Sonntag, 26. September 2010

Kōan-Gespräch zur konkreten Wirklichkeit, Teil 1


Zum Schluss des Kapitels Genjo kōan erzählt Dōgen eine Kōan-Geschichte: Weil es sehr heiß ist, fächelt sich der alte Meister Hotetsu Luft zur Kühlung zu, als ein Mönch vorbeikommt und offensichtlich eine intelligente Bemerkung anbringen will, um sein Wissen einzubringen.
Er sagt, die Luft habe die Eigenschaft, überall anwesend zu sein. Dem Meister ist intuitiv sofort klar, dass dieser Mönch abstrakten, allgemeinen Gedankengängen verhaftet und nicht offen für das praktische und konkrete Hier und Jetzt ist. Dass es heiß ist, erscheint ihm sicher zu banal, denn er ist tief von seiner eigenen großartigen Intelligenz und seinem Wissen der Buddha-Lehre überzeugt. Er denkt vielleicht, dass die Luft schon beim Meister da ist und deshalb keine zusätzliche Luft durch das Fächeln hinbewegt werden muss.
Auf die dann folgende Frage des Mönchs, warum sich der Meister denn die Luft zufächle, wenn die Luft überall anwesend ist, antwortet dieser daher einfach, es gebe in der Tat keinen Ort in der Welt, an dem keine Luft vorhanden sei. Dies entspricht inhaltlich genau der Aussage, die der Mönch zuvor verkündet hatte.
Durch diese eigentlich logisch überflüssige Wiederholung seiner eigenen Aussage wird dem Mönch jedoch schlagartig klar, dass allgemeine theoretische Kenntnisse und angelernte, sogenannte Weisheiten etwas ganz anderes als die Wirklichkeit selbst sind, die man unmittelbar erlebt und erfährt. Wenn einem zu heiß ist, sollte man sich durch den Fächer Kühlung verschaffen, wobei man direkt die kühlende Luft erfährt – und genau das ist die Wirklichkeit.
Was nützt dabei das erlernte Wissen, dass die Luft schon überall anwesend ist? Dadurch erfährt man keine Kühlung, sondern schwitzt wegen der stillstehenden heißen Luft. Deshalb setzt der Meister die Unterhaltung mit dem Mönch auch nicht fort, sondern fächelt sich einfach weiterhin die kühlende Luft zu.
Die Aussage des Mönchs, dass die Luft überall anwesend sei, hat in der Tat für die konkrete Situation des Meisters überhaupt keine Relevanz, denn es geht um die Kühlung und um die Bewegung der Luft und nicht um die Tatsache, dass sie vorhanden ist. Der Mönch hat also zunächst weder die Situation des Meisters noch dessen Handeln als angemessen erkannt. Doch angesichts dieses wortlosen Handelns gelangt der Mönch zur Wirklichkeit des Hier und Jetzt. Er macht als Dank eine Niederwerfung. Dadurch erfahren sein Körper und Geist eine ganz neue, frische Kraft

Mittwoch, 15. September 2010

Wie genau können wir die Wirklichkeit erkennen?



Das im Zen beschriebene umfassende und intuitive Wissen geht über das einfache Sehen und naive Denken hinaus. Das Nachdenken und Erinnern über dieses Wissen ist von der Verwirklichung selbst getrennt. Der Ort und der Weg der Verwirklichung existieren nach Dōgen genau in diesem Zustand und dem Augenblick. Hiermit sind wohl die Zazen-Praxis und die damit verbundene erste Erleuchtung gemeint.

Eine solche Verwirklichung ist nicht unbedingt offensichtlich und nicht in aller logischen Schärfe zu erkennen. Er führt das darauf zurück, dass das Wissen und die Erkenntnis im selben Augenblick wie die Verwirklichung des Handelns vor sich gehen. Beides kann also nicht voneinander getrennt werden. Erst später ist es möglich, mit dem Verstand die vergangene Situation zu analysieren und eventuell sogar mit Worten zu beschreiben. Dies ist aber nicht der Augenblick der Wirklichkeit selbst.

Gegen Ende des Kapitels Genjo kōan warnt Dōgen vor dem falschen Ziel, alles solle für den Verstand und das Bewusstsein vollkommen klar sein:
Geht nicht davon aus, dass das, was erlangt ist, zwangsläufig für das Selbst vollkommen bewusst ist und durch den Intellekt erkannt wird.“
Diese zentrale Aussage formuliert Nishijima Roshi im selben Sinne und er fügt hinzu, dass intellektuelle und vom Verstand geleitete Menschen zu der Ansicht neigen, das erlangte Erwachen müsse auf jeden Fall dem eigenen Ich voll bewusst sein und es müsse durch den Verstand und Intellekt vollständig erkannt werden.

„Die Erfahrung des höchsten Zustandes wird sofort im Augenblick verwirklicht. Gleichzeitig ist ihre geheimnisvolle Existenz nicht notwendigerweise eine manifeste Verwirklichung. Die Verwirklichung ist selbst ein Zustand, der nicht ein-eindeutig ist (also eher einer Frage gleicht).“
Aufgrund seiner eigenen tiefen Erfahrung der Erleuchtung und der Verwirklichung ermahnt uns Dōgen, dass wir uns keine Illusionen darüber machen dürfen, dass die Verwirklichung logisch klar und eindeutig erfasst werden könne. Es bleibe immer ein Bereich des Geheimnisses und des Unfassbaren bestehen. Ich möchte hinzufügen des Göttlichen.

Wir haben zwar eine intuitive, gewisse Klarheit, wenn der Zustand der Verwirklichung unmittelbar und je im Augenblick da ist. Eine nachträgliche Reflexion über diesen Zustand kann aber auch keine logische Eindeutigkeit und Wahrheit ergeben, sondern ist im Gegensatz zur Verwirklichung selbst nur die Erinnerung an diesen Zustand und diesen Augenblick, weshalb diese Sichtweise wesentlich verengt ist.

