Samstag, 29. September 2007

Die Entwicklung jenseits von Erleuchtung und Buddha



Meister Dôgen beschreibt in diesem Kapitel "Die Weiterentwicklung jenseits von Buddha" (Kap. 28, Butsu kojo nu ji), dass ein erwachter Mensch, der also die Erleuchtung erlangt hat, sich dauernd weiterentwickelt und nicht stehen bleibt. Er versucht nicht, den Zustand eines Erleuchteten statisch aufrechtzuerhalten, sondern praktiziert und handelt weiter, sodass er sich damit laufend fort entwickelt. Dôgen verwendet dabei den Begriff des Buddhas auch für die großen alten Meister in China, er ist also nicht auf Gautama Buddha oder die legendären alten indischen Buddhas beschränkt. Er spricht häufig von einem ewigen Buddha, wenn er die großen Meister wie Nâgârjuna, Bodhidharma, Daikan Enô, Seppo, Gensa oder Tendô Nyojô meint. Dôgen verehrte diese großen Meister sehr, er sah allerdings bei ihnen durchaus Unterschiede und hinterfragte oder kritisierte z. T. sogar ihr Verständnis des Buddha-Dharma. Der Zustand eines Buddha ist in dauerndem Wandel begriffen und ist alles andere als statisch und fixiert.

Die großen Meister entwickeln sich so immer weiter, und dabei ist es nach Dôgen unbedingt notwendig, laufend die buddhistische Übungspraxis also vor allem Zazen fortzusetzen und das eigene Handeln in immer bessere Übereinstimmung mit der Moral des Buddhismus zu bringen. Wenn man heute hört, dass ein selbst ernannter Meister verkündet, dass er keine buddhistische Übungspraxis mehr machen müsse, so ist dies ein sicheres Zeichen, dass er kein wahrer Meister ist, sondern dies nur vorgibt. Die erste Erleuchtung ereignet sich nach Nishijima Roshi bei der Zazen-Praxis selbst und er wird nicht müde zu lehren, dass man an jedem Tag zweimal Zazen praktizieren soll. Die asiatische hierarchische Rolle eines Meisters verführt eventuell zur Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit und dies wird von einer oft sogar zur Schau gestellten Unterwürfigkeit der Schüler noch verstärkt. Dabei werden gerne schwer verständliche Begriffe wie Leerheit, Erleuchtung, Überwindung des Dualismus usw. verwendet, um sich selbst den Glanz eines Meisters zu geben. Ein wahrer Buddha nach Dôgen handelt dagegen einfach, unkompliziert, offen und mitfühlend gegenüber jedem Menschen, ohne sich sonderlich von ihm abzugrenzen und auf ein „Podest zu stellen“. So setzt ein wahrer Meister sein einfaches Leben im Alltag fort, als ob nichts Besonderes geschehen sei.

Es werden viele Geschichten im Zen-Buddhismus berichtet, wo der Meister und Abt eines Klosters für einen unerfahrenen Dritten überhaupt nicht erkennbar war, weil er ganz normal mitarbeitete. Die Erleuchtung ist nach Nishijima Roshi ein Leben des Mittleren Weges im Gleichgewicht und zwar vor allem in der Balance des vegetativen Nervensystems. Es ist also keinesfalls nur ein Gleichgewicht des isoliert gedachten Geistes, sondern des ganzen Menschen. Nachdem diese großen Meister und Buddhas die Wahrheit erlangt haben, leben sie also einfach und fast unauffällig weiter. Sie handeln je im gegenwärtigen Augenblick und im Hier und Jetzt und dies bezeichnet Dôgen als Menschen der „Weiterentwicklung jenseits von Buddha“.

Dogen berichtet die folgende Geschichte: Ein großer alter Meister sagte in einer Dharmarede:

"Wenn ihr die Weiterentwicklung jenseits von Buddha ganz und gar mit dem Körper erfahren habt, seid ihr wirklich in der Lage ein wenig zu sprechen".
Ein Mönch aus der Zuhörerschaft hatte offensichtlich großartige und romantische Vorstellungen vom Zustand der Erleuchtung und fragte daher:

"Wie ist dieses Sprechen?"
Um den Mönch zurückzuholen in die Wirklichkeit, sagte der Meister:

"Wenn du Mönch zum Beispiel redest, kannst du nicht zuhören".

Der Mönch war natürlich verblüfft über diese Antwort und fragte weiter:

"Hört der Meister selbst, während er spricht oder nicht?"

Der Meister sagte darauf trocken:

"Wenn ich nicht rede, dann höre ich zu".

Sicher hatte der Mönch wunderbare fantasievolle Vorstellungen vom Zustand des Erwachens und der Erleuchtung, den er ja selbst erreichen wollte und dachte, dass dann das Leben einen völlig neuen Glanz erhält und dass ganz großartige neue übernatürliche Fähigkeiten bei ihm entstehen würden, die er vorher überhaupt noch nicht ahnte und kannte. Vermutlich meinte er auch, dass man als ein großer erleuchteter Meister und Buddha gleichzeitig reden und hören kann, vielleicht sogar, dass man beim Reden ohne die Worte des anderen zu hören in übernatürlicher Weise versteht, was sie reden wollen. Der Meister sagte ihm daher nüchtern, dass man immer das, was man gerade tut, mit ganzem Herzen, also mit Körper und Geist tun soll. Wenn man redet, soll man wahrhaftig und treffend reden, um das Wichtige an die anderen klar zu übermitteln. Wenn man dagegen zuhört, sollte man dies auch mit ganzer Aufmerksamkeit und mit dem ganzen Körper und Geist tun.

Das einfache Handeln des Sprechens und Hörens setzt sich also nach dem großen Erwachen und dem Erlangen der Wahrheit des Buddhismus jeweils einfach fort. Es wird eher noch einfacher und unmittelbarer als vorher und dabei ist dem Meister bewusst, dass auch die Sprache ihre Grenzen hat und nicht alles ausdrücken kann. Dôgen sagt hierzu:

„Denkt daran: wenn ihr sprecht, (gibt es nur das Handeln des Sprechens als solches), deshalb wird es weder vom Hören noch vom Nicht-Hören verunreinigt, denn (wahres) Sprechen ist jenseits von Hören oder Nicht-Hören“

Beim wahren Sprechen entsteht dann eine neue Verbindung aller Beteiligten, so dass man zwischen Subjekt und Objekt nicht mehr trennen kann. Es geht auch nicht darum, dass jeweils einer sich durch seinen Beitrag hervortut, und man kann auch nicht von Geben und Nehmen der Informationen sprechen, etwa so als ob ein Sprechender einen "Informations-Gegenstand" an den Zuhörer übergibt. Wir würden heute sagen, dass dies die wesentlichen Merkmale einer wirklichen Kommunikation sind, die lebendig je im Augenblick alle Anwesenden erfasst und damit dynamisches Neuland erschließt. Dabei wird ein neues lebendes soziales System erzeugt, das über die Individuen hinausgeht und nicht auf sie reduziert werden kann. Genau dies ist die Entwicklung jenseits von Erleuchtung und Buddha. Ein auf sich selbst bezogener Gedanke "ich bin jetzt jenseits von Buddha" wäre dabei natürlich sehr hinderlich und würde die lebendige Kraft des Gesprächs zerstören. Ein solcher Gedanke würde sich wie eine Milchglas-Scheibe zwischen die Menschen schieben und ein wahres Gespräch verhindern. Im Zustand jenseits von Buddha verwirklicht sich das wahre Sprechen, das die individuelle Person übersteigt, so dass man sagen kann, dieses wahre Sprechen ist der Zustand jenseits von Buddha.

Der Buddhismus baut auf dem Handeln auf und dieses Handeln selbst wird als Wirklichkeit verstanden und erlebt, so dass Begriffe wie der Zustand jenseits von Buddha oder auch die Vorstellung eines Menschen nur Abstraktionen sind, die aus dem Handeln im Hier und Jetzt gerade herausführen können. Einem „Element“ des Handelns im Hier und Jetzt wird also die Qualität der Wirklichkeit zuerkannt, während Zustände, Gegenstände und Personen abstrakte Vorstellungen sind, die zwar im Einklang mit dem Handeln sein können, aber nicht das selbe sein müssen. So ist das Handeln des Sprechens je im Augenblick niemals das Hören. Wir können dies so ausdrücken, dass der wahre Zustand jenseits von Buddha nach der obigen Geschichte das Reden des Meisters selbst ist und dies kann nicht gleichzeitig mit seinem Zuhören bestehen. Weiterhin wird dann das Handeln des Sprechens nicht vom Hören gestört oder wie Dôgen dies ausdrückt, ist das Sprechen "weder vom Hören noch vom Nicht-Hören verunreinigt". Damit spricht er auch die Moral der Menschen im Vortrag oder Dialog an.

Die Formulierung „Hören und Nicht-Hören“ bei Dôgen deutet an, dass eine derartige Unterscheidung im Bereich des Verstandes und der Begriffe anzusiedeln wäre und damit ebenfalls eine viel zu hohe Abstraktions-Ebene wirksam ist. Das Sprechen ist in Wirklichkeit in sich verwoben und vernetzt, weil die einzelnen Worte ihren Sinn erst im Zusammenhang ergeben, denn ein Wort, das von anderen Worten isoliert ist, macht natürlich beim Sprechen keinen Sinn. Dann handelt es sich nur um sinnlose Geräusche. Die Worte beziehen sich so lebendig aufeinander und ergeben das, was Dôgen den Zustand jenseits von Buddha nennt. Sie sind dann eine wahre Dharma-Rede eines großen Meisters. Es ist auch unsinnig anzunehmen, dass ein solcher Meister von seiner eigenen Rede beeindruckt ist und dass er seiner eigenen Rede ergriffen lauscht. Die Rede steht für sich selbst, nicht mehr und nicht weniger.

Der Meister wartet während seiner Rede auch nicht darauf, dass er bald selbst zuhören kann, denn dies würde seine Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt ausdünnen: er tut dasjenige ganz und wirklich , was er gerade tut. Er bewertet auch nicht, ob es besser oder schlechter sei, zu reden oder zu hören, sondern er handelt unmittelbar. Es hat auch keinen Sinn zweifelnd darüber nachzudenken, ob das Reden beendet werden soll, um danach lieber zuzuhören. Reden und Zuhören haben jeweils ihren eigenen Stellenwert und ereignen sich je im Augenblick. Es wäre auch abstrakt zu denken, dass sich das Zuhören sozusagen in der Rede verbirgt, so als ob es bereits vorhanden wäre, aber noch nicht von außen erkannt werden kann oder will. Es leuchtet unmittelbar ein, dass dies nur eine Gedanken-Konstruktion wäre und beim wahren Reden nicht weiter führt sondern hindert. Wenn man spricht, erfährt man dies mit dem ganzen Körper, und wenn man dann aufgehört hat zu reden und zuhört, erfährt man dies ebenfalls mit dem ganzen Körper. Das Handeln des Redens und Sprechens ist die Grundlage der buddhistischen Wirklichkeit und ist der Zustand jenseits von Erleuchtung und Buddha und geht in einem erweiterten intuitiven Bewusstsein vor sich.
Dôgen zitiert dann den großen Meister Tôsan, welcher der zweite Nachfolger von Meister Daikan Enô in seiner Linie ist, der schlicht lehrte:

"Ihr sollt wissen, dass es Menschen im Zustand der Weiterentwicklung von Buddha gibt."

Er meinte damit keinen abstrakten und verehrungswürdigen Lehrinhalt eines Buddha oder großen Meisters, sondern die Entwicklung als Handeln selbst, und zwar Handeln in der Zazen-Praxis, im Alltag, im Denken, im Reden, im Zuhören usw. Daher antworteten auch verschiedene folgende Meister auf die Fragen der Mönche, was ein Mensch jenseits von Buddha eigentlich sei, scheinbar widersprüchlich:

"Er ist kein Buddha".
Man kann ihn nicht benennen oder mit Worten beschreiben: Deshalb sagen wir, dass er nicht (Buddha) ist."
„Er ist nicht (wie ein) Buddha“ oder
"Wenn wir mit geschickten Hilfsmitteln lehren, nennen wir ihn Buddha."

Diese Aussagen machen deutlich, dass es um das Handeln in der Wirklichkeit selbst geht, das natürlich und wie selbstverständlich fortgesetzt wird, auch wenn man den Zustand eines Buddha oder eines großen Meisters und damit die Wahrheit erlangt hat. Dôgen bedauert in diesem Zusammenhang, dass es in den verschiedenen Linien des Buddhismus auch große Meister gegeben hat, die diesen Zusammenhang nicht klar erkannt hätten. Man müsse den Zustand jenseits von Buddha auch mit dem Körper, mit dem ganzen Menschen, also handelnd erleben, um wie es heißt, "ein wenig zu sprechen." Ein Meister sollte sich also der Begrenztheit der sprachlichen Möglichkeiten zwar bewusst sein, wenn er den Dharma lehrt, aber wenn er im Zustand jenseits von Buddha redet, ist es möglich, wirklich zu sprechen.

