Freitag, 28. Dezember 2007

Die Wahrheit mit Körper und Geist erlernen

In diesem kurzen, aber wichtigen Kapitel des Shôbôgenzô (Kap. 37 Shinjin gakudô) fasst Meister Dôgen wesentliche Aussagen zusammen, die zum Teil schon in anderen Kapiteln genauer und im Einzelnen erläutert wurden.


Tempelanlage in Kamakura


Die Überschrift dieses Kapitels besagt, dass man nach der buddhistischen Lehre die Wahrheit und Befreiung nur dadurch erlernen kann, wenn man sowohl den Geist als auch den Körper schult und sich immer klar darüber ist, dass beide in der Wirklichkeit unauflösbar zusammengehören und eine Einheit bilden.

Während wir in der westlichen Philosophie den Intellekt und Geist meist völlig losgelöst vom Körper des Menschen behandeln, wird eine solche Trennung im Buddhismus als sinnlos rundweg abgelehnt. Wenn Meister Dôgen in diesem Kapitel zunächst den Lernvorgang des Geistes und dann den des Körpers behandelt, hat dies lediglich didaktische Gründe, um die jeweiligen Bereiche möglichst klar darstellen zu können. Die Lehre vom Handeln und Tun hat im Buddhismus eine sehr große Bedeutung und ist für den Befreiungs- und Lernprozess auf dem Buddha-Weg notwendig. Zum Handeln gehören auch immer sowohl der Geist als auch der Körper.

Dôgen stellt an den Anfang seiner Überlegungen unseren klaren Entschluss, dass wir den Buddha-Weg gehen wollen oder, wie es in einem anderen Kapitel heißt, dass wir den "Bodhi-Geist" bei uns erwecken. Auch in den vier edlen Wahrheiten und dem achtfachen Pfad steht am Anfang der Entschluss und die klare Entscheidung, diesen Weg zu gehen, um das Leiden zu überwinden. Dôgen sagt hierzu:

"Wenn ihr euch nicht entschließen könnt die Wahrheit zu erlernen, entfernt sie sich immer mehr von euch."

Er betont damit, dass man durch diesen Entschluss zwar noch nicht zur Wahrheit selbst erwacht, aber dass man ohne eine solche Entscheidung sich in seinem Leben immer mehr verirrt und sich z. B. im Materialismus verliert. Wesentlicher Teil dieses Wahrheitsweges ist moralisches Denken und Handeln und Dôgen zitiert hierzu Zenmeister Nangaku:

"Es gibt die Praxis und es gibt die Erfahrung, aber wenn sie nicht rein sind, kann man (die Wahrheit) nicht verwirklichen."


Die Moral darf natürlich nicht im Denken und bei den Ideen stecken bleiben, sondern muss in Handeln umgesetzt und im Hier und Jetzt verwirklicht werden. Gleichwohl ist der Entschluss zum moralischen Handeln zunächst im Geist und Willen angesiedelt und dies ist dann der Start für ein Leben auf dem Buddha-Weg.
Dôgen geht auf verschiedene Arten des Geistes ein, die nicht zuletzt aus der altindischen Buddha-Lehre in China übernommen wurden: z. B. citta ist Vernunft und Intellekt; hridaya ist das "denkende Herz", in dem Gefühle und mentale Aktivitäten zusammengefasst sind und vriddha ist der konzentrierte und ausgeglichene Geist. Dôgen warnt uns jedoch, dass wir dies rein theoretisch verstehen sollen, sondern sagt:

"Dann erlernt und erforscht ihr sie im tätigen Handeln, das selbst das Erwachen des Bodhi-Geistes ist."

Weiter führt er aus, dass es auf die Gegenwart und den Augenblick beim geistigen Handeln ankommt, wie dies in dem großen Kapitel Sein-Zeit (Uji) von ihm in großartiger Weise dargelegt wird. Der Lernvorgang im Geist soll dabei den Intellekt überschreiten und Dôgen sagt, dass man sowohl durch das Denken als auch durch das Nicht-Denken üben soll. Damit ist zweifellos die Zazen-Praxis angesprochen, die im Shôbôgenzô von zentraler Bedeutung ist. Die Verbindung vom Meister zum Schüler, der dann selbst Meister wird, hat außerdem eine fundamentale Bedeutung, und Dôgen spricht davon, dass dabei „der Geist durch den Geist lernt", dass also der Geist des zukünftigen Meisters von dem des vorherigen im direkten ganzheitlichen Kontakt den geistigen Lernprozess voranbringt und damit das Dharmad-Rad dreht.

Dôgens umfassende Vorstellung vom Geist und der Einheit mit der konkreten Realität wird dadurch deutlich, dass er Berge, Flüsse, die große Erde, Sonne und Mond einbezieht und sich dies alles je im gegenwärtigen Augenblick verwirklicht. Er übersteigt dabei die materielle Sichtweise der äußeren Form, die sich leicht bei den Begriffen "Berg" oder "Fluss" einschleicht. Daher sind geometrische Bezeichnungen wie Innen oder Außen, Groß oder Klein und dergleichen ungeeignet, um diese Einheit von Geist und konkreter Wirklichkeit zu erfassen. Bemerkenswert ist auch sein folgender Satz:

"Ihr solltet deshalb fest darauf vertrauen und annehmen, dass dieser Geist sich auf natürliche Weise von selbst daran gewöhnt, die Wahrheit zu erlernen. Dies nennen wir das Erlernen der Wahrheit mit dem Geist."