Donnerstag, 9. September 2010

Die buddhistische Wahrheit

Dôgen sagt: „Wenn ein Mensch Buddhas Wahrheit in diesem Zustand (der Wahrheit) praktiziert und erfährt, bedeutet dies, einen Dharma zu erlangen und diesen einen Dharma zu durchdringen. (Es bedeutet) einer Handlung zu begegnen und diese eine Handlung zu vollenden.“

Nach meinem Verständnis möchte Dōgen hiermit auf die konkreten Einzelheiten der Dinge und Phänomene und vor allem auf das konkrete Handeln, also die einzelnen Handlungen selbst, hinweisen; dies ist ein typischer Zen-buddhistischer Ansatz. Wenn man nämlich zu sehr in spirituelle Allgemeinheiten abschweift, besteht die Gefahr, dass man die konkrete Wirklichkeit im Hier und Jetzt übersieht oder nur oberflächlich erfährt.

Handeln muss mit Genauigkeit, Können und vollständiger Offenheit für das Tun im Augenblick vollzogen werden. Hochgesteckte spirituelle Ziele und Sehnsüchte können aber gerade genau diese Gegenwärtigkeit im Hier und Jetzt verhindern. Dann wird das Tun und Handeln ungenau oder, wenn man so will, unkonzentriert. Ein solches Verhalten entspricht nicht der Lehre des Zen-Buddhismus und auch nicht der Gautama Buddhas.

Nishijima Roshi ergänzt hierzu, dass ein Mensch Buddhas Wahrheit versteht, wenn er ihr begegnet, und sie erfährt, wenn er sie praktiziert. Dies ereigne sich im gegenwärtigen Augenblick und damit würden wir einer Handlung wirklich begegnen. Mit der großen buddhistischen Wahrheit sei gemeint, Zazen zu praktizieren und zu erfahren.
Dôgen fährt fort: „In diesem Zustand existiert der (wahre) Ort und der Weg wird gemeistert, und daher ist der (nur mit dem Verstand) erkennbare Bereich nicht deutlich zu sehen. Der Grund dafür liegt darin, dass das Wissen und die vollständige Verwirklichung des Buddha-Dharma zusammen erscheinen und zusammen erfahren werden.“

Nishijima Roshi erläutert diese Überlegungen: „Im Zustand des Gleichgewichts existiert der Ort wirklich und der Weg wird richtig gemeistert. Aber der Grund, warum wir dies mit dem Denken nicht so klar erkennen, liegt darin, dass diese Erkenntnis und die buddhistische Verwirklichung sich in genau derselben Zeit (im Augenblick) ereignen, und sie sind (nur) zusammen dieselbe Erfahrung.“

Das Erkennen des wahren Ortes und das Handeln würden sich genau in demselben Augenblick ereignen. Dies ist die Verwirklichung des ganzen Universums und beides ist eine unauflösbare Einheit. Das unterscheidende Denken wäre dabei auch viel zu langsam.

Mittwoch, 1. September 2010

Fortsetzung: Handeln und Verwirklichung


Dōgen bringt die Frage der Verwirklichung auf den Punkt:

Wenn wir diesen (wahren) Ort finden, ist dieses Handeln ohne Zweifel als Universum verwirklicht. Wenn wir diesen Weg finden, ist dieses Handeln ohne Zweifel das verwirklichte Universum (selbst).“

Nishijima Roshis Kommentar dazu erleichtert uns das Verständnis von Dōgens Worten: #

„Wir können daher sagen, dass wir das Universum verwirklichen können, wenn wir etwas wirklich tun und genau so handeln.“

Mit dieser Aussage wird das Thema dieses wichtigen Kapitels wieder aufgegriffen und klargestellt, auf welche Weise wir unser Leben und das Universum verwirklichen. Durch Denken allein ist dies nicht möglich, sondern durch Handeln. Dieses Handeln muss sich im Gleichgewicht vollziehen, damit es die Verwirklichung unseres wahren Selbst ermöglicht. Zwei zentrale Punkte muss man sich dabei vor Augen halten.

Zum einen: Nach der buddhistischen Lehre kann und darf die Ethik im Handeln niemals ausgeklammert werden. Zum anderen: Selbstsucht macht die Verwirklichung unmöglich. Dōgen zitiert im Kapitel zur Buddha-Natur den indischen Meister Nāgārjuna, der lehrt, dass wir die Buddha-Natur nicht erfahren können, wenn wir vom Ich-Stolz geprägt sind. Das von Stolz aufgeblähte kleine Ego verhindert, dass wir zur Wirklichkeit gelangen, die sogar mit der Buddha-Natur gleichgesetzt wird. Die Buddha-Natur realisiert sich im ethischen Handeln und nicht im Denken.

Daher können wir mit Nishijima Roshi sagen, dass zuerst das Handeln existiert und dass dies die Grundlage des Lebens und der Welt darstellt. Dadurch wird der Dualismus zwischen Subjekt und Objekt sowie dem Selbst und dem Universum überwunden.

Dōgen weist dann noch einmal darauf hin, dass der Ort und der Weg des Handelns nicht mit messenden Begriffen wie groß oder klein gekennzeichnet werden können, sie seien ungeeignet für die Beschreibung des verwirklichten Universums. Und Begriffe wie subjektiv oder objektiv seien ebenso unzureichend wie zeitliche Angaben über die erinnerte Vergangenheit. Auch das Erscheinen als zeitlicher Prozess entspreche nicht dem Zustand der Verwirklichung, sondern es gehe allein um die Wirklichkeit des gegenwärtigen Jetzt.