Die Praxis und Erfahrung dieser Menschen ist immer ganz real und auf das Hier und Jetzt bezogen. Das kraftvolle Handeln, das dann möglich wird, gewinnt dabei auch etwas Spielerisches oder Leichtes und löst sich daher aus Verkrampfung und Starrheit. Es ist nicht eigensinnig und ich-bezogen, sondern fügt sich in die gesamte Umgebung und Umstände harmonisch ein. Man sollte unbedingt wissen, dass es solche Menschen wirklich gibt und sich gleichzeitig davor hüten, sie verkrampft und verbissen zu suchen, um sie zu finden. Dann sind Bezeichnungen wie „Buddha“ oder „Erleuchtung“ überflüssig, so dass man genau so gut "kein Buddha" sagen kann; denn er ist ein natürlicher Mensch mit zwei Beinen, der wie alle auf der realen Erde geht und sich vollständig von einengenden Ideen und Bildern, wie ein Buddha sein soll, befreit hat.
Eine andere berühmte und oft falsch verstandene Zen-Geschichte berichtet von einem großen Meister, der einen Menschen, der sich jenseits von Buddha entwickelt, wie folgt beschrieb und seine Mönche entsprechend befragte:

"Es ist ein großer Mensch (der jenseits des Guten und Bösen ist und) der keinen Samen der Buddhanatur besitzt. Wenn er einen Buddha trifft, tötet er ihn. Wenn er einen Vorfahren im Dharma trifft, tötet er ihn. Kein Himmel könnte ihn aufnehmen und sogar die Hölle hätte kein Tor, um ihn einzulassen. Kennt ihr einen solchen Menschen oder nicht?“

Dann entstand eine kleine Pause und der Meister fügte dann hinzu:

"Der Mensch, der vor euch steht, ist nicht besonders klug, er schläft viel und redet eine Menge im Schlaf."

Was bedeutet ein solcher fast brutaler Zen-Spruch nun wirklich? Ist damit gemeint, dass man den wahren lebenden Buddha töten muss, um frei zu werden und um sich weiter zu entwickeln? Das kann es wohl nicht sein.
Dogen erläutert dazu, dass sich ein solcher Mensch aus der Abhängigkeit von seinen sechs Sinnen befreit hat. Seine Augen zeigen an, dass er nicht von Leidenschaften und ungesteuerten Emotionen bewegt und getrieben wird. Er hat die fantastischen Bilder eines goldenen Buddhas hinter sich gelassen, denn diese sind letztlich nur Bilder und nicht die Wirklichkeit des buddhistischen Lebens. Genauso hat er die negativen Sichten eines „Schlammbuddha“ verlassen, und sein Buddha ist einfach aus Holz geschnitzt, wie dies häufig in China anzutreffen war.

Seinen Geist hat er in der buddhistischen Praxis viele Jahre lang geschult und geklärt, so dass er einem „alten zerbrochenen Holzlöffel“ gleicht, der viele Jahre lang benutzt wurde. So hat er die Vorstellungen und Bilder von Buddha getötet, aber ist ihnen nicht zuletzt dadurch als der großen Wahrheit unmittelbar begegnet. Genauso sind ihm Vorstellungen von Himmel und Hölle fremd, und wenn es sie gäbe, würde er selbst dort gar keine Aufnahme finden, weil er nicht „hinein passt“. Er ist auch nicht überragend intelligent und kann kein großartiges Wissen aufweisen. So steht er einfach da und lächelt und lebt sein natürliches Leben mit den anderen.
Aber er hat ein umfassendes tiefes Verständnis der Berge und der ganzen Erde, und sie sind ihm vertraut und ans Herz gewachsen. Dôgen formuliert dies folgendermaßen:

"Sein ganzer Juwel- und Steinkörper ist in hundert Stücke zersprungen."

Diese zunächst eigenartige Formulierung, die ähnlich wie in dem Kapitel zum ewigen Spiegel formuliert ist, bedeutet, dass alle fantastischen juwelenartigen aber nicht wirklichen Bilder und Vorstellungen zersprungen sind, genau so wie die der gewöhnlichen Bilder aus Steinen, die keine Edelsteine sind. Damit werden von Dôgen die traumhaften ideellen und auch die einfachen materiellen Bereiche des Lebens überschritten.
Dôgen beschäftigt sich dann mit der Bedeutung der Namen eines Menschen und stellt fest, dass die üblichen Familiennamen, an die wir uns gewöhnt haben, bei der Entwicklung jenseits von Buddha keine Bedeutung mehr haben. Man mag an diesen Namen hängen oder nicht und man hat sich an sie gewöhnt oder nicht, aber zur Frage des Standes jenseits von Buddha ist alles dies ohne Bedeutung. Ob man also seinen bürgerlichen Namen weiterhin verwendet oder nicht, hält Dôgen für unwichtig. Wir wissen ja, dass viele Buddhisten an ihrem Dharma-Namen so sehr hängen. Dôgen würde sie dabei nicht unterstützen.

Eigentlich kann man das Handeln jenseits des Zustandes von Buddha von einem einzelnen individuellen Menschen ganz ablösen und spricht dann besser von einem Weg der Weiterentwicklung. Diesen Weg findet man vor allem bei der buddhistischen Übungspraxis und letztlich kann er nicht von einem Heiligen auf einen anderen übertragen werden. Dieser „Weg“ überschreitet die Möglichkeiten ihrer Weisheit und Heiligkeit.
In dem Zustand der Entwicklung jenseits von Buddha gibt es nicht mehr die Trennung von Subjekt und Objekt, von außen und innen, von der „Spitze eines Stockes und der Sonne“ sowie des Mondes.
Ein anderer Meister sagte zu diesem Thema:

"Der weite Himmel behindert nicht das Vorüberziehen der weißen Wolken."

Er versucht in einer poetischen Formulierung die Freiheit und Friedlichkeit des Handelns jenseits der Erleuchtung zu beschreiben. Behinderungen beim Handeln sind dann überwunden und alles fügt sich harmonisch in den Gesamtzusammenhang ein. Dabei werden keine ehrgeizigen Ziele verfolgt, keine Positionen erkämpft oder verteidigt, dabei wird nicht behauptet, dass man selbst den Buddhismus besser verstünde und in ihm tiefer verankert sei als jemand anders, sondern es ist dasselbe, als wenn weiße Wolken am Himmel ziehen.
Dôgen erinnert dann an ältere Meister des Zen-Buddhismus, die den Zustand der Entwicklung jenseits von Buddha noch nicht kannten und daher auch nicht lehren konnten. Er zitiert dem gegenüber einen kundigen Meister, der zu den Mönchen in diesem Zusammenhang sagte:

"Wenn ihr zu den Anhängern einer Religion geht und diesen wesentlichen Punkt (des Zustandes jenseits von Buddha) kennt und begreift, könnt ihr zweifellos das Falsche vom Wahren unterscheiden. Ein ´Etwas´ wird von einem wahren Meister auf den Schüler übertragen und dieser kann es selbst als Meister lehren und weiter geben. Es ist der Schatz des wahren Dharma und der ´wunderbare Geist des Nirvana´. Obgleich jeder von uns es in sich hat, kennt man es zunächst noch nicht“.

Dôgen bedauert, dass auch große Meister das Handeln als Weiterentwicklung jenseits von Buddha nicht oder nicht klar genug erkannt hatten und legt besonders großen Wert auf diesen Teil der Buddhalehre. Ein großer Buddha geht also immer weiter in seiner Entwicklung, er praktiziert, lehrt und bleibt nicht stehen oder verharrt schon gar nicht in einer noch so angesehenen „spirituellen Position“. Dôgen spricht sogar davon, dass dies

"der wichtigste Punkt (im Buddhismus) ist, den ihr erfahren und erforschen müsst."

Eine solche Weiterentwicklung umfasst den ganzen Menschen und damit auch seinen Körper.

Weitere Informationen:

Was ist das große Erwachen oder die Erleuchtung ?




Mittwoch, 26. September 2007

Die wunderbare Udumbara-Blume

Die Udumbara-Blume (Shôbôgenzô, Kap. 68, Udonge) hat eine hohe symbolische Bedeutung im Zen-Buddhismus und sie steht für die Übertragung des Dharma von einem authentischen Meister auf den Nachfolger. Gleichzeitig bedeutet sie den wahren Buddhismus in Form der Zazen-Praxis, die von Meister Dôgen so außerordentlich geschätzt wurde.




Die Udumbara-Blume symbolisiert etwas, das sehr selten vorkommt, so wie es z. B. nicht häufig geschieht, dass ein Mensch im Sinne des Buddha-Dharma voll erwacht ist, also die zweite Erleuchtung erlangt hat. Im alten Indien wurde die Udumbara-Blume in diesem Sinne häufig im Buddhismus verwendet. Wir wissen heute allerdings aus der Biologie, dass der Udumbara-Baum ein tropisches Maulbeergewächs ist, das ganz unscheinbare kleine Blüten rund um die Frucht trägt, so dass man diese gar nicht als Blüten erkennen kann. Daher glaubten die alten Inder, dass der Udumbara-Baum normalerweise überhaupt keine Blüten hat, sondern dass er nur außerordentlich selten und vielleicht einmal in einem Zeitalter blüht. Das Gleichnis der Udumbara-Blume bedeutet also in jedem Fall etwas sehr Seltenes und Wunderbares, aber auch gleichzeitig etwas ganz Wirkliches, das es tatsächlich gibt und das auf dem Buddhaweg eine sehr hohe Bedeutung hat.

Es ist ziemlich sicher, das die Übertragung des Dharma von Gautama Buddha auf Mahakashyapa in Form des Gleichnisses der Udumbara-Blume nicht in Indien, sondern in China entstanden ist, da uns in den Sûtra aus Indien diese Geschichte nicht überliefert ist. Daher gab es von einigen Buddhisten die Kritik, dass das Gleichnis der Udumbara-Blume nicht authentisch sei und daher keine große Bedeutung für den wahren Buddhismus habe. Meister Dôgen lehnt eine solche Kritik grundsätzlich ab, weil auch die Sûtra außerhalb von Indien, die von wahren buddhistischen Meistern entwickelt, eingebracht und weiter übertragen werden, wahrer Buddhismus sind und nicht gering geschätzt werden dürfen. Er spricht von den großen chinesischen Meistern auch oft als von ewigen Buddhas und meint damit nicht nur Gautama Buddha, sondern auch seine großen Nachfolger, die voll erwacht waren und den wahren Buddhismus in ihrem Leben verwirklicht hatten.
Blumen haben im Buddhismus eine sehr große Bedeutung und werden in vielen Sûtra, nicht zuletzt im Shôbôgenzô, erwähnt und beschrieben. Zum Beispiel gibt es die Geschichte eines großen Meisters, der beim Anblick blühender Pfirsichbäume die zweite Erleuchtung erlebte. Wir alle kennen buddhistische Gedichte und Geschichten von den Pflaumenblüten, den Kirschblüten, Chrysanthemen, Pfingstrosen und natürlich vor allem von den Lotusblumen. Dôgen spricht bei der Buddha-Lehre zum Beispiel von der Dharma-Blume, die sich dreht und die von wahren Buddhisten gedreht wird.
Es heißt im Lotus-Sûtra, dass Gautama Buddha vor vielen Menschen eine Udumbara-Blume in den Händen hielt und sie drehte. Sein großer Schüler Mahakashyapa bemerkte diese wortlose Geste mit der Udumbara-Blume und ein Lächeln erhellte sein Gesicht. Gautama Buddha sah dies und sagte:

"Ich besitze den Schatz des wahren Dharma-Auges und den wunderbaren Geist des Nirwana. Ich übertrage sie auf Mahakashyapa".

Die Dharma-Übertragung hat auch im Zen-Buddhismus von China, Japan und Korea eine sehr große Bedeutung. Da es bei der Buddhalehre nicht allein um Wissen und Theorie allein geht, sondern um die umfassende Verwirklichung im eigenen Handeln und Leben, hat die lebendige Übertragung von einem Meister zum anderen in der Tat eine Bedeutung, die kaum überschätzt werden kann. Der Meister muss seinen Schüler genau kennen, wie dieser also redet, handelt und sich in den verschiedenen Situationen des Alltags verhält. Dies gilt z. B. in der Freude, bei Schmerzen, bei Auseinandersetzungen, in der Zusammenarbeit, wie er anderen hilft, ohne sich selbst dabei in den Vordergrund zu stellen usw. Zwischen Meister und Schüler besteht daher ein sehr enges vertrauensvolles Verhältnis, das im Zen-Buddhismus, in dem das Handeln so wichtig ist, auch jenseits der Worte und Sätze verwirklicht wird. Der Buddhismus hat eine optimistische positive Sicht des Lebens und der Welt und schätzt die Schönheit der Natur und vor allem der Blumen außerordentlich.

Die Dharma-Übertragung ohne Worte durch das Hochhalten und Drehen der Udumbara-Blume von Gautama Buddha, das wortlose tiefgreifende Verstehen seines Schülers Mahakashyapa und die Dharma-Übertragung mit den oben genannten darauf folgenden Worten sind in der Tat von großer symbolischer Kraft und poetischer Feinheit. So ist es nicht verwunderlich, dass Dôgen das Gleichnis der Udumbara-Blume häufig im Shôbôgenzô erwähnt. Dabei ist weiterhin wichtig, dass Mahakashyapa der erste Nachfolger von Gautama Buddha war und die Übertragungslinie dann in Indien fortgeführt wurde, bis Meister Bodhidharma nach China kam und dort die großen Linien des Zen-Buddhismus begründete, bei denen die Zazen-Praxis Kernelement des Buddha-Dharma war und ist. Die Übertragungslinie ging dann über den großen Meister Daikan Enô zu Tendo Nyojo und weiter zu Meister Dôgen, der diesen wahren Buddhismus nach Japan brachte. In der Linie des Soto-Buddhismus gibt es in neuerer Zeit die großen Meister Kodo Sawaki, Renpo Niwa und Nishijima Roshi.
So kann man sagen, dass die sich drehende Blume von Gautama Buddha den wahren Buddhismus bis in die Gegenwart authentisch übermittelt und dass er dadurch auch zu uns in den Westen gekommen ist.
Dôgen drückt dies wie folgt aus:

"Alle Buddhas praktizieren, erfahren und verwirklichen dieses Drehen der Blume auf dem Weg ihrer Weiterentwicklung, sie lassen die Blüte sich öffnen und erblühen und sie erlangen Klarheit über die sich drehenden Blumen des Hier und Jetzt".