Daraus wird sein tiefe Vertrauen zum Buddhismus sichtbar, dass es sich um einen natürlichen Lernvorgang handelt, wenn man auf dem Buddha-Weg das Erwachen oder die Erleuchtung und Befreiung erlebt. Aber nicht eine gewaltige Willensanstrengung ist maßgebend, sondern das dauernde Üben als Handeln selbst, also die Zazen-Praxis als vollkommenes Tun im halben oder ganzen Lotussitz und damit im Gleichgewicht. Das Erwachen ist deshalb auch kein „übernatürlicher“ Vorgang, sondern gerade im Gegenteil, etwas Natürliches, das sich allerdings nach Dôgen nicht ohne Übung und Praxis verwirklichen kann.

Nishijima Roshi empfiehlt in diesem Zusammenhang jedem, zweimal am Tag Zazen zu praktizieren und sich keine Sorgen darum zu machen, ob dies zur Erleuchtung führt oder nicht. Er sagt schlicht, die richtige Zazen-Praxis ist bereits die erste Erleuchtung und es gibt keinen Unterschied zwischen Handeln und einem Ziel, das erreicht werden soll.
Neben der Zazen-Praxis ist das Handeln im Alltag mit den Pflichten und Aufgaben des Menschen ein wesentlicher Teil des Buddha-Weges und des Erlernens der Wahrheit mit dem Geist. Dabei darf man sich nicht entmutigen lassen, wenn es Rückschläge gibt oder wenn der Lernprozess "in Stücke zerfällt", sondern man soll vertrauensvoll in den jeweiligen Situationen seines Lebens nach der Buddha-Lehre handeln. Auch der Angst besetzte Gedanke an den kommenden Tod führt überhaupt nicht weiter, sondern wirkt meist wie ein Hindernis für das Handeln im gegenwärtigen Augenblick, denn das Leben gehört dem Leben und nicht dem Tod.
Im Zen-Buddhismus wird immer wieder die Einheit mit der uns umgebenden konkreten Realität betont. Dôgen zitiert hierzu einen großen Landesmeister, der von einem Mönch gefragt wird:

"Was ist der Geist der ewigen Buddhas?" und er antwortet:
"die Zäune, die Mauern, die Ziegel und die Kieselsteine."

Dies sei nach Dôgen der richtige Weg, um den Geist für die Wahrheit zu schulen und nicht in intellektuelle Spekulationen abzugleiten, sondern es geht um den ausgeglichenen natürlichen Geist in dieser Welt. Er sagt:

"Die Worte sind im Gleichgewicht, der Geist ist im Gleichgewicht und die Welt ist im Gleichgewicht."

Damit ist der erwachte Zustand des Handelns im Hier und Jetzt gemeint, der im Einzelnen in dem großen Kapitel "Das verwirklichte Universum" (Kap. 3, Genjo kôan) dargestellt wird.
Dôgen geht dann auf den Lernvorgang mit dem Körper ein und bezieht sich ganz konkret auf unseren jetzigen Körper, den wir je haben. Das Körperliche ist unverzichtbar für den buddhistischen Weg und wird als wertvoll und äußerst wichtig gesehen. Hierin unterscheidet sich der Buddhismus wie erwähnt von der westlichen Philosophie und auch von vielen Religionen. Dôgen lehnt materialistische und naturalistische Strömungen ab, die den Genuss mit dem Körper in den Mittelpunkt stellen und behaupten, dass es keiner Übung und keines Lernvorganges bedarf, weil man von Natur aus schon rein und frei sei. Dies ist mit der moralischen Lehre und dem moralischen Handeln im Buddhismus überhaupt nicht vereinbar. An anderer Stelle beschreibt Dôgen, dass "der Körper Nagarjunas die Rundheit des Mondes und die Buddhanatur" ist. Der Körper offenbart also den Buddha-Dharma sozusagen parallel zur Sprache der Lehrrede. Es gibt einige Geschichten von großen Meistern, die allein durch Handeln des Körpers ein Sutra für andere vortragen, ohne es im herkömmlichen Sinn zu lesen. Die helfenden Bodhisattvas werden so beschrieben, dass sie jeweils einen Körper annehmen, der für die Hilfe der anderen richtig und nützlich ist, und hiermit wird der Körper in den Dienst des Bodhisattva-Handelns gestellt. Der Lernvorgang zur Wahrheit soll mit dem ganzen Körper vollzogen werden und dies überschreitet die Selbstsucht des Ich. Nach buddhistischer Vorstellung besteht der Körper aus den vier materiellen Elementen Erde, Feuer, Wasser, Luft und aus den fünf Komponenten (Skanda). Dôgen sagt hierzu:

"Dies ist die Wahrheit, dass der wahre Körper des Menschen das ganze Universum der zehn Richtungen ist."

