehr und nicht weniger.
Er empfiehlt uns, dass wir
diese Frage
„zweimal oder dreimal und für lange Zeitalter
durchsieben“.
Dies ist ein sehr konkretes
Gleichnis, das den Schwerpunkt auf das Handeln
und Tun legt und nicht auf das erträumte Ergebnis. Es besagt, dass die
eigentliche Kraft „genau im Sieb" und dem siebenden Menschen gegenwärtig
ist. In seiner typischen Weise rät Dôgen uns, diese Frage aufzugreifen, zu
behandeln und wieder loszulassen. Aber mit unsinnigen Fragen wie zum Beispiel,
ob die Buddha-Natur ohne Materie, feinstofflich oder rein geistig sei, sollten
wir uns nicht beschäftigen, sondern stattdessen sorgfältig praktizieren und
sinnvoll handeln: Just do it, make
yourself.