So schön und bedeutungsvoll die Geschichte von Gautama Buddha, der die Dharma-Blume in seinen Händen dreht auch sein mag, so bittet uns Dôgen inständig, dem Hier und Jetzt den Vorrang zu geben und mit ganzem Körper und Geist zu erleben, zu erfahren und zu erforschen, dass sich die Dharma-Blume jetzt und je in diesem Augenblick dreht und den wahren Dharma verkündet. So kann man sagen, dass die Blumen sich selbst drehen und dass dies die Pflaumenblüten, die Lotusblumen, alle Blumen im Jetzt des Frühlings sind. Man kann mit Dôgen auch sagen:

Wenn die Blüten sich öffnen, entsteht die Welt" und "eine Blüte öffnet ihr fünf Blütenblätter und ihre Früchte reifen von selbst auf natürliche Weise".

Das Drehen der Dharmablume gab und gibt es zu allen Zeiten und dadurch verwirklicht sich die große Wahrheit. Die Dharma-Übertragung und das Drehen der Blumen sind keine Fantasiegebilde und sind nicht allein in den Vorstellungswelten zu Hause, sondern sie sind die Wirklichkeit selbst und haben ihre Schönheit der Farben und Formen im Raum, wenn sie auf der Erde wachsen oder als Blüten auf einem Baum blühen. So sind sie Teil der großen Natur, der Berge und Flüsse, der Erde, der Sonne und des Mondes, des Windes und des Regens und auch der Menschen und Tiere.
In der Geschichte der Udumbara-Blume und der Übertragung des Dharma heißt es auch, dass Gautama Buddha ein Zeichen mit den Augen gab, als er die Blume in der Hand drehte und dass dann ein Lächeln auf dem Gesicht von Mahakashyapa erschien. Dadurch verschwindet auch unsere bisherige begrenzte Sicht der Welt, die oft von Enttäuschungen und Verletzungen der Vergangenheit und Sorgen um die Zukunft getrübt ist. Dôgen sagt hierzu, dass wir unsere alten Augen verlieren und mit den neuen die strahlende helle Welt und der sich drehenden Blumen erkennen. Die alten Augen haben nicht gesehen, dass wir den Schatz des Dharma bereits von Natur aus haben und er sich in der Übertragung und beim Drehen der Blumen offenbart. Dann wird unser Geist leicht und beschwingt, als ob wir mit dem Geist spielerisch umgehen. Ein alter Meister sagt dies in dem folgenden Gedicht:

"Gautama verliert seine (bisherigen) Augen. Nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee! Jetzt sind alle Orte beschwerlich und voller Dornen und doch lachen die tanzenden Blüten im Frühlingswind".

Durch die Erwähnung der Dornen wird klar, dass nicht eine träumerische Welt der Illusion gemeint ist, in die wir uns abseits vom Alltag mit seinen Sorgen und verantwortungsvollen Aufgaben hineinträumen, sondern dass es um diese Wirklichkeit selbst geht und genau dort lachen die tanzenden Blüten im Frühlingswind. Und wenn die Pfirsichblüten herunterfallen, dann fällt auch der Körper und Geist ab.

Samstag, 22. September 2007

Was ist das „Etwas“, das uns jäh begegnet, jenseits von Denken und Wahrnehmung?

In diesem Kapitel (Kap. 29, Inmo) behandelt Meister Dôgen das „Etwas“ im Buddhismus, um die Wahrheit und Wirklichkeit selbst zu beschreiben, die nach der buddhistischen Lehre eigentlich etwas ganz Selbstverständliches und Natürliches sind.


Gesamtanlage des Klosters Tokein



Das Wort Inmo kann wörtlich mit "etwas" oder "es" übersetzt werden, also etwas Alltägliches , über das man eigentlich gar nicht nachdenkt, weil es so fraglos ist. Die damit ausgedrückte Wahrheit übersteigt das Denken und die Wahrnehmung durch unsere Sinnesorgane, die Meister Nishijima jeweils als die Philosophien des Idealismus und Materialismus bezeichnet. Nach der umfassenden buddhistischen Lehre sind diese beiden Lebensphilosophien jedoch nicht in der Lage, die Wahrheit und Wirklichkeit der Welt voll zu erfassen und uns ein erfülltes Leben zu eröffnen. Denn dies geht über das einfache Denken und die materielle Wahrnehmung weit hinaus. Wir müssen uns aber auch darüber klar sein, dass schon die Begriffe „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ ihrerseits oft die Gefahr unzulässige Verkürzungen und Konkretisierungen für deren Bedeutung in sich tragen. Denn alle Worte sind immer in Gefahr, dass man den Inhalt mit der Bezeichnung verwechselt, und damit oft den Inhalt und seine Bedeutung unzulässig einengt oder sogar subjektiv verfärbt. So ist der häufige Streit um Weltanschauungen und Religionen denn auch meistens nur der Streit um unterschiedliche Interpretationen der Begriffe, die sich subjektiv bei den verschiedenen Menschen herausgebildet und festgesetzt haben. Es wäre daher meist sinnvoller, zunächst die Bedeutungen selbst abzuklären, bevor die heftigen Diskussionen beginnen. Es sei denn, jeder möchte nur sein eingeübtes Ego in den Kampf führen, um sich selbst zu bestätigen und den anderen zu besiegen, nicht zuletzt, weil das Ego „den Helden spielen“, und damit seine eigene Existenz unter Beweis stellen will, aber dieses Ego gibt es ja eigentlich überhaupt nicht.

Die buddhistische Wahrheit geht also über Denken, sinnliche Wahrnehmung und auch über Worte hinaus, aber die Worte und die Sprache sind unbedingt erforderlich, um die Lehre an andere zu übermitteln und Lern- und Klärungsprozesse bei anderen einzuleiten oder zu fördern. Daher ist es einerseits notwendig, sich der Begrenztheit von Worten und Sätzen bewusst zu sein, auf der anderen Seite muss versucht werden, sie im sozialen Kommunikationsprozess bestmöglich einzusetzen, weil die menschliche Kultur ohne die Sprache überhaupt nicht lebensfähig ist. Das Shôbôgenzô von Dôgen ist hier als ein vorbildliches Beispiel anzuführen: Er verwendete alle Möglichkeiten der Sprache, insbesondere auch die poetische Kraft der Worte, um die buddhistische Lehre an andere zu übermitteln. Es ist bekannt, dass er viele eigene neue Wortschöpfungen entwickelte, um das Neue der buddhistischen Lehre auszudrücken. Er warnte aber immer wieder davor, dass sich die Sprache, die Vorstellungen und die Ideen verselbstständigen und damit verengen. Dann würden wir wieder in der Sackgasse des Idealismus landen, der zwar als Dimension und Teilwahrheit seine Bedeutung hat, aber die Wahrheit des Lebens und Universums nicht umfassend ergreifen kann. Neben der Lehre und den Bildern des Buddhismus muss vor allem das praktische Tun in der Praxis des Zazen und Alltags entwickelt werden, damit ein unmittelbarer Eindruck und eine direkte Erfahrung des Zustandes der Wirklichkeit und Wahrheit für den Menschen ermöglicht werden. Wie Nishijima Roshi betont, ereignet sich im Zazen ein Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems, so dass die aktiven Kräfte des Handelns und die passiven des Geschehen-Lassens ausgeglichen sind. Eine solche Erfahrung und ein solches Erleben in der Zazen-Praxis ist in der Tat mit Worten nur sehr begrenzt beschreibbar und Dogen benutzt die Sprache in seiner Anleitung zum Zazen denn auch vor allem, um die körperliche Haltung genau zu beschreiben. Der im Zazen erfahrene Zustand wird mit Begriffen wie:

"Körper und Geist fallen lassen", "das Denken aus dem Nichtdenken" oder "Zazen ist das Tor des Friedens und der Freude im Buddha-Dharma" beschrieben.

Ich möchte die Bedeutung von Inmo also des Etwas anhand des berühmten Buches "Die Kunst des Bogenschießens" von Eugen Herrigel erläutern. Er kam als deutscher Philosoph in den zwanziger Jahren nach Japan, um Buddhismus und insbesondere Zen-Buddhismus zu studieren. Seine dortigen Freunde überzeugten ihn, dass er eine buddhistische praktische Disziplin erlernen müsste, um den Buddhismus zu "verstehen", und er wählte die Kunst des Bogenschießens. Er berichtet in diesem Buch, wie er unter der Leitung eines erfahrenen Meisters die körperlichen und geistigen Bereiche des Bogenschießens Schritt für Schritt erlernte und dabei so manche schwerwiegenden grundsätzlichen Fehler beging, die nicht zuletzt durch seine europäische Kultur bedingt waren. Unter anderem hatte er das große Problem, dass sich in der höchsten Spannung des Bogens der Schuss des Pfeiles wie von selbst lösen sollte, dies ihm aber immer wieder gründlich misslang. Sein bewusster Wille, den Schuss zu lösen, erbrachte nicht die erstrebte Wirkung, dass der Schuss „wie eine reife Frucht“ abfallen sollte.

Je angestrengter und willensmäßiger seine Versuche wurden den Schuss auszulösen, desto mehr verkrampfte er und desto mehr wich er von dem Weg der „reifen Frucht“ ab, den sein Meister ihm vorgegeben hatte. Dies führte u.a. sogar dazu, dass sein Meister den Unterricht abrupt beenden wollte, weil ihm der Schüler, wie er meinte, aus dem Ruder gelaufen war. Durch Zureden der japanischen Freunde konnte Herrigel dann sein Studium bei dem Meister fortsetzen und er berichtet, dass er dabei viel einfacher und bescheidener wurde. Eines Tages dann löste sich ein Schuss im Augenblick der höchsten Spannung des Bogens wie von selbst. Das war es, das war das so lange gesuchte „Etwas“! In der vollständigen lockeren Haltung von Körper und Geist in der höchsten Spannung des Bogenschützens musste sich der Schuss von selbst lösen. Zur größten Überraschung von Herrigel verneigte sich dann sein Meister vor ihm und dem Bogen und sagte: "Es hat geschossen". Er erläuterte anschließend, dass die Ehrung der Verbeugung nicht ihm als Person gegolten habe, sondern dem Umstand, dass sich das „Etwas“ offenbart habe und er meinte damit, dass dieses Etwas genau die buddhistische Wahrheit ist, die beim Handeln über Denken, Wahrnehmung und alles Persönliche hinausgeht.

Mit dieser Beschreibung von Herrigel: "Es hat geschossen" können wir vielleicht besser nachvollziehen, wie sich das „Etwas“ bei der Zazen-Praxis ereignet, das über Worte und Denken hinausgeht. Das Etwas wird eventuell als vage und nicht konkret fassbar empfunden, und dies ist genau die Wahrheit der buddhistischen Lehre, denn das Etwas existiert in der Tat. Wenn man dieses Etwas erlebt, ist man locker und frei, ohne lasch oder träge zu sein und erlebt einen Zustand des Friedens und der Freude, wie Dogen dies für die Zazenpraxis formuliert. Dieses Etwas oder die Wahrheit jenseits von Denken und Wahrnehmen oder von Worten und Sätzen geschieht je im gegenwärtigen Augenblick, hebt die Trennung von Subjekt und Objekt auf und löst damit auch die Grenzen des Ichs auf, so dass sich die umfassende Einheit mit dem Universum verwirklichen kann und auch tatsächlich verwirklicht.
Es soll noch angemerkt werden, dass wir auch in den westlichen Sprachen Formulierungen haben, die für derartige Situationen verwendet werden, in denen man also nicht einfach ein Subjekt oder Objekt bezeichnen kann. Beispiele hierfür sind: Es regnet, es schneit, es stürmt, es hat geschossen, es ergreift mich, es ereignet sich, es ertönt usw. Grammatikalisch gesehen gehören diese Formulierungen weder zum Aktiv, bei dem jemand etwas tut, noch zum Passiv, bei dem jemand etwas erleidet, sondern sie liegen in der Mitte.

Nach diesen einführenden Worten wollen wir uns nun diesem Kapitel Dôgens zuwenden, um eine Ahnung von diesem Etwas, das die Wahrheit ist, zu bekommen.
Dogen zitiert einen alten Meister mit folgenden Worten:

"Wenn ihr das Etwas erlangen wollt, müsst ihr ein Mensch sein, der das Etwas ist, da ihr bereits ein Mensch seid, der das Etwas ist: Warum macht ihr euch Sorgen, was das Etwas ist?“.