Mit dem Körper handelt man selbst aktiv oder lässt etwas geschehen, das in die Umgebung und Situation eingebettet ist. Im Handeln selbst liegt die Wirklichkeit und Wahrheit und man sollte sich vor Bewertungen wie Richtig oder Falsch, Echt oder Unecht, Recht oder Unrecht usw. hüten. Dôgen sagt, dass das Leben des Körpers den Tod nicht behindern soll und dass umgekehrt auch der Tod nicht das Leben behindert.
Am Ende dieses Kapitels zitiert Dôgen einen großen Meister mit folgendem Gedicht:

"Das Leben ist die Verwirklichung der Dynamik des ganzen Universums.
Der Tod ist die Verwirklichung der Dynamik des ganzen Universums.
Sie erfüllen den ganzen Raum.
Der reine Geist ist immer im Augenblick."


Diese tiefgründigen Worte sollen wir nach Dôgen gründlich erforschen und erfahren, was damit gemeint ist. Dies bezieht sich nicht zuletzt auf das tägliche Handeln jedes Menschen, der in Pflichten und Aufgaben eingebunden ist. Es bringt nichts, wenn er in idealistischen Vorstellungen von Paradies und Nirwana lebt, denn in der Wirklichkeit hat er es im Hier und Jetzt mit der ganzen Breite der Wirklichkeit zu tun. Dôgen rät uns dringend, die erlernten Theorien wieder abzuschütteln und unmittelbar im Gleichgewicht zu leben und zu handeln.

Samstag, 22. Dezember 2007

Die drei Welten der Ideen, der Formen und des Handelns sind der umfassende Geist

In diesem kurzen, aber sehr inhaltsreichen Kapitel des Shôbôgenzô (Kap. 47, Sangai yuishin) unterstreicht Meister Dôgen in aller Klarheit, dass auch die Welt der Formen und damit des Materiellen zum Geist des Buddha-Dharma gehören.

Emai Shan in China

Nach der alten indischen Tradition gliedern sich die drei Welten des Universums, also der gesamten Welt und des Lebens, in die drei Bereiche: Ideen/Denken, materielle Formen/Fühlen und die Welt der Nicht-Formen, die Dôgen als Handeln versteht. Genau genommen gibt es jedoch nur eine einzige umfassende Welt, sodass die Unterteilung in diese drei Welten lediglich erklärenden und pädagogischen Charakter hat und wie Dôgen hier ganz deutlich macht, keine Unterteilung und Trennung der Wirklichkeit selbst ist, wie dies im üblichen Sinn durch das gewöhnliche subjektive Denken suggeriert wird.

Hier geht es Dôgen vor allem um die Welt der Formen und des Materiellen und deren Einheit mit dem umfassenden Geist. Unsere Vorstellungen vom Universum, also von der sichtbaren und unsichtbaren Materie im Weltraum, hat meistens das Materielle im Auge, aber schon bei der naturwissenschaftlich nachgewiesenen Energie, die nach heutiger Kenntnis etwa Dreiviertel des Universums ausmacht, ist der Begriff der Materie nicht mehr ganz korrekt, weil Energie sich in Materie umwandeln kann. Das heißt aber nichts anderes, als dass unsere üblichen Vorstellungen von festen materiellen Dingen, aus denen die Welt angeblich besteht, nur von begrenzter Aussagekraft und eingeschränktem Wahrheitsgehalt sind.
Meister Dôgen zitiert Shakyamuni Buddha wie folgt:

"Die drei Welten sind nichts anderes als der eine Geist, neben dem Geist gibt es nichts anderes. Buddha und die Lebewesen- diese drei sind ohne Unterschied."

Wie schon in anderen Kapiteln des Shôbôgenzô darf man den Geist nicht wie in der europäischen Philosophie oder in der Umgangssprache üblich als etwas Immaterielles verstehen, dann wäre der Geist weitgehend identisch mit dem Denken und Bewusstsein, oder auch mit einem gedachten Weltgeist wie bei Hegel. Eine solche Trennung von Geist und Körper führt aus Sicht des Buddhismus in die Sackgasse, denn zur Wirklichkeit der Welt gehören nicht nur die Ideen und Vorstellungen, sondern auch die Form und Materie und das Handeln. Wenn das Gleichgewicht oder die Erleuchtung wirksam ist, eröffnet sich die Einheit dieser sog. drei Welten und genau dies ist der hier angesprochene buddhistische Geist.
Dôgen sagt hierzu:

"In diesem (obigen) einen Gedicht ist die Kraft und Anstrengung von Buddhas ganzem Leben gebündelt. Die Kraft und Anstrengung seines Lebens ist das vollkommene Ganze der Dynamik des ganzen Universums." Und weiter: "Deshalb sind die Worte des Tathagata, dass die drei Welten nichts anderes als der eine Geist sind, die ganze Verwirklichung des Tathagata (selbst); sie sind das Ganze seines Lebens und sind in diesem Gedicht zusammengefasst."

Es wird dann weiter ausgeführt, dass es außerhalb dieses Geistes, der mit den drei Welten identisch ist, nichts anderes gibt und geben kann und dass die drei Welten in der Wirklichkeit vorhanden sind, das heißt, auch die materielle Dimension ist wesentlicher Teil dieser Wirklichkeit. Um diese Lebensphilosophie der Dinge, der Vielfalt in der Welt und der Materie geht es Dôgen besonders in dem hier behandelten Kapitel. Mit dieser zweiten Lebensphilosophie der Form und Materie ist nach Nishijima Roshi die Wahrnehmung unauflösbar verbunden. Hierbei kommt dem Sehen wiederum eine große Bedeutung zu. Außerdem sind die sinnlichen Genüsse ein wichtiger Teil dieser Lebensdimension, da sie mit unseren Sinnesorganen und deren Reizungen fest verbunden sind. Der im Buddhismus hoch geschätzte mittlere Weg als Möglichkeit, das Leiden und die Katastrophen in unserem Leben entweder ganz zu vermeiden oder in der Folgewirkung wesentlich abzumindern, besteht gerade darin, dass man sich nicht den extremen Leidenschaften der Sinnesreizungen hingibt und dass man auch im Bereich der Ideen und Vorstellungen nicht zu Extremen neigt. Diese entarten nämlich oft unbemerkt und werden dann zu Ideologien, die viel Unheil bei den Menschen und in der Welt anrichten.