Das Erwachen und die höchste Wahrheit werden hier mit dem Begriff "etwas" bezeichnet, der einerseits eine Ungewissheit bezeichnet, aber andererseits als etwas Wirkliches und Wahres dargestellt wird. An anderer Stelle sagt Dôgen im Shôbôgenzô, dass man die Wahrheit nicht mit dem unterscheidenden Verstand erfassen kann oder dass die intuitive buddhistische Weisheit über das Denken und die Wahrnehmung hinausgeht. Die Bezeichnung "etwas" mag uns westliche Menschen verwundern, aber der Begriff selbst soll deutlich darauf hinweisen, dass die dahinter stehende Wirklichkeit nicht im logischen Sinne eindeutig erfasst werden kann. Als Herrigel zum ersten Mal mit dem Bogen einen richtigen Schuss abgab, verneigte sich der Meister vor diesem Etwas, indem er sagte: "Es hat geschossen". Um für dieses Etwas offen zu sein, ist es notwendig, die eigenen rotierenden und oft hektischen Gedanken und überschießenden Emotionen loszuwerden, damit dieses Etwas sich überhaupt zeigen und entwickeln kann.

Dieses höchste Erwachen übersteigt das Universum, insbesondere wenn man es nur materiell versteht oder nur als Idee in sich trägt. Mit dem Verstand können wir dieses Etwas nicht beweisen, trotzdem sind wir sicher, dass es das gibt, wenn wir es erleben und erfahren und vor allem im Handeln selbst je im Augenblick verwirklichen. Dieses Etwas, das wir selbst sind, ist mehr als der Körper und der Geist und wir merken tagtäglich, wie der Körper sich verändert und alte Zustände, z. B. der Kindheit, nicht wieder zurückkehren und für immer verschwunden sind. Auch der Geist existiert je im Augenblick und steht nie still, ist also niemals statisch, unveränderlich und konstant. Die höchste Ebene der Wahrheit kann nach buddhistischer Lehre nicht ohne moralische Reinheit bestehen und geht über ein persönliches Ich hinaus. Wie ist es sonst zu erklären, dass plötzlich der Bodhi-Geist erweckt wird und wir wirklich nicht sagen können, dass er durch das Ich erzeugt wurde? Unser eigener Wille kann also das Etwas nicht direkt hervorrufen, wenngleich der Wille zur Wahrheit grundsätzlich notwendig ist, um auf dem Weg des Buddha-Dharma zu gehen und mit der Praxis zu beginnen. Da jeder Mensch bereits dieses Etwas ist, macht es auch keinen Sinn, sich zu sorgen, ob und wie man dieses Etwas erlangen kann. Dogen sagt hierzu:

"Deshalb könnten die Klänge und Formen der Wirklichkeit, der Körper und Geist der Wirklichkeit und alle Buddhas der Wirklichkeit dieses Etwas sein."

Dieses Etwas kann man daher auch als die eigentliche Wirklichkeit und Wahrheit bezeichnen.
Im Folgenden wird eine Aussage wieder gegeben, die zunächst selbstverständlich und einfach erscheint, die aber durch Dôgens Untersuchungen eine neue Tiefenschärfe gewinnt. Sie lautet:

"Wenn jemand auf den Boden fällt, steht er auch wieder vom Boden auf. Wenn er (aber) versuchen würde, neben dem Boden aufzustehen, wäre dies letztlich unmöglich".

Was soll nun damit gesagt werden? Es ist sicher klar, dass man direkt wieder vom Boden aufsteht, also wieder auf die Beine kommt, wenn man hingefallen ist. Man steht also genau dort wieder auf, wo man zu Fall gekommen ist. Es ist auch wenig sinnvoll, auf andere Weise wieder hochzukommen, abseits von der Stelle, wo man gefallen ist, denn räumlich sind die Stelle des Hinfallens und des Aufstehens natürlich dieselben. Aber dieses Beispiel kann viel umfassender verstanden werden und Dogen sieht es sogar als "Sprungbrett" für das große Erwachen. Es geht um das Handeln im Hier und Jetzt, also um aktives Tun und Geschehen-Lassen. Es wird ein zeitlicher Ablauf geschildert, der aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht, also die lineare Zeit umfasst, die auch für Ursachen und Wirkungen maßgeblich ist. Aber es geht vor allem je um den gegenwärtigen Augenblick, bei dem die lineare Zeit verschwindet, indem sich die Erinnerungen an das Vergangene und die Erwartungen an das Zukünftige auflösen. Die Geschichte berichtet auch von einem sehr konkreten Ablauf und Erlebnis für den, der hingefallen ist und wieder aufstehen muss.

Gedankliche Täuschungen und fantasievolle Selbstbespiegelungen werden sicher sofort verschwinden, wenn man hinfällt und Schmerzen hat. Dann erlebt man die Wirklichkeit unmittelbar und sie ist nicht durch einen Schleier von Ideen und Vorstellungen teilweise oder gar ganz verdeckt. Das kraftvolle Handeln vollzieht sich je im Augenblick, und nur dann kommt man wieder auf die Beine. Wenn man in der gedanklichen Vorstellung der linearen Zeit über eine mögliche Zukunft hängen bleibt, kann man also gar nicht handeln und wird auch niemals aufstehen können. Das eigentliche Leben gibt es nach buddhistischer Vorstellung im Gleichgewicht oder, wie es häufig formuliert wird, in der Leerheit. Dieses Gleichgewicht erfährt man vor allem bei der Zazenpraxis, aber auch im täglichen Handeln und Erleben. Das gilt natürlich auch für den so einfach erscheinenden Vorgang des Aufstehens. Das Handeln im Augenblick vollzieht sich in der Sein-Zeit des Hier und Jetzt und ist insofern nicht an Vergangenheit und Zukunft gebunden, denn beide sind nur Vorstellungen in unserem Gehirn. Daher kann man sagen, dass man beim Aufstehen sich sowohl auf den konkreten Boden stützt als auch im Gleichgewicht oder in der Leerheit ist.
In einem anderen berühmten Gespräch eines großen indischen Meisters mit seinem Nachfolger wird nach dem Klang der Glocke, die durch den Wind zu läuten beginnt, gefragt: Handelt es sich dabei um das Läuten des Windes oder der Glocke? Der alte Meister und Lehrer sagt dazu:

"Es ist jenseits des Läutens des Windes und jenseits des Läutens der Glocken. Es ist das Läuten meines Geistes."

Mit dem Geist ist aber nicht der subjektive individuelle Verstand gemeint, sondern etwas Umfassendes und Grundsätzliches, das nicht konkret dem Wind oder der Glocke zugeordnet werden kann. Natürlich sind die beiden Meister in dieser Situation selbst Teil des gesamten Geschehens und es wäre nicht sinnvoll, dass sie die Glocke und den Wind als Objekte außerhalb von ihnen selbst empfinden und beschreiben würden. Dieser Geist wird als still und im Gleichgewicht befindlich beschrieben und damit ist gemeint, dass auch beim Läuten der Windglocken genau die buddhistische Stille der Mitte wirksam ist. Auch dadurch wird deutlich, dass es sich nicht um einen subjektiven, personenbezogenen „Geist“ handelt, sondern dass er jenseits davon als das „Etwas“ vorhanden ist: Das „Etwas“ hat geläutet. Das Etwas existiert so wie es ist, es übersteigt unsere subjektiven Ängste, Sorgen, Hoffnungen und Erinnerungen, aber es hat auch die ganz konkrete Wirklichkeit des Läutens und des Windes.
In einer anderen berühmten Zen-Geschichte führten zwei Mönche eine erhitzte Diskussion, ob sich die Flagge oben auf dem Mast bewegte oder ob der Wind in Bewegung war. Der große Meister Daikan Enô kam dann hinzu, und es wird berichtet, dass er damals noch nicht einmal ordiniert, also noch Arbeiter und kein Mönch war, als er sagte:

"Es ist jenseits des sich bewegenden Windes und der sich bewegenden Flagge, ihr seid der Geist, der sich bewegt".

Dadurch wurde das Streitgespräch sofort beendet und beide Mönche hatten eine neue Sicht gefunden und ein neues Verständnis erreicht. Man darf diese Geschichte nicht so begreifen, dass sich der individuelle persönliche Geist der beiden Mönche bewegte. Die Mönche waren Teil des umfassenden Geistes und dieser war nicht getrennt, sondern die Bewegung war beim Geist maßgeblich. Dieses Bewegen ist je so wie es ist, es und der Geist sind das Etwas.
Von dem großen Meister Daikan Enô wird berichtet, dass er in ganz ärmlichen Verhältnissen lebte und den kärglichen Unterhalt für sich und seine Mutter dadurch verdiente, dass er im Wald Holz sammelte und es auf dem Markt verkaufte. Sein Vater war gestorben, so dass er die Verantwortung für den Lebensunterhalt seiner Mutter hatte. Er konnte weder lesen noch schreiben. Dann hörte er auf dem Markt einige Sätze aus dem Diamant Sûtra und war sofort davon tief ergriffen. Er beschloss unwiderruflich, die Wahrheit des Buddha-Dharma zu suchen und zu studieren.

Er musste daher seine Mutter verlassen, was ihm außerordentlich schwerfiel und ging in das Kloster eines berühmten Meisters. Er konnte jedoch dort nicht als Mönch aufgenommen werden, weil er so arm und ungebildet war, sondern wurde für die praktische Arbeit im Kloster abgestellt und bediente dort unter primitiven Bedingungen die Reismühle. Mit dem Verstand ist es schwer zu erklären, warum er dann schnell und umfassend Zugang zum Buddha-Dharma bekam, obgleich er zunächst keine Dharma-Reden hören durfte und auch keine Sûtra lesen konnte. Es wird jedoch berichtet, dass sein Meister die besondere Begabung dieses Arbeiters erkannte und dass er ihn eines Nachts besuchte, so dass die übrigen Mönche dies nicht bemerken konnten. Bei diesem Besuch ereignete sich eine umfassende Übereinstimmung und ein umfassendes Verständnis zwischen Meister und Schüler. Dogen berichtet, dass Daikan Enô, der später selbst ein großer Meister wurde, zunächst keine Kenntnis vom Buddha-Dharma hatte, dass es bei ihm zunächst als Holzsammler noch keinen Willen gab diesen zu erlernen, dass er also überhaupt keine Planung in diesem Sinne für sein Leben hatte. Aber das Etwas wurde plötzlich auf dem Markt beim Hören des Diamant-Sûtra wirksam und führte ihn zu dem Kloster. Er wurde einer der berühmtesten Meister in China und hatte selbst mehrere herausragende Schüler, die ebenfalls Meister wurden.
Am Ende des Kapitels lässt Dogen den Meister Daikan Enô noch einmal mit folgendem Satz zu Wort kommen:

"Was ist (das) Es, das so gekommen ist?"

Dadurch wird zunächst klar, dass dieses Es oder Etwas wirklich vorhanden ist und dass es keine Einbildung oder Illusion sein kann. Trotzdem kann es mit dem Verstand nicht erfasst werden oder besser gesagt, nicht vollständig begriffen werden. Dôgen rät uns dringend, dass wir uns daher selbst darum bemühen sollten, dieses Etwas zu erfahren und zu erforschen. Auch die vielen Dinge und Phänomene der Wirklichkeit gehören zu diesem Etwas, können also nur teilweise gedacht und beschrieben werden. Auch sie sind daher etwas letztlich Unfassbares. Aber wie Meister Daikan Enô sagt, dieses Etwas ist wirklich so gekommen, es ist also kein Nichts, wie die Nihilisten verkünden. Das Etwas besteht ohne jeden Zweifel und ist Teil der Wirklichkeit und Wahrheit. Gerade im Westen sollten wir unsere Hyperaktivität einerseits und unsere Konsumsucht andererseits verlassen, damit sich das Etwas zeigen und ereignen kann und uns den richtigen Weg weist.

Mittwoch, 19. September 2007

Was bedeutet das Bild eines Reiskuchens?

Es gibt großen und kleinen Bambus


Im Zen-Buddhismus wird häufig der Satz untersucht, dass ein Bild des Reiskuchens nicht den Hunger stillen kann, weil es eben nur ein Bild und nicht der wirkliche Kuchen ist. Aber sind deswegen Bilder völlig überflüssig? Sicher nicht. Um die wahre Bedeutung des Bildes eines Reiskuchens geht es Dôgen in diesem Kapitel des Shôbôgenzo.
Das japanische Wort des Gabyô bedeutet das Bild eines Reiskuchens (Kap. 40), ein solcher Kuchen wird in Ostasien aus Reismehl hergestellt. Er ist durchaus unserem Kuchen im Westen vergleichbar, der aus dem Mehl unserer Getreidesorten wie Weizen hergestellt wird. Reiskuchen ist ein beliebtes Nahrungsmittel und wurde im alten China auch am Straßenrand verkauft. Im Zen-Buddhismus war der Satz:


„Gemalter Reiskuchen stillt nicht den Hunger“

sehr berühmt und wurde von den Meistern vielfach zur Erklärung der Wirklichkeit im Gegensatz zum Bild benutzt. In diesem Sinne wird klargemacht, dass man nur den wirklichen materiellen Reiskuchen essen kann und dessen gemaltes Bild aber nicht in der Lage ist, den Hunger wirklich zu stillen. Daraus zogen manche Zen-Schüler voreilig den Schluss, dass Bilder, Ideen und Gedanken überhaupt nutzlos und störend sind und daher grundsätzlich vermieden oder gar unterdrückt werden sollten. So gab es einige Gruppen und Schulen im Buddhismus, die grundsätzlich alle Theorien und auch die Sûtra des Buddhismus ablehnten, weil die Lehren auch nur „Bilder“ seien und nicht die Wirklichkeit selbst. Damit seien sie daher völlig überflüssig.