Die Wirklichkeit der drei Welten sehen wir "einerseits durch das alte Nest der Gewohnheiten und andererseits in jedem Augenblick frisch und neu." Im alten China wurde der Begriff "Nester" für gedankliche Verstrickungen und festgefahrene Vorstellungen verwendet, die nicht zuletzt durch Ideologien und Vorurteile bestimmt sind. Es ist ein erklärtes Ziel des Buddha-Weges, sich aus diesen Nestern zu befreien, die Verstrickungen zu lösen und abzuschütteln und daraus zu erwachen. Dabei ist die Übungspraxis des Zazen eine nach Dôgen und Nishijima Roshi eine ausgezeichnete Methode, um das Bewusstsein im Shikantaza von Gedanken und aufgeladenen Emotionen zu befreien. Dann hat man den Eindruck, dass man den Körper fallen lässt. Dadurch öffnet sich das „Tor zum Frieden und zur Freude“ der Wahrheit des Buddha-Dharma. Dôgen sagt weiter:


"Die drei Welten zu benutzen, um den (Bodhi) Geist zu erwecken und zu schulen und uns die Wahrheit und Nirwana erfahren zu lassen, ist nichts anderes als Buddhas Besitz." Dôgen zitiert dann auch Shakyamuni Buddha: "Die drei Welten hier und jetzt sind alle mein Besitz und die Lebewesen darin sind alle meine Kinder."

Mit den Kindern wird auf das Gleichnis im Lotus-Sutra hingewiesen, in dem die spielenden Kinder von dem Vater aus dem brennenden Haus gerettet werden, weil er sie überreden kann, das Haus zu verlassen und in die schön geschmückten Kutschen einzusteigen. Dies ist das Symbol für die Befreiung durch die Buddha-Lehre und es kennzeichnet die Sorgen und die Liebe des Vaters, um aus der brennenden und lodernden Welt der Extreme und Emotionen heraus zu kommen. Damit ist aber keine Weltflucht gemeint, sondern das Erwachen zur Wahrheit und Wirklichkeit in dieser Welt, die Dôgen hier als die drei Welten bezeichnet. Dôgen sagt weiter:

"Die Wirklichkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft behindert nicht das Hier und Jetzt, und das wirkliche Hier und Jetzt wird nicht durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingeschränkt."

Mit dem Hier und Jetzt ist die Sein-Zeit des Augenblicks und das Unmittelbare des hiesigen Ortes gemeint, also die existenzielle Erfahrung im Leben als direktes Handeln im Augenblick und in der Gegenwart. In diese Gegenwart wirkt zwar die Vergangenheit durch das Gesetz von Ursache und Wirkung hinein, ist aber in der ganzen intuitiven Fülle der Wirklichkeit ohne unterscheidendes Denken gegenwärtig. Die existenzielle Sein-Zeit wird als wahre Wirklichkeit nicht durch die gedachte Vergangenheit oder erwartete Zukunft behindert oder, wie es hier heißt, eingeschränkt. Dôgen legt großen Wert darauf, dass sowohl die Sein-Zeit im gegenwärtigen Augenblick existiert und dass auch das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht zuletzt beim moralischen Handeln die Wirklichkeit selbst ist. Er arbeitet in einem gesonderten Kapitel über das Gesetz von Ursache und Wirkung heraus, dass es keinesfalls vertretbar ist, dies beiseite zu lassen oder gar abzulehnen. Er distanziert sich damit eindeutig von einigen Strömungen im Zen-Buddhismus, die behaupten, dass ein Erleuchteter nicht mehr unter das Gesetz von Ursache und Wirkung fällt.

Dôgen behandelt in diesem Kapitel vor allem den an die Form gebundenen Bereich der Wirklichkeit und Nishijima Roshi ordnet es in einer Gruppe von insgesamt vier Kapiteln zu materiellen Thema zu. Dôgen sagt hierzu:

"Deshalb sind die Blüten und Früchte aller Dinge Buddhas Besitz, und die großen Felsen und kleinen Steine sind Buddhas Besitz. Es gibt das friedvolle Verweilen im Wald und in den Feldern, der Wald und die Felder sind schon frei."

Damit ist die Natur in ihrer ganzen Schönheit und Kraft angesprochen, aber nicht nur die Blumen und Bäume sondern auch die Felsen und Kiesel. In einem anderen Kapitel wird herausgearbeitet, dass die Natur den wahren Buddha-Dharma lehrt und diese Natur wird dort als "nicht empfindende Wesen" bezeichnet. Auch alle Lebewesen sind Teil der drei Welten und außerhalb dieser drei Welten gibt es nichts, denn dies wäre auch keine Wirklichkeit. So offenbaren sich die drei Welten und insbesondere die Welt der Formen und der Sinnesreizungen in diesem Sinne. Dôgen zählt hier häufig folgendes auf: Hecken, Mauern, Ziegel, Kieselsteine, Berge, Flüsse und die ganze Erde, aber vor allem geht es um


"die Haut, das Fleisch, die Knochen und das Mark und (Buddhas) Emporaliten einer Blume und (Mahakashyapas) lächelndes Gesicht."

Damit wird auf den großen Meister Bodhidharma, der den wahren Buddhismus nach China brachte, hingewiesen und auf die Symbolik des wortlosen Hochhaltens einer Blume durch Shakyamuni Buddha bei der Dharma-Übertragung auf seinen Nachfolger Mahakashyapas. Die aufgezählten Begriffe bezeichnen scheinbar materielle und formgebundene Dinge, haben aber in Wirklichkeit eine umfassende und viel tiefer gehende Bedeutung in der Buddha-Lehre.
Auch die Farben wie Blau, Gelb, Rot und Weiß oder Formen wie Lang, Kurz, Eckig oder Rund sind Teil der genannten Lebensdimension und gehören zu dem hier gemeinten umfassenden Geist, der mehr als die Wahrnehmung, das Denken und das Bewusstsein ist. Dôgen sagt hierzu:


"Der Geist ist das Spritzen des Wassers, der Schaum und die Flamme, der Geist ist die Frühlingsblume und der Herbstmond. Die sich ständig verändernden Augenblicke sind Geist. Weil dieser Geist niemals zerstört werden kann, ist er die wirkliche Form aller Dharmas."

Anschließend zitiert Dôgen ein berühmtes Koan-Gespräch zwischen dem älteren Meister Gensa und dem jüngeren Meister Keichin, das auch in seiner Koan-Sammlung enthalten ist und dort von Nishijima Roshi erläutert wird. Man muss wissen, dass Meister Gensa in besonders klarer Weise zwischen Fantasien und Spekulationen einerseits und der Wirklichkeit andererseits unterschieden hat und dies in den Koan-Geschichten von ihm wiedergegeben wird. Das folgende Koan erscheint zunächst kaum verständlich und zumindest sehr eigenartig zu sein, es lautet wie folgt: Der große Meister Gensa fragte:

"Wie verstehst Du, dass die drei Welten nichts anderes als der Geist sind?"
Der jüngere Meister Keichin antwortete nicht direkt auf diese Frage und zeigte auf einen Stuhl, indem er seinerseits fragte:

"Wie bezeichnest Du dies, Meister?" Gensa antwortete:
"Als einen Stuhl." Der jüngere Meister Keichin sagte dann:

"Du verstehst nicht, dass die drei Welten nichts anderes als Geist sind."
Der große Meister Gensa setzte trotzdem das Gespräch fort: "Ich bezeichne dies als Bambus und Holz, wie bezeichnest Du es?"
Der jüngere Keichin sagte: "Auch ich bezeichne dies als Bambus und als Holz."

Dann fügte der große Meister Gensa hinzu:

"Es ist unmöglich einen Menschen zu finden, der den Buddha-Dharma versteht, selbst wenn wir ihn auf der ganzen Erde suchen."

Was soll diese Koan-Geschichte ausdrücken und worum geht es eigentlich dabei? Wenn man ganz genau überlegt, sind die Dinge und die materiellen Gegebenheiten in diesem Fall durch die Begriffe „Bambus“ und „Holz“ gekennzeichnet. Dagegen ist die Bezeichnung „Stuhl“ schon eine Abstraktion und Erweiterung, denn damit ist vor allem die Funktion des Sitzens gemeint und nicht allein das Holz und der Bambus als Material. Durch die Funktion und Bestimmung eines Stuhles wird also der Bereich der Zwecke, der Gedanken und Funktionen angesprochen und wir befinden uns dann nicht mehr im Bereich der Dinge und der Materie.


Eine solche Unterscheidung ist typisch für die Koan-Geschichten, die von Meister Gensa berichtet werden. Nishijima Roshi bezeichnet bekanntlich den Bereich der Ideen, Funktionen und Zwecke als die erste Lebensphilosophie des Idealismus. Dôgen möchte hier aber auf die reine Dinglichkeit und das Materielle abheben und erläutert uns, dass diese Dimension eine der drei Welten ist und diese mit dem Geist im buddhistischen Sinne zusammenfällt. Dass der alte Meister Gensa zunächst den Stuhl erwähnt, kann man als eine Art Falle in diesem Koan-Gespräch ansehen und der jüngere Meister Keichin sagt auch richtiger Weise, dass Gensa nicht verstehen würde, dass die drei Welten nichts anderes als Geist seien und verfängt sich nicht in der aufgestellten Falle.