In diesem Kapitel untersucht Dogen den Satz vom Bild des Reiskuchens sehr viel gründlicher und kommt zu dem klaren Schluss, dass Bilder, Ideen und Gedanken genau wie die Lehre des Buddha-Dharma selbst eine große Bedeutung haben. In der Lehre von Nishijima Roshi handelt es sich hierbei um die Lebensphilosophie und Lebenswelt des Idealismus, der zwar nur eine bestimmt Sichtweise und Dimension der Menschen ist und in sofern nur als Teilwahrheit einzustufen ist, aber unbestritten eine hohe Bedeutung hat. Erst wenn diese Teilwahrheit der Ideen, Bilder, Vorstellungen und Fantasien als umfassende Wirklichkeit und die ganze Wahrheit missverstanden werden, gibt es die großen Probleme und sogar Katastrophen sowohl im psychischen als auch im sozialen und politischen Bereich. Wie Dogen in diesem Kapitel herausarbeitet, ist es aber überhaupt nicht vertretbar, dass Ideen, Gedanken und Bilder grundsätzlich abgelehnt werden und daher hat auch das Bild des Reiskuchens eine viel höhere Bedeutung als manche Zen-Buddhisten glauben.

Was ist nun der wesentliche Inhalt dieses Kapitels? Zunächst verdeutlicht Dogen, dass die Erfahrung im Augenblick selbst die unmittelbare Wirklichkeit ist und dass man dies mit theoretischen Überlegungen und Spekulationen über Einheit und Verschiedenheit nicht vermischen darf. Wenn man einen Augenblick und einen Dharma wirklich erfährt und versteht, so bedeutet dies, dass man die ganze Vielfalt der Welt und die zehntausend Dharma ebenfalls erfährt und versteht. Dabei sind die Augenblicke und die Dharma nicht von einander abhängig und man sollte sich nicht auf die vorherige Situation und den vorherigen Augenblick fixieren und an ihnen hängen, weil man dann die Gegenwart vollständig verpasst. Aber die verschiedene Dharma haben durchaus eine Beziehung zu einander. Auch der Augenblick des Verstehens ist nämlich ein Dharma und dieses Verstehen gilt dann für die große Vielfalt der Welt des Verstehens.

Das Bild eines Reiskuchens kann in der Tat den Hunger nicht stillen. In ähnlicher Weise kann man sagen, dass auch die buddhistische Lehre und die Sûtra den Bildern und insbesondere dem Bild des Reiskuchens durchaus ähneln und nach der Lehre von Nishijima Roshi sind diese der Lebensphilosophie des Idealismus zu zurechnen. Bedeutet dies aber, dass die Lehre des Buddha-Dharma und dass die Sûtra sinnlos und ohne Bedeutung sind? Keineswegs. Dogen betont, dass es ein großes Missverständnis wäre, wenn der Satz vom Bild des Reiskuchens so verstanden würde, dass die Lehre und überhaupt alle Bilder völlig nutzlos seien. Aber die Lehre und auch die Bilder müssen authentisch von einem Meister auf den Schüler übermittelt und von diesem erfahren und mit Leben erfüllt werden. Dogen vergleicht den Satz vom Reiskuchen mit anderen zentralen Aussagen, die auch im Shôbôgenzô behandelt werden, zum Beispiel:

„ Erzeugt kein Unrecht und praktiziert die vielen Arten des Rechten“.
„Dies ist etwas, was so gekommen ist“.
„Ich bin immer aufrichtig hier und jetzt“.


Dabei kann man neben dem konkreten essbaren Reiskuchen auch beim Bild des Reiskuchens zwischen dem materiellen Bild selbst und dessen ideeller Bedeutung unterscheiden. Das Bild kann auch wie eine Anleitung zur Herstellung des wirklichen Reiskuchens verstanden werden, wie man z.B. das Reismehl und die anderen Zutaten zur Herstellung des Kuchens verwendet. Diese Herstellung des Kuchens selbst ist dabei ein Handeln, das im Augenblick vor sich geht und das Bild sozusagen als Vorlage und Plan benutzt. Ähnliches gilt, wenn man ein Bild selbst malt, die verschiedenen Farben mischt und sorgsam auf das Papier aufträgt. Dieselben Farben kann man natürlich auch verwenden, um ganz andere Bilder zu malen, z.B. ein Landschaftsbild mit Bergen und Flüssen. Im Falle des Reiskuchens gleicht das Bild einem vorgestellten Plan für dessen Verwirklichung, also mit den erforderlichen Zutaten in dem richtigen Mischungsverhältnis. Wenn es wirklich gelingen soll, einen wahren Reiskuchen herzustellen, so muss sowohl das Bild selbst im buddhistischen Gleichgewicht sein, und es muss auch der Vorgang der praktischen Herstellung des Kuchens im Gleichgewicht und damit in der Wirklichkeit sein. Bild und Reiskuchen bilden also eine Einheit und sind nicht voneinander zu trennen, denn eine Trennung kann nur gedanklich vollzogen werden und dies entspricht nicht der Wirklichkeit. Auch das Bild existiert im Hier und Jetzt und im gegenwärtigen Augenblick.

Nishijima Roshi erläutert diesen Zusammenhang für die Gegenwart anhand der Planung und des Betriebes eines industriellen Unternehmens: Zunächst muss ein idealistischer Plan erstellt werden, der die gesamte Ausgangslage und die konkreten Einzelpläne für den Bau und Betrieb eines Fabrikgebäudes umfassen muss. Damit das Unternehmen in der modernen Wirtschaft überlebensfähig ist, muss weiterhin eine genaue Planung und Abschätzung vor allem der finanziellen Möglichkeiten durchgeführt werden, denn wenn das Unternehmen keinen Gewinn erwirtschaftet, geht es Pleite und verschwindet vom Markt. Dann verlieren auch alle Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz. Eine solche Planung darf aber nicht nur als hoffnungsvolles Phantasiegebäude erdacht werden, sondern muss ganz konkret alle wesentlichen materiellen Bedingungen einer Fabrik erfüllen. Ein romantischer Traum reicht als Plan nicht aus, sondern es muss das notwendige Kapital beschafft werden, es müssen Gebäude und Grund und Boden sowie Maschinen und alle anderen technischen Ausstattungen bis hin zur elektronischen Verkabelung konkret und fehlerfrei geplant und fixiert werden. Dann stellen sich die wichtigen Fragen der Mitarbeiter: welche Mitarbeiter mit welcher Qualifikation werden benötigt und sind sie in der Region anzuwerben oder nicht. Nishijima Roshi sagt wörtlich:

„Nur mit einer guten Planung und ausreichenden Prüfungen aller materiellen Bedingungen kann der Aufgabe Erfolg beschieden sein. Gibt es noch irgendwelche fehlenden Bedingungen? Alle diese Fragen müssen gut durchdacht und angemessen beantwortet werden.“

Diese Beispiel mag uns weniger poetisch erscheinen als das Bild eines Reiskuchens, aber hier sind anhand eines anderen Beispieles der Gegenwart ganz ähnliche Zusammenhänge wie bei der Herstellung eines Reiskuchens nach einem Bild oder Rezept und mit den konkreten materiellen Zutaten dargestellt. Wie wir sehen, haben die grundsätzlichen Zusammenhänge seit der Zeit Dôgens große Ähnlichkeiten, und seine Lehren sind immer noch aktuell und aussagekräftig.

Der Hunger tritt konkret im Ablauf von vierundzwanzig Stunden auf und hat keine unmittelbare Verbindung mit dem Bild des Reiskuchens, er hat also seine eigene Wirklichkeit. Auch wenn wir beim Anblick des Bildes eines Reiskuchens vielleicht Hunger bekommen, kann das Bild natürlich diesen Hunger nicht stillen. Während der Hunger und der Reiskuchen jeweils etwas ganz Konkretes und Reales sind, also beides eine direkte Offenbarung des ganzheitlichen Körpers und Geistes sind, gilt dies für das Bild so nicht. Das Bild eines Reiskuchens wird ähnlich wie das eines anderen Bildes, z.B. einer Landschaft, gemalt, indem wir die verschiedenen Farben wie blau, gelb, rot und weiß, sowie die Maße, die Länge, Breite sowie eckige und runde Formen malen. In gleicher Weise können wir einen Menschen oder einen Buddha malen, indem wir seine typischen Merkmale in das Bild bringen. Man kann darüber hinaus sagen, dass alle Buddhas in unserem Leben eigentlich Bilder oder Vorstellungen sind, wir also ohne diese Bilder und Vorstellungen den Buddhismus überhaupt nicht lernen, kennen und erfahren können.
Dabei kommt es darauf an, dass wir genau untersuchen, was zum geistigen und was zum konkret materiellen Bereich gehört. Beides sollten wir nicht vermischen, sondern Klarheit gewinnen. Wir sollten uns also fragen:

Was ist die Wirklichkeit und was ist deren Bild oder Vorstellung“.

Dies hat natürlich in unserem jetzigen Zeitalter der Medien und der Scheinwirklichkeiten des Fernsehens und Films eine ganz neue hoch brisante Bedeutung. Damit wird klar, dass unser ganzes Leben und Sterben unauflösbar mit Bildern, Vorstellungen und Gedanken verbunden sind, oder genauer gesagt, mit dem Malen der Bilder und dem Entwickeln der Gedanken und Vorstellungen. Auch die höchste Wahrheit im Buddha-Dharma ist nämlich eine Lehre und damit sozusagen ein Bild.
Die große Dharma-Welt und der leere Raum sind letztlich dasselbe wie das Malen eines Bildes. So kann man sagen, dass auch die einzelnen Bereiche der buddhistischen Lehre wie die fünf materiellen Elemente, die fünf Komponenten des Lebens und der Welt (Skanda) und auch der achtfache Weg zur Überwindung des Leidens Bilder und Ideen sind. Soweit sie Teil der buddhistischen Wirklichkeit sind, sind sie daher genau so real wie das Bild des Reiskuchens. Ohne Vorstellungen und Bilder gibt es also keine buddhistische Lehre und überhaupt keinen Buddhismus. Aber es gibt in der Welt viele „falsche Bilder“ und viele Schein-Lehren. Dies ist keine Wirklichkeit, weil diese Lehren im Kern unwahr und meist von Interessen gesteuert sind. Dôgen macht hier also den grundsätzlichen Unterschied, um welche Bilder und um welche Lehren es sich handelt.
Der Lehrer von Dôgen, Meister Tendo Nyojo sagte:

Die langen Bambusgewächse und die Bananenstauden sind in das Bild gekommen.“

Aber was bedeutet dieser eigenartige Satz? Ist das die berühmte klare Sicht der realen Wirklichkeit des Zen-Buddhismus? Wie können Gewächse und Stauden in ein Bild kommen? Dogen schätzte diese Worte seines eigenen Meisters außerordentlich und bezeichnet diesen als einen Menschen, der die einfachen Vorstellungen von lang und kurz hinter sich gelassen hat und in jedem Augenblick das Malen eines Bildes erfährt und je neu erlernt. Die Kräfte des Universums von Yin und Yang arbeiten in den langen Stämmen des Bambus und daher bewirken gerade diese, dass Yin und Yang wirklich arbeiten. Yin und Yang erfahren sich viele Jahre und Monate als langer Bambus, aber diese Zeit ist mit dem denkenden Verstand nicht auszuloten. Die großen Heiligen haben einen Eindruck von den Kräften und vom Bambus erfahren, aber sie sind auch nicht in der Lage, diese vollständig zu erfassen. Der Dharma ist im Gleichgewicht und ist eine Einheit mit Yin und Yang. Dogen sagt hierzu:

„Weil das Erfassen im Gleichgewicht ist, und weil die Wahrheit im Gleichgewicht ist, ist dieses Yin und Yang etwas völlig anderes als bei den Menschen, die nicht an den Buddhismus glauben und bei den Anhängern der zwei Fahrzeuge und deren Sicht und Vorstellung von Yin und Yang. Es ist einfach das Yin und das Yang der langen Bambusrohre. Es sind die Schritte im Leben der langen Bambusrohre und es ist die Welt der langen Bambusrohre.“

Die langen Bambusstangen sind unauflösbar mit den Buddhas der zehn Richtungen verbunden und wir sollten uns daran erinnern, dass die Erde, der Himmel und das Universum die Wurzeln, Stämme, Zweige und Blätter dieser langen Bambuspflanzen sind. So kann man sagen, dass der Bambus den Himmel, die Erde und das Universum verursacht und immer andauert. Aus dem Bambus werden auch die nützlichen Stäbe und Stangen für den Menschen gefertigt.
Bei den genannten Bananenstauden handelt es sich um Zierpflanzen, die im alten China in den Gärten wuchsen. Diese waren kleiner als die jetzt bekannten Bananenstauden, die in Plantagen gezüchtet werden. Sie bestehen aus den materiellen Elementen Erde, Wasser, Feuer, Wind und Luft aber auch aus Geist, Willen, Bewusstsein und Weisheit.
Dies gilt für ihre Wurzeln, ihre Stiele und Blätter, für ihre Blüten und Früchte, für ihr Licht und ihre Farben. Auf ihnen liegt kein einziges Staubkorn und sie werden vom Wind gewiegt und von den Herbststürmen gebrochen. Man nennt sie rein und sauber. Dogen fährt fort:

"Da ihre Augen klar sind und ihre Farbe rein ist, existiert die Befreiung hier und jetzt. Sie werden nicht durch die Flüchtigkeit (der Zeit) beeinträchtigt und sind daher jenseits der Theorien über längere oder kürzere Zeitabschnitte".