Beide Meister sind sich einig, dass der Bezug zum Bambus und das Holz genau richtig ist, wenn man die Welt der Formen und der Materie ansprechen will. Dies ist in der Tat für einen Menschen aus dem Westen nicht einfach zu verstehen, dass die Dinge und Materie, also z. B. die Felsen, das Wasser, die Bäume, Hecken und Gräser, nach der buddhistischen Lehre auch der Geist sind.
Wie ist nun der berühmte letzte Satz von Meister Gensa zu verstehen, dass man auf der ganzen Erde keinen Menschen finden würde, der den Buddha-Dharma versteht? Mit dem Begriff "verstehen" ist hier der intellektuelle Verstand gemeint, mit dem man in der Tat allein die Lehre des Buddhismus nicht erfassen kann. Dazu ist die Intuition für den Geist der Buddha-Lehre erforderlich, denn mit dem Denken und den verstandesmäßigen Unterscheidungen kann man die ganzheitliche buddhistische Lehre unmöglich verstehen. Der letzte Satz gehört zur vierten umfassenden Lebensphilosophie, die wir Erwachen, Erleuchtung, Gleichgewicht oder Leerheit nennen.

Dôgen bittet uns dann, dieses berühmte Koan-Gespräch nicht einfach als gegeben hinzunehmen, sondern selbst Fragen zu stellen, um tiefer einzudringen. Wenn der große Meister Gensa sagte:


"Ich bezeichne dies als Bambus und Holz", so sagt Dôgen:
"Ihr solltet diese einzigartige Aussage bis zu Ende erfahren, bevor und nachdem ihr sie gehört habt."
Wir sollen also keineswegs gläubig den alten Lehren der großen Meister und denen von Dôgen selbst folgen und sie vielleicht auswendig lernen und sie hersagen können, sondern wir sollen sie durch vielfältige tief gehende Fragen untersuchen. Wenn Meister Gensa am Ende sagte, dass es keinen Menschen geben würde, der den Buddha-Dharma mit dem Intellekt versteht, so bedeutet dies natürlich auch, dass wir das Thema dieses Kapitels: "Die drei Welten sind nichts anderes als der Geist" nicht intellektuell verstehen können.


Wir müssen dies also in der Praxis erfahren und vertiefend erforschen und dabei kann der Verstand nicht isoliert werden, wie dies in der westlichen Philosophie und der Wissenschaft häufig der Fall ist. Die Praxis ist unauflösbar mit dem Handeln im Hier und Jetzt verbunden und ohne Moral kann es keine buddhistische Lehre und kein Leben auf dem Buddha-Weg geben.

Donnerstag, 20. Dezember 2007

Die verschiedenen Arten des sozialen Handelns eines Bodhisattvas

Im Buddhismus ist das praktische Handeln zwischen den Menschen und überhaupt im sozialen Zusammenhang von wesentlicher Bedeutung und wird mit dem Begriff "Bodhisattva-Handeln" gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass man anderen hilft, sie nicht mit Worten verletzt oder erniedrigt, dass man harmonisch und wirkungsvoll zusammenarbeitet und großzügig anderen etwas gibt, ohne dabei letztlich den eigenen Vorteil im Auge zu haben. Wörtlich übersetzt heißt Bodhisattva ein „Wesen auf dem Buddha-Weg, das nach der Wahrheit strebt“, also erwacht ist. Ein solcher Mensch hat das egoistische Handeln zum eigenen Vorteil überwunden, weil dies letztlich niemals zu einem guten Leben führt. Dôgen sagt im Kapitel „Die vier Arten des sozialen Handelns der Bodhisattvas“ (Kap. 45, Bodaisatta shishôbô) im Shôbôgenzô:

"Großzügig zu geben bedeutet, nicht gierig zu sein. Nicht gierig zu sein bedeutet, nicht nach Ruhm und Gewinn zu streben, nicht nach Ruhm und Gewinn zu streben bedeutet im Alltäglichen, dass man sich keine Vorteile (z. B.) durch Schmeichelei verschafft.“

Es wird dann ausgeführt, dass man auch denjenigen Menschen großzügig etwas geben soll, die man eventuell gar nicht kennt und dass man nicht auf sich selbst aufmerksam machen sollte, wenn man jemandem etwas zukommen lassen will, das ihm wichtig ist oder ihm nützt. Es muss sich dabei nicht um wertvolle oder kostbare Dinge handeln, sondern manchmal ist es eine Blume vom Wegesrand, ein kleines Geschenk von unterwegs und nicht zuletzt ein Lächeln, das man geben kann. Dôgen betont, dass man die Eigenschaft, großzügig zu geben, eigentlich von Natur aus schon hat, dass sie nur durch Egoismus und Ich-Bezug überdeckt und verzerrt ist.

Man sollte dabei vor allem den natürlichen Lauf der Dinge und den Herz-Geist unterstützen und durch Geschenke keine Verwirrung stiften; denn übertriebene Geschenke können auch Unheil anrichten, sodass sich die Menschen, die man eigentlich unterstützen wollte, zum Negativen entwickeln. Zum Beispiel könnte sich die Gier der Empfänger verstärken, und wer zu viel bekommt, kann immer gieriger werden. Dann verdunkelt sich sein Geist und die Kritiksucht macht sich breit. Durch das Geben sollten sich vielmehr die Menschen verbinden und eine zwischenmenschliche Einheit bilden.
Vor allem sollten die Schätze des Buddha-Dharma großzügig und ohne Gegenleistung gegeben werden. Dies kann z. B. nur aus einem gut gewählten und helfenden Wort bestehen. Wichtig ist, dass sich alles nach den Bedürfnissen des Empfängers richtet und dieser sich wirklich darüber freut. Beim Geben ist besonders wichtig, keine Belohnung zu erwarten und nicht enttäuscht zu sein, wenn man keine Dankbarkeit erhält.
Dôgen sagt wörtlich:

"Da ihr auf natürliche Weise bereits die Eigenschaft des Gebens besitzt, habt ihr euch selbst so empfangen, wie ihr jetzt seid. Der Buddha sagte, dass man den eigenen Körper empfangen und benutzen sollte."

Dies gilt natürlich besonders im engeren Kreis der Familie, also gegenüber den Eltern, Partnern, Kindern und anderen Verwandten und auch den Freunden, die durch die Hilfe beschenkt werden. Gerade kleine Geschenke können oft große Freude auslösen. Dôgen erwähnt in diesem Zusammenhang besonders, dass durch großzügiges Geben sich der Geist eines Menschen erstaunlich zum Positiven verändern kann, auch wenn der Geist häufig festgefahren und unbeweglich ist. Dôgen sagt:

"Großzügig zu geben bedeutet, dass wir schon beginnen, den Geist der Lebewesen zu verändern, und wir wollen ihren Geist solange verändern, bis sie die Wahrheit erlangt haben." Und weiter: "Dennoch verändert der Geist gelegentlich die Dinge und es gibt das großzügige Geben, wodurch Dinge den Geist verändern."

Er sagt also damit, dass man durch geschenkte Dinge den Geist dazu bringen kann, dass er sich öffnet und bewegt und dass ein beweglicher Geist auch die Dinge und die gesamte Situation fast wie durch ein Wunder verändert.
Für Dôgen ist es sehr wichtig, dass man "gütig und wohlwollend redet" und dass sich auch im Reden Mitgefühl und Wohlwollen ausdrückt. Verletzende und grobe Worte sollen auf jeden Fall vermieden werden, auch wenn es unterschiedliche Meinungen und Ansichten gibt. Wenn die eine Seite aggressiv und erniedrigend redet, solle die andere Seite sich davon nicht anstecken lassen und nicht darauf eingehen. In der Tat sehen Menschen, die sich streiten, eher wie Dämonen aus und verlieren eigentlich ihre menschliche Seite. In Ostasien wird die Höflichkeit beim Reden und Handeln sehr hoch geschätzt und erfahrungsgemäß lassen sich dadurch viele Kontroversen und Auseinandersetzungen vermeiden. Dôgen sagt:

"Ihr solltet die Tugendhaften loben und mit denjenigen Mitgefühl haben, die keine Tugend besitzen."

Das ist im praktischen Handeln des Alltags, im Beruf und in der Familie sicher nicht so einfach und wird aber auch im Christentum durch die Aussage "liebet eure Feinde" ausgedrückt, allerdings ist die Forderung der Liebe sicher noch schwerer zu erfüllen als die des Mitgefühls, der freundlichen Rede und des sanften Umgangs. Wir wollen daran erinnern, dass im Buddhismus gütiges Handeln und moralisches Verhalten auch beim Reden als der natürliche Zustand angesehen werden, während verletzende und böse Worte als unnatürlich und künstlich bezeichnet werden. Man sollte immer versuchen, die Feinde im Guten zu überzeugen und nicht zu bekämpfen, sodass sie ihre Härte und Aggressivität wie von selbst verschwinden lassen können. Bei Freunden geht es darum, eine gute Harmonie zu erzeugen, sodass sich alle wohlfühlen. Dôgen drückt dies wie folgt aus:

"Denkt daran, dass gütige und wohlwollende Worte aus einem gütigen und wohlwollenden Geist-Herz kommen. “Er sagt weiterhin, dass ein derartiges gütiges Reden "die Kraft und die Macht hat, den Himmel zu bewegen."

Was für das Reden gilt, ist auch richtig für das Handeln und gemeinsames Tun. Die Zusammenarbeit bei sinnvollen Aufgaben wird im Buddhismus sehr hoch geschätzt und Nishisjima Roshi betont gern, dass im Handeln selbst am besten zur Wirklichkeit und Wahrheit vorgestoßen werden kann. Wenn dies gemeinsam geschieht, befriedigt das alle außerordentlich, und gemeinsames Handeln kann mehr verbinden als wortreiches Reden, das bekanntlich auch überraschend schnell zu Differenzen führen kann. Dabei sollte nicht unterschieden werden, ob der andere, für den man etwas tut, einen hohen oder einen niedrigen Rang hat und es ist wichtig, sich eine möglichst klare Vorstellung von der guten zukünftigen Entwicklung zu machen und das Handeln darauf auszurichten. Dôgen sagt hierzu:

"Nur unwissende Menschen meinen, dass ihr eigenes Wohl beeinträchtigt wird, wenn sie das Wohl anderer über das eigene stellen."