Denn diese Zeitabschnitte sind nicht die buddhistische Sein-Zeit des Hier und Jetzt, sondern sind Maßeinheiten mit scheinbarer Objektivität. Hier entsteht in der Sein-Zeit die Kraft einer großen Befreiung, und die Elemente von Erde, Wasser, Feuer und Wind verwandeln sich in kraftvolles Leben. Die getrennten Vorstellungen von Geist, Willen, Bewusstsein und Weisheit enden dagegen und erfahren einen großen Tod. In der Natur von Frühling, Herbst, Winter und Sommer empfangen wir die großartige Übungspraxis und benutzen sie auf dem Weg des Buddha-Dharma. Diese Gesamtheit des hohen Bambus und der Bananenstauden ist aber nichts anderes als ein Bild. Große Meister haben beim Klang des Bambus das große Erwachen erfahren und sie sind Teil dieses Bildes. Es ist daher sinnlos, von dumpfen Gefühlen gesteuerte beengte Überlegungen hierüber anzustellen, wie dies gewöhnliche Menschen leider zu tun pflegen. Zweifel und Diskussionen gehen völlig am Wesentlichen dieser wunderbaren Bilder vorbei. Meister Dogen schildert hier mit der Kraft des Dichters die Wirklichkeit und Wahrheit des Buddha-Dharma, die sich nicht in abstrakten Theorien und spitzfindigen Argumenten verlieren darf. In diesem Sinne führte ein großer alter Meister seinen begabten Schüler auf dessen Frage, was der wesentliche Kern der buddhistischen Lehre sei, einfach in den Klostergarten und zeigte ihm die Bambusgewächse. Er sagte etwas scheinbar Selbstverständliches:

Es gibt großen und kleinen Bambus“.

Die Lehre des Buddha-Dharma in ihrer ganzen Wirklichkeit und Wahrheit ist wie ein Bild, und aus diesem großartigen Bild wird das menschliche Leben verwirklicht. Der Wille und der Hunger nach der Wahrheit ist tatsächlich ein Hunger nach den Bildern des Buddha-Dharma. Unsere Erfüllung und unsere Verwirklichung sind mit diesen Bildern unauflösbar verbunden, und die Kraft zur Verwirklichung entsteht aus den Bildern der Verwirklichung. Denn diese Bilder haben eine solche Kraft. Der Hunger nach der Wahrheit kann nicht erfahren werden, wenn er nicht im Geist wirksam ist. Dieser Hunger bringt uns zum Lernen und Erfahren der Wirklichkeit, so wie sie im realen Leben, auf der Erde und im Universum ist. So fangen wir an, mit dem Körper und Geist das Leben zu meistern. Wir verwandeln die Dinge und Phänomene der Welt und werden von ihnen verändert. Die Realisierung dieser Kraft und Tugend zu bewirken, ist nichts anderes als die Verwirklichung, ein Bild zu erleben und zu erfahren. Dies ist die wahre Bedeutung des Bildes eines Reiskuchens!

Weitere Informationen:


Die vier Lebensphilosophien des Buddhismus


Die Buddhistische Sein-Zeit des Hier und Jetzt


Die Blumen im Raum

Dienstag, 18. September 2007

Die wunderbaren buddhistischen Kräfte

Brunnen mit Schöpflöffel im Kloster Tokein


Auch im Buddhismus gibt es viele märchenhafte Geschichten von übernatürlichen Kräften, dass z. B. ein Heiliger sich in die Luft erhebt oder von einem Ort zum anderen fliegt, sich plötzlich unsichtbar macht oder die Feinde durch magische Kräfte ganz leicht besiegt. In diesem Kapitel mit der japanischen Bezeichnung Jinzu geht Dôgen auf solche Kräfte ein. In diesem Sinne wird das japanische Wort Jin häufig mit „mystisch“ und „übernatürlich“ übersetzt. Aber Meister Dôgen erklärt in diesem Kapitel, dass die Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens und der Welt eigentlich selbst das Wunderbarste ist, das durch die buddhistische Lehre und Übungspraxis jedoch erst richt richtig erkannt, erfahren oder erlebt werden kann. Da das japanische Wort zu Kraft oder Fähigkeit bedeutet, möchte ich die folgende Übersetzung wählen: „Die wunderbaren buddhistischen Kräfte“, denkbar wäre auch: „Die wunderbaren Kräfte der Buddhas“, um den Inhalt und die Bedeutung dieses Kapitels in der Überschrift klar zu machen und von den „übernatürlichen“ Wundern abzugrenzen.
Dôgen zitiert einen berühmten alten buddhistischen Meister, der auf die Frage, was die übernatürlichen Kräfte der Buddhas sind, wie folgt antwortet:

"Wasser holen und Brennholz tragen".

Dies ist in der Tat eine verblüffende Antwort, da beide Tätigkeiten nach dem gesunden Menschenverstand eher einfach, um nicht zu sagen banal sind, und sicher den meisten Menschen eher als lästig und unangenehm erscheinen. Im Zen-Buddhismus wird aber die Wirklichkeit und Wahrheit des Handelns und auch der sog. einfachen Tätigkeiten außerordentlich geschätzt. Darin offenbart sich wahre buddhistische Handlungskraft und wahrer buddhistischer Geist, denn es kommt eben nicht darauf an was man tut, sondern wie man es tut. Das Handeln ist die wesentliche Grundlage der Wirklichkeit und nicht das Ergebnis! Wenn wir uns vergegenwärtigen, was mit der Tätigkeit des Wasser-Schöpfens alles verbunden ist, wird uns wirklich klar, wie wunderbar das Wasser selbst ist, dann die Möglichkeit, es aus einem klaren Bergbach zu schöpfen und nicht zuletzt das kräftige Gefühl, den Durst mit klarem Bergwasser zu löschen.
Auch die von Dôgen angeführte Wirklichkeit des Feuerholzes eröffnet bei genauer Überlegung großartige Bereiche: Die Klöster im alten China lagen meist hoch in den Bergen und dort herrschte im Winter bittere Kälte. Wer einmal richtig gefroren hat, weiß die wohlige Wärme des Feuers zu schätzen und dies an kalten frostigen Wintertagen im Gebirge umso mehr. Die scheinbar einfachen und alltäglichen Handlungen, nämlich Wasser zu schöpfen und Feuerholz zu holen, gewinnen also aus buddhistischer Sicht eine ganz neue Tiefenschärfe und neue, lebendige Verbindungen zu vielen anderen wesentlichen Lebensbereichen. Sie betreffen zwischenmenschliche Beziehungen, gemeinsames Handeln und gemeinsame Gefühle, und sie überschreiten damit den banalen Materialismus, der sich auf das eindimensionale Verständnis der Welt und des Lebens verkleinert. Wenn man dieses erforscht und erfährt, wie Dôgen häufig sagt, sind es wirklich wunderbare Kräfte, die sich durch die buddhistische Lehre und Übungspraxis im Leben zeigen und entfalten können. Diese können unser Leben in ungeahnter Weise wie von selbst und auf natürlich Weise umgestalten.

Die buddhistischen Kräfte sind zwar wunderbar aber gar nicht übernatürlich, denn das ganze Leben entspricht ja gerade den natürlichen Gesetz des Universums. Durch die buddhistische Praxis und Lehre werden sie nur wirksam und bestimmen unser Leben. So sagt Dôgen an anderer Stelle:

"Im verwirrten Zustand dreht sich die Blume des Dharma und im erwachten Zustand drehen wir die Blume des Dharma",

und er meint damit, dass wir die Schönheit und wunderbare Kraft dieser Welt vielleicht gar nicht wahrnehmen und erleben, und sich dann die Dharma-Blume unabhängig von uns für sich selbst bewegt und dreht. Dabei gibt sie uns überhaupt keine Kraft. Wenn wir umgekehrt durch die Lehre und Übungspraxis auf dem Weg des Buddha-Dharma die wunderbaren natürlichen Kräfte in uns entwickeln und befreien, sind wir selbst in der Lage, die Blume des Dharmas zu bewegen und zu drehen.

In der üblichen buddhistischen Vorstellung gibt es sechs wunderbare Kräfte, die häufig auch als übernatürliche Kräfte bezeichnet werden. Wir wollen diesen Ausdruck der Übernatürlichkeit jedoch vermeiden, da er zu dem Fehlschluss verführen kann, dass die Naturgesetze z. B. der Materie und materiellen Lebensphilosophie ganz außer Kraft gesetzt würden. Ein solcher Wunderglaube ist zwar auch im Buddhismus durchaus anzutreffen, Dôgen schätzt das aber nicht besonders. Häufig wird auch von den sechs mystischen Kräften gesprochen, die sich wie folgt gliedern:
1). Mystische Verwandlung; 2). Den Geist anderer lesen; 3). Übernatürliches Sehen; 4). Übernatürliches Hören; 5). Erinnerung an frühere Leben und 6). Die Kraft Übertreibungen zu beseitigen, wie die eigenen Leidenschaften und Befleckungen.
Dôgen bezeichnet das Tee-Trinken und Essen im Haus der Buddhas als wunderbare Kräfte, sie sind also gar nichts Mystisches und auch die Bezeichnung „übernatürlich“ trifft dies nicht. Auf der anderen Seite sind sie mit dem Verstand nicht erfassbar, denn sie sind die Wirklichkeit selbst und ob sie dem Handelnden bewusst sind oder nicht, spielt keine große Rolle. Die wunderbaren Kräfte, die durch die buddhistische Praxis und Lehre beim Menschen freigelegt werden, sind so wie sie sind, sie sind die Natur des Universums selbst, aber sie müssen befreit und entwickelt werden, damit sie sich entfalten und kräftigen können. Schon Shakyamuni Buddha sagte:

"Die wunderbaren Kräfte der Buddhas kann man nicht erfassen",

und damit meinte er durchaus die alltäglichen Handlungen und nicht zuletzt die Praxis des Zazen.
Dôgen gibt dann die Geschichte eines alten Meisters wieder, der sich gerade zum Schlafen gelegt hatte, als einer seiner Schüler eintrat und ihn bat, sich ihm zuzuwenden, da der Meister ihm den Rücken zuwandte. Der Meister erzählte daraufhin dem Schüler seinen Traum, den er gerade geträumt hatte, mit der Bitte diesen zu deuten, was der Schüler auch tat. Danach ging dieser aus dem Raum und holte eine Schüssel mit Wasser und ein Handtuch, so dass sich der Meister das Gesicht waschen konnte. Danach kam ein zweiter später ebenfalls berühmter Schüler herein und der Meister sagte zu ihm:

"Ich und der Schüler haben gerade eine wunderbare Kraft praktiziert, die noch eine Stufe über (den Kräften im Hinayana) steht“.

Der zweite Schüler fügte hinzu, dass er von nebenan alles mit angehört und verstanden habe und ging ebenfalls aus dem Raum, um für den Meister eine Schale Tee zu bereiten und ihm anzubieten. Der Meister freute sich sehr über diese Handlungen seiner Schüler, die diese selbständig und ohne dass er sie darum gebeten hatte, vollzogen, weil sie in der gegebenen Situation intuitiv spürten, was für den Meister gut war und was zu tun war. Der Meister lobte dies und sagte:

"Die Weisheit und die wunderbaren Kräfte meiner beiden Schüler überragen bei weitem die der großen Schüler von Gauthama Buddha".

Interessant ist es dabei, dass der Inhalt des vielleicht geheimnisvollen Traumes in der obigen Geschichte überhaupt keine Rolle spielt. Der Meister bringt vielmehr die wunderbaren Kräfte des tiefen Verständnisses zwischen zwei Menschen, hier also zwischen Meister und Schüler zum Ausdruck, die bewirken, dass die übliche Trennung zwischen den Menschen aufgehoben wird und dass sie intuitiv verstehen, was für den Anderen richtig ist. Wir sollten die Geschichte also nicht als selbstverständlich und banal abtun, sondern im Gegenteil mit Dôgen die dort wirksamen Kräfte, die mit dem einfachen unterscheidenden Verstand nicht erklärt werden können, erfassen und verinnerlichen. Das Handeln aus einem gemeinsamen Geist ist die wunderbare Kraft, um die es hier geht. Dazu bedarf es wie in diesem Fall keiner Worte, die eine dem anderen sagt, damit dieser weiß, was zu tun ist. Die Wunder und übernatürlichen Kräfte, die häufig als Kennzeichen einer starken Religion beschrieben werden, sind damit für Dôgen nur von untergeordneter Bedeutung. Ob man sich unsichtbar machen oder durch den Himmel fliegen kann, ob man durch Magie die Gedanken anderer lesen oder sogar steuern kann, usw., wird im Zen-Buddhismus wenig geschätzt, denn die eigentlichen Wunder ereignen sich im täglichen Leben, im Zusammenleben und gemeinsamen Handeln aus einem Geist und einem Sinn der Menschen.
Theoretiker und die Lehrer und Kommentatoren der Sûtra vertrauen solchen wunderbaren Kräften nicht, denn sie sind mit Worten, Konzepten, Interpretationen und Unterscheidungen beschäftigt. Sie kennen nach Dôgen nur die kleinen Kräfte der in den Schriften wiedergegebenen Magien, aber nicht die wirklich wunderbaren Kräfte des Universums und des Lebens. Dôgen führt hier die kleinen Kräfte auf, wie z. B. ein Haar, das den grenzenlosen Ozean verschlingt, oder ein Sesamkorn, das den großen Berg Sumero in sich enthält oder auch, wie eine mysteriöse Geschichte berichtet, das Wasser, das aus dem Oberkörper eines Menschen strömt oder auch das Feuer, das aus seinem Unterleib lodert. Die wirklichen wunderbaren Kräfte wirken je im Augenblick, man kann sie nicht dem „Ich“ eines Menschen oder einem getrennt gedachten anderen Menschen zuordnen. Die wunderbaren Kräfte offenbaren sich weder im Materiellen noch im Immateriellen allein, und durch diese Kräfte werden die Praxis, die Erfahrung und die Lehre aller Buddhas verwirklicht. Dies gilt vor allem im täglichen Leben, also bei sog. einfachen Tätigkeiten wie Wasser zu schöpfen, Feuerholz zu holen und Tee zu bereiten. Ohne diese wunderbaren Kräfte des Buddha-Dharma gibt es kein Erwachen, also keine erste und zweite Erleuchtung, keine Schulung, keine Wahrheit und kein Nirwana. Durch diese wunderbaren Kräfte kann man mit Dôgen sagen, dass ein Haar nicht nur den weiten Ozean verschlingt, sondern ihn vor allem bewahrt und beschützt, denn der Ozean ist die „grenzenlose Schatzkammer“ des Dharma und damit der Wirklichkeit.

Diese wunderbare Wirklichkeit wird von einem Laienschüler, der also im Beruf stand und eine Familie im sozialen Leben hatte, wie folgt ausgedrückt:

„Wasser holen und Brennholz tragen,
Welch wunderbare Kraft.
Und welch wunderbares Wirken.“

Wenn wir uns noch einmal vergegenwärtigen, was es bedeutet, Wasser zu holen, also zum Brunnen oder zum Fluss zu gehen, um dort das Wasser zu schöpfen und dann mit dem Eimer zurück zu gehen zu den anderen, zum Beispiel in die Küche, um dort das Essen zu bereiten oder Tee aufzugießen, so kommen wir nicht umhin, dieses als großartig und wunderbar zu erleben und zu beschreiben. Leider vollbringen wir viele alltägliche Handlungen überhaupt nicht in dem Bewusstsein, wie großartig sie sind, wie viele Menschen daran beteiligt sind und was alles bewirkt wurde, damit genau diese Handlung im Hier und Jetzt geschehen kann. Bei solcher Erkenntnis und Erfahrung kann in der Tat der Himmel und das Universum aufgehen und sich wunderbar verwirklichen. Ob man all dies mit dem unterscheidenden Verstand überhaupt erkennt, begreift und einschätzt, ist dabei gar nicht so wichtig. Wer dieses wunderbare Wirken und die wunderbaren Kräfte sieht und versteht wird „sicherlich die Wahrheit verwirklichen.“
Dôgen berichtet dann von einer anderen buddhistischen Geschichte, in der ein Meister seinen Schüler fragte:

„Was ist die wunderbare Kraft und das wunderbare Wirken von dir, dem Schüler?“

Dieser konnte auch nach Wiederholung der selben Frage durch den Meister nicht mit Worten antworten, weil dies der Frage ohnehin nicht gerecht geworden wäre. Statt dessen verneigte er sich ehrerbietig und ging dann seinen Aufgaben und Pflichten nach. Dies ist nämlich die eigentliche Bedeutung der wunderbaren Kräfte.

Es gibt Eremiten, die vermeintlich oder tatsächlich übernatürliche Kräfte besitzen, die den wunderbaren Kräften des Buddha scheinbar gleich kommen. Denn Dämonen und Götter haben auch übernatürliche Kräfte, wie es in den buddhistischen Geschichten erzählt wird. Sie sind aber keine Buddhas, sodass es wohl nicht ausschlaggebend sein kann, ob man solche übernatürlichen Kräfte besitzt oder nicht. Gerade Eremiten haben häufig keine sozialen intuitiven Kräfte, da sie viel zu sehr auf sich selbst konzentriert sind und ganz anders als die Buddhas, weil sie nämlich die reale Wirklichkeit ohne die Unterscheidung von Subjekt und Objekt überhaupt nicht erkennen. Das Wort übernatürliche Kraft, das vielleicht einen Eremiten kennzeichnet, bedeutet also keinesfalls das selbe wie die wunderbare Kraft eines Buddha.

Die sechs wunderbaren Kräfte der Buddhas können, nach Dôgen, also weder von Göttern noch von Dämonen wirklich erkannt werden. Diese Kräfte werden ganzheitlich im Buddhismus unmittelbar authentisch vom Lehrer auf den Schüler übertragen und können nur in begrenztem Umfang mit Worten beschrieben werden, lassen sich daher auch aus den Sûtra nicht erschöpfend erlernen.

Ein großer Zen-Meister sagte:

„Wenn (ein Mensch) jetzt in diesem Augenblick nicht von materiellen und ideellen Dingen ergriffen ist und wenn er jenseits davon ist, sich allein auf sein Wissen und sein Verstehen zu verlassen, nennen wir dies die wunderbaren Kräfte. Nicht an (der Idee) dieser wunderbaren Kräfte zu haften, heißt (darüber hinaus) jenseits der wunderbaren Kräfte zu sein.“

Diese wunderbaren Kräfte bewirken, dass unsere sechs Sinne klar werden und dass keine negativen Spuren durch falsches Handeln bei sich selbst oder anderen hinterlassen werden. Dies bedeutet, dass die Augen, die Ohren, die Nase und die Zunge nicht von Gier und Haben-Wollen, von Ablehnung, Hass und Ruhmsucht gesteuert werden sondern rein sind. Dies ist der ausgeglichene Körper und Geist des Buddhismus, von dem ein alter Meister sagte:

„Ich bin immer aufrichtig hier an diesem Ort.“

Die wunderbaren Kräfte sind also unauflösbar mit der Wahrheit Buddhas verbunden und können sich auf diese Weise entfalten.

Freitag, 14. September 2007

Die Blumen im Raum

Das Wort Ku bedeutet: Der Himmel, der Raum und häufig auch in der chinesisch-buddhistischen Philosophie die Leerheit. Fälschlicherweise wird dieser Mahayâna-Begriff der Leerheit (Shûnyatâ) als das Nichts oder die Leere interpretiert, während Meister Dogen und Meister Nishijima Shûnyatâ ihn als das buddhistische Gleichgewicht verstehen, das vor allem in der Zazen-Praxis entsteht.

Zwei Blüten der Königin der Nacht

In diesem Verständnis von Raum (Ku) ist es also abwegig, die Blumen im Raum als Phantasiegebilde des Nichts, überflüssige Illusionen und dergleichen zu bezeichnen, denn der Zustand des Gleichgewichtes ist gerade die uneingeschränkte, offene Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens und der Welt und keine spekulative Theorie des Nichts. Diese Wirklichkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass sie in ihrer ganzen Fülle und Schönheit genau so da ist, wie sie ist. Dann wird z.B. vom menschlichen Geist nichts hinzu phantasiert oder weggelassen. Man kann Shûnyatâ also so verstehen, dass es der Gleichgewichts-Zustand von Körper und Geist und das Handeln von Körper und Geist je im Augenblick ist. Dieser Zustand ist leer also frei von künstlichen Phantasiegebilden, von Bewertungen, und auch die volle Körperlichkeit und Form ist dabei einbezogen. Im Zustand des Geichgewichts von Körper und Geist vor allem im Zazen gibt es kein Denken und kein Fühlen, und dann sind wir direkt in der Wirklichkeit.
In der alten indischen Philosophie gehört der Raum zu den fünf materiellen Elementen oder Substanzen, wie Erde, Wasser, Feuer, Luft und hat daher eine sehr konkrete Bedeutung. Der Raum hat die Bezeichnung Âkâsha in Sanskrit und ist in diesem Sinne zunächst etwas ganz anderes als die Leerheit.
Der Buddhismus ist keine geistige oder verstandesmäßige Philosophie wie etwa der Idealismus im westlichen Denken, der das Körperliche und Materielle als nicht wirklich oder zumindest nicht wesentlich ablehnt. Demgegenüber kann man sagen, dass der Buddhismus zwar das Materielle einbezieht, aber den Materialismus nicht als volle Wirklichkeit und Wahrheit anerkennt, sondern ihm lediglich eine eingeschränkte Sicht- und Denkweise zuerkennt. Nishijima Roshi verwendet hierfür gerne den Begriff der Lebensphilosophie des Idealismus und Materialismus, die nur Teilwahrheiten sind.

Das Kapitel "Die Blumen im Raum" (Kap. 43, Kuge) gehört zweifellos zu den großartigsten Texten im Shôbôgenzô, wie etwa „Das Streben nach der Wahrheit“ ( Kap 1, Bendowa), „Das verwirklichte Universum“ (Kap. 3, Gensho koan), „Die Sein-Zeit“ (Kap. 11, Uji) oder „Die Buddhanatur“ (Kap. 22, Bussho). Die Blumen sind im Buddhismus von großer poetischer und symbolischer Bedeutung und werden in vielen Kapiteln des Shôbôgenzô angesprochen, z.B. die Lotusblumen, die Pflaumenblüten, die Pfirsichblüten und die so genannte Udumbara-Blüte, die sehr selten blüht und nach der zenbuddhistischen Überlieferung von Gautama Buddha wortlos hochgehalten wurde und deren buddhistische Symbolkraft von Mahakashapa, dem Nachfolger von Buddha selbst, erkannte wurde, indem er lächelte. Damit wurde er der authentische Nachfolger von Gautama Buddha.

Dôgen gibt in diesem Kapitel mehrere überlieferte Sätze und Gedichte der großen Meister zum Thema der Blumen und insbesondere der Blumen im Raum wieder. Zunächst lässt er den großen Vorfahren, Bodhidharma, also den ersten Zen-Meister in China, zu Wort kommen:

"Eine Blüte öffnet ihre fünf Blütenblätter
und ihre Früchte reifen von selbst, auf natürliche Weise."

Die Blüte wird symbolisch als die Lehre des Buddha-Dharma verstanden, die nach China gebracht wurde und sich dort in den folgenden Jahrhunderten großartig entwickelte, also neue Blüten und Früchte trug. Durch die Blume der Buddha-Lehre werden die Täuschungen und Illusionen überwunden, so dass die ursprüngliche Wirklichkeit und Wahrheit zum Vorschein kam.
Eine solche Befreiung durch den Buddha-Dharma wird als natürlich bezeichnet, während die Illusion und Täuschungen aber auch die Unmoral unnatürlich sind, also dem Wesen der Menschen und des Universums überhaupt nicht entsprechen. Indem sich die Blüten mit ihren fünf Blütenblättern öffnen, geht auch die Buddha-Lehre auf und entfaltet ihre wunderbare Kraft und Schönheit. Es handelt sich also um den Vorgang des Öffnens und nicht um einen starren Zustand. Denn nach buddhistischer Lehre gibt es keine Wahrheit ohne Handeln und Geschehen-Lassen. Genau in dem Augenblick, wenn sich die Blüte öffnet, blüht also auch der Buddha-Dharma und entwickelt seine Schönheit und Energie.
Dôgen sagt in diesem Zusammenhang:

"Beispielsweise sind der Ort und die Zeit, wenn die blaue Lotusblume sich öffnet und entfaltet, wie das Innere und die Zeit des Feuers".

Was bedeutet nun dieser geheimnisvolle Satz? Wir können ihn so verstehen, dass der blaue Lotus, die Klarheit und Schönheit, aber auch die angenehme Kühle des Buddha-Dharma im heißen indischen und chinesischen Sommer bedeutet und dass das Feuer einerseits das konkrete materielle Element ist und andererseits die Hitze des Sommers in Indien symbolisiert, in der man nach Kühle sucht. Ohne die Buddha-Lehre, die hier mit dem blauen Lotus und dem Feuer gleichgesetzt wird, gäbe es überhaupt keine Wirklichkeit in der Welt. Das alles findet je im Augenblick und hier und jetzt statt und ist wie ein Funkeln in der Gegenwart. Die Lotusblume öffnet sich so real und ist so wirklich wie der Raum, das Feuer und die Erde. Ein alter Meister sagt daher:

"Blaue Lotusblumen öffnen sich im Feuer".

Wie erwähnt ist das Feuer eines der materiellen Elemente in der indischen und buddhistischen Lehre und symbolisiert daher etwas ganz Konkretes und Wirkliches. Aber diese nur materielle Sicht der Welt wird durch die buddhistische Lehre überschritten, da sie nur eine Teilwahrheit wäre und nicht die ganze Wirklichkeit umfasst. Diese wird durch den blauen Lotus im Feuer beschrieben und damit die umfassende buddhistische Wahrheit und die Wirklichkeit angesprochen. Denn Buddhismus ist Realismus, aber auf keinen Fall Materialismus. Es wird deutlich, dass hier aber auch die falsche Sichtweise und das falsche Verständnis abgelehnt werden, dass die Blumen Symbole für unnütze Phantasiegebilde und Illusionen sind. Die Schönheit der Blumen ist im Buddhismus keine Illusion und keine Träumerei, sondern die Wirklichkeit des Lebens und des Universums selbst.
Dies wird vor allem im Lotus-Sutra beschrieben, das von Dôgen im Shôbôgenzô durch das Kapitel: "Die Dharma-Blume dreht die Blume des Dharma" (Kap. 17, Hokke ten hokke) in neuer und großartiger Klarheit und Tiefenschärfe ausgebreitet wird.
Wenn sich die Blüten öffnen und ihre Schönheit entfalten und offenbaren, entsteht je die Welt, das Leben und das Universum, während nach buddhistischer Lehre z.B. das Unrecht durch die Menschen künstlich selbst erzeugt wird und im Universum eigentlich überhaupt nicht vorhanden ist. Im Lotus-Sutra werden Bäume aus Gold, aus Silber, als Korallen und Kristalle beschrieben, die Blumen tragen und Blüten auf die Menschen herab regnen lassen.
Damit ist symbolisch ebenfalls die Buddha-Lehre gemeint und dies ist keinesfalls abstrakte Theorie und Spekulation.
Die Blumen blühen z.B. im Frühling und der wirkliche Frühling entsteht eigentlich erst durch die Blumen. Die Früchte reifen im Herbst, und sie sind die konkrete Wirklichkeit des Herbstes. Frühling und Herbst sind zunächst allgemeine Begriffe und Abstraktionen für die Kommunikation, aber das Blühen der Blumen und das Reifen der Früchte sind die wahre Wirklichkeit des Hier und Jetzt und des Augenblicks im Erleben und Erfahrens und damit die buddhistische Sein-Zeit. Die wirklichen Bäume setzen sich aus den materiellen Elementen Erde, Wasser, Feuer, Wind und Raum zusammen und haben ihre Blüten und ihre Früchte. Diese wirklichen Blüten blühen also im Raum und sind keinesfalls Phantasiegebilde und der Inhalt von Träumen. So sind die Blumen des Raumes und die Blumen der Erde und überhaupt die Blumen dieser Welt das Sûtra des Buddha-Dharma:

"Weil die Blumen im Raum das Fahrzeug der Buddhas und Vorfahren im Dharma sind, sind auch die Buddha-Welt und die Lehre aller Buddhas nichts anderes als Blumen im Raum".

Daraus wird auch deutlich, dass die im Buddhismus fälschlich vertretene Meinung, nur die „umwölkten Augen“ würden Blüten im Raum sehen, wo überhaupt keine sind, falsch ist. Die Blüten im Raum würden dann mit Phantasiegebilden und Illusionen verwechselt, die durch einen unklaren Geist und unklare Augen erst entstehen und eigentlich gar nicht vorhanden sind. Eine solche falsche Sichtweise unterstellt, dass der Raum erst dann klar und rein ist, wenn die Phantasie-Blumen verschwunden seien. Die Augen würden also etwas vortäuschen, was in Wirklichkeit nicht vorhanden ist.



Der Begriff "umwölkte Augen" hat jedoch im Buddha-Dharma bei Dogen nicht die Bedeutung, dass man etwas sieht, was in Wirklichkeit nicht vorhanden ist oder was man nur unklar erkennen kann, obgleich es ganz klar erkannt werden könnte. Er bedeutet vielmehr, dass das wahre Sehen über die materialistisch eingeengte Sichtweise des Äußeren hinausgeht und dass man nicht am Materiellen und der äußeren Form hängen bleibt sondern zum Augenblick, zum Handeln und zur Buddha-Wahrheit selbst vordringt. Dann werden sozusagen die verengten Augen, die nur das Äußerliche sehen, überschritten und die Blumen im Raum enthüllen die wahre Lehre des Buddha-Dharma. Das Gleiche gilt für Gedanken und das Denken. Meister Nishijima interpretiert dies so, dass in diesem Kapitel die Wirklichkeit und Wahrheit der sinnlichen Wahrnehmung und des Denkens herausgearbeitet werden. Vor allem durch die Praxis des Zazen wird die Realität dieser beiden Lebensbereiche ermöglicht. Weder das Denken noch die Wahrnehmung verlieren sich dann in unwirklichen Fantasie-Welten.

Sie werden dann ganz real mit ihren Blütenblättern, ihrem Stempel und ihren Staubgefässen wahrgenommen, wachsen aber nicht zuletzt durch ihre Schönheit und Form und Farbe „über sich selbst hinaus“, und öffnen dadurch die wahre Lehre des Buddhismus. Es ist ein Irrweg daran zu arbeiten, dass die Blumen im Raum und auf der Erde verschwinden sollen und sogar behauptet wird, dass dies die wahre Buddha-Lehre sei. Welche Wirklichkeit gibt es denn überhaupt, wenn die wirklichen Blumen verschwinden und man sich aus der Realität der Welt verabschiedet, um in irgendwelchen Leerheiten zu schwelgen? Die Blumen im Raum stehen damit nicht nur für reale Dinge mit Form und Farbe, sondern auch für die buddhistische Lehre und für den Augenblick im Hier und Jetzt. Sie entstehen nicht künstlich durch die Begrenztheit des umwölkten Blickes, sondern sie gehen über eine enge materialistische Sicht hinaus, denn die Lehre selbst wird als Buddha-Dharma und als Dharma-Blume erfahren und praktiziert. Dôgen sagt hierzu:

"Ihr solltet wissen, dass ein Mensch mit umwölktem Blick auf dem Buddha-Weg und ein Mensch des angeborenen Erwachens ist".

Die hier gemeinte Umwölkung bedeutet also nicht, dass es sich um Täuschungen handelt, sondern gerade das Gegenteil, dass die enge materielle Wahrnehmung überschritten wird und den Blick für die Wahrheit des Buddha-Dharma öffnet. Da alle Dharmas wirklich sind, sind auch die Blumen der so verstandenen Umwölkung wirklich. Es geht also um wirkliche Blumen, den wirklichen Raum, die wirklichen Augen, die mehr als das Materielle sehen und den Augenblick des Buddha-Dharma. Die wirklichen Blumen gehen auch über den Begriff und die Vorstellung der Blumen hinaus, so dass man sagen kann, dass die gedachten und gesagten Blumen nicht wirklich sind, aber die Blumen im Raum selbst Wirklichkeit haben. Die Aprikosenblüten gibt es nur auf Aprikosenbäumen und die Pflaumenblüten gibt es nur auf Pflaumenbäumen. Blühende Weiden-Kätzchen gibt es nur auf Weidenbäumen oder Weidenbüschen, und wenn die Blüten wirklich aufgehen und blühen, ist die Sein-Zeit des Frühlings.

Durch diese Ausdrucksweise wird deutlich, dass der Buddhismus die wunderbare Wirklichkeit zum Inhalt hat. Dass er also, wie Nishijima Roshi immer wieder betont, Realismus ist und dass Idealismus und Materialismus nur eine begrenzte Sicht- und Denkweise der umfassenden Buddha-Wahrheit sind. Diese beiden Sichtweisen werden aber nicht abgelehnt, sondern als Teil-Sichten erkannt und damit relativiert. Dôgen empfiehlt uns dringend, die Blumen und Blüten ganz genau zu betrachten, zu erforschen und zu erfahren und sagt, dass es eine große Vielfalt von ihnen gibt. Spitzfindige philosophische Diskussionen über die Existenz oder Nicht-Existenz der Blumen im Raum führen also überhaupt nicht weiter und sind oft verschwendete Zeit.

Es wird dann im Shôbôgenzô ein tiefgründiges Gedicht wiedergegeben, das von einem Laienschüler und Mandarin verfasst wurde, als er zur buddhistischen Wahrheit erwachte. Der zweite Teil dieses Gedichtes lautet wie folgt.

"Die Hindernisse (auf dem Budda-Weg) zu bekämpfen,
Verschlimmert die Krankheit.
Sich der Wahrheit willentlich zu näher,
Ist ebenso falsch.
(Auf dem Buddha-Weg) ist es nicht hinderlich, sich den Gegebenheiten der Welt anzupassen.
Das Nirvana, Leben und Sterben
Sind die Blumen im Raum.“


Unklarheiten, Täuschungen und Illusionen können danach nicht durch eine bewusste Willensentscheidung des Geistes überwunden werden, sondern sie verhärten sich im Gegenteil dadurch und wirken als Hindernisse und Beschränkungen. Sich der Wahrheit, also der Erleuchtung, mit vorgefasstem Willen nähern zu wollen, ist ebenfalls nicht sinnvoll und zum Scheitern verurteilt. Dies bedeutet, dass man z. B. nicht Zazen praktizieren mit dem Willen soll, ein Buddha zu werden. Die erste Erleuchtung der Zazen-Praxis ereignet sich nur dann wenn man die richtige Haltung einnimmt und Gedanken, Vorstellungen und Gefühle verschwinden. Besonders wenn man mit eigennützigen Absichten meditiert, kann dies bestenfalls kurzfristig sinnvoll und "erfolgreich" sein. Durch das Praktizieren und Leben des Buddha-Dharma lösen sich Täuschungen, Selbsttäuschungen und Vorurteile wie von selbst auf, und man befreit sich einfach von ihnen.

In diesem Gedicht wird nichts anderes gesagt, als dass der bewusste willentliche Kampf gegen die Hindernisse und Begrenzung im Geist nicht nur sinnlos ist, sondern das Gegenteil bewirkt und die Täuschungen verhärtet und verschlimmert. Indem man sich den Gesetzen des Universum und der Moral auf natürliche Weise anvertraut und mit ihnen verschmilzt, werden die früheren Hindernisse aufgelöst und haben keine Kraft mehr. Dann kann man auch mit den Augen die Wirklichkeit selbst sehen und dies wird in dem Gedicht so beschrieben, dass Nirvana, Leben und Sterben die Blumen im Raum sind. Nirvana wird hier nicht als ein erträumter Zustand in einem zukünftigen Dasein verstanden, sondern als Erwachen in diesem jetzigen Leben selbst. Der Durchbruch zur Wirklichkeit wird mit den Blumen im Raum gleichgesetzt und es wird als völlig falsch bezeichnet, dass die Blumen im Raum Illusionen sein und verschwinden, wenn die so genannte Leerheit erreicht ist. Dôgen sagt hierzu:

"(Die drei Welten) sind die wirkliche Form aller Dharmas und sie sind die Blumenform aller Dharmas".

Er sagt weiter, dass die Blumen und ihre Früchte im Raum genauso wirklich sind, wie die Blüten der Bäume von Aprikosen, Weiden, Pfirsichen und Pflaumen und dass wir dies nicht nur theoretisch verstehen sollten, sondern wirklich erfahren und erforschen.
Nishijima Roshi sieht in diesem Gedicht auch den Schlüssel zur Kontrolle sexueller Gier: Nicht der Kampf gegen die Gier führt zur Lösung, sondern die buddhistische Übungspraxis führt zur Wirklichkeit und damit zur Befreiung von den Zwängen sexueller Illusionen und Tagträume.
Man muss sich auch von dem vereinfachen Verständnis lösen, dass die Blumen und Augen etwas Getrenntes und voneinander Unabhängiges sind. Ein solcher Dualismus kann die Wahrheit der Blumen im Raum nicht erfassen, weil er eine eingeengte Wahrnehmung ist und die gedachte Trennung von Ich als Subjekt und Blume als Objekt beinhaltet. Daher sagt Dôgen:

"Dort wo der Ort und die Zeit solcher Augen sind, sind immer die Blumen im Raum und die Blumen in den Augen. Wir nennen die Blumen im Raum auch die Blumen in den Augen".

Am Ende des Kapitels gibt Dôgen die Aussage eines berühmten Meisters wieder, die er außerordentlich schätzte und mit der voll übereinstimmte:

"Die Blumen im Raum entfalten sich aus der Erde, es gibt (kein Hindernis und) kein Tor, ganz gleich wo Du (sie besorgen und) kaufen würdest".

Durch den Begriff der „Erde“ wird jeder Spekulation von der Leerheit, die leider oft so verstanden wurde, dass es überhaupt keine Wirklichkeit und Existenz gibt, völlig der Boden entzogen. So bedeutet Raum nach Dôgen gerade die konkrete Wirklichkeit und nicht spekulative Phantasie. Die Blumen im Raum sind gleichzeitig Schönheit und Wirklichkeit, die es überall im Hier und Jetzt und im ganzen realen Land gibt. Der Begriff des „Tores“ wird im Zen-Buddhismus dafür verwendet, dass es kein Hindernis oder, wie wir wohl sagen würden, kein Nadelöhr gibt, durch das man sich mit Gewalt hindurch zwängen muss, um zur Freiheit und Wahrheit vorzustoßen. Im Buddhismus vertrauen wir darauf, dass sich die Hindernisse und beengenden Schein-Tore auf natürliche Weise auflösen und überhaupt nicht mehr vorhanden sind und dass Blumen keine eingebildeten Phantasien sind, sondern ihre Schönheit und Wahrheit je im Hier und Jetzt offenbaren. Die Blumen im Raum gibt es also überall, je an diesem Ort und in dieser Zeit.

Weitere Informationen:

Der Buddhismus ist die Lehre von der Wirklichkeit

Handeln im Buddhismus

Ein Gespräch zum Streben nach der Wahrheit

Das Geheimnis der Buddha-Natur

Die Dharmablume dreht die Blume des Dharma