Hiermit ist das Gute des Bodhisattva-Handelns klar ausgedrückt. Wer nur zum eigenen Vorteil und aus egoistischen Motiven handelt, wird letztlich dabei nicht glücklich und entspannt werden, sondern im Gegenteil, verengt seinen Geist und sein Herz und schadet dann irgendwann hauptsächlich sich selbst. Anderen durch eigenes Handeln sinnvoll zu helfen, ist nach buddhistischer Lehre also für den handelnden Menschen selbst das Beste und bedarf eigentlich gar keiner großartigen Überwindung. Die eigenen vorgestellten angeblichen Nachteile sind eigentlich immer nur durch einen verengten egoistischen Geist erzeugt und entsprechen meist gar nicht der Wirklichkeit.
Dôgen sagt weiter:
"Mit anderen gut zusammenarbeiten bedeutet, nicht gegen sie zu sein."
Durch das Handeln soll also kein Widerspruch und Konflikt entstehen oder gar bewusst erzeugt werden, denn ein solches Handeln ist keine Zusammenarbeit, sondern das genaue Gegenteil. Dabei ist auch die Umgebung und die gesamte Situation der Zusammenarbeit wesentlich, auch die sollte man so weit wie möglich positiv gestalten. Dôgen fährt fort:

"Der Mensch ist der Freund des Menschen, die himmlischen Wesen sind die Freunde der himmlischen Wesen und die göttlichen Wesen sind die Freunde der göttlichen Wesen."

Durch eine gute Zusammenarbeit werden die trennenden Grenzen zwischen den Menschen abgebaut und aufgehoben, sodass ein gemeinsamer Geist für die gemeinsame Aufgabe entsteht. Dies gilt auch und nicht zuletzt für die Zusammenarbeit eines Herrschers mit seinen Bürgern oder der Vorgesetzten mit ihren Mitarbeitern. Auch wenn Mitarbeiter heimlich ihre Vorgesetzten missachten, andererseits aber von ihnen geachtet werden wollen, kann dies auf die Dauer nicht gut gehen.
Schließlich ist zu bemerken, dass die verschiedenen Bereiche der zwischenmenschlichen Beziehungen und des sozialen Handelns nicht jeweils isoliert von einander zu sehen sind, sondern miteinander verbunden wirksam werden. Dadurch entsteht eine Vielfalt positiver Möglichkeiten des Gebens, des Redens, des Handelns und der Zusammenarbeit, die allen zugute kommt.

Dienstag, 18. Dezember 2007

Das Universum ist dynamisches Handeln

Aus buddhistischer Sicht und Erfahrung kann man sagen, dass diese Welt, das Universum und das Leben die Verwirklichung alles Handelns und aller Aufgaben sind. Das hört sich sicher etwas weit hergeholt an, ist es aber eigentlich gar nicht. Was ist damit gemeint und was will uns Dôgen damit sagen?
Kinder vor dem großen Buddha in Kamakura


Dieses dynamische Ganze, z. B. unseres Lebens, ist wirklich nichts Statisches, sondern es beruht auf dem Handeln je im Augenblick, indem wir unsere Aufgaben und Verpflichtungen in dieser Welt wahrnehmen und auf natürliche Weise moralisch handeln. Wenn wir leben, handeln wir automatisch, selbst wenn unser Verstand etwas festhalten will oder aufgeladene Emotionen uns wie in einem Gefängnis eingemauert haben. Ein solches Handeln im Augenblick soll nicht von düsteren Gedanken des Todes oder von anderen Ängsten überschattet werden, denn das Handeln vollzieht sich im Hier und Jetzt der Gegenwart und nur dies ist die Wirklichkeit, und dann sind wir frei. Die große Wahrheit der Buddhas und Vorfahren im Dharma ist Befreiung und sie ist Verwirklichung, wenn diese handelnd gemeistert wird.
Dann befreit das wahre Leben unser bisheriges Leben und der wahre Tod befreit uns von den Ängsten des Todes. Auf diese Weise meistern wir in der Wahrheit Leben-und-Tod. Gerade im Augenblick je in der Gegenwart wird so das Leben gemeistert. Dies überschreitet Begriffe und Vorstellungen wie Groß und Klein und sogar der großen und der begrenzten Welt. Die üblichen Maße für die Zeit, dass z. B. etwas lang oder kurz andauert, haben keine Bedeutung und lösen sich auf. Das Leben ist dann auch kein gedachter Prozess des Erscheinens und Vergehens oder die Erwartung der zukünftigen Verwirklichung der Erleuchtung. Die Welt offenbart sich als dynamisches Handeln, indem wir praktizieren, unsere Aufgaben wahrnehmen und unseren Verpflichtungen gerecht werden. Dies schließt auch die vielfältigen materiellen Dinge und Zusammenhänge um uns herum ein, aber wir sollten dies nicht einfach leichtgläubig hinnehmen, sondern gründlich bedenken. Jedes einzelne Ding, jeder einzelne Dharma und jeder Augenblick ist Teil des Lebens. Dôgen sagt hierzu:

"Es gibt keinen einzigen Augenblick und keinen einzigen Dharma, der nicht das Leben ist, und es gibt keine einzige Tatsache und keine einzige Funktion des Geistes, die nicht das Leben ist."

Dogen gibt dann ein sehr aufschlussreiches Gleichnis von einem Segelboot auf dem Meer, das von den Menschen im Boot bedient wird und dadurch mit dem Wind im Wasser vorwärts kommt. Er sagt:

"Das Leben kann damit verglichen werden, dass zum Beispiel ein Mensch in ein Boot steigt: In diesem Boot setze ich den Mast, ich führe das Ruder und ich bediene das Segel. Ich werde von dem Boot getragen und es gibt (eigentlich) kein Ich, sondern nur (mein Handeln mit) dem Boot. Durch mein Handeln mit dem Boot wird dieses Boot erst zu einem (wirklichen) Boot."

Hier wird also keinesfalls gesagt, dass es um die Gegenstände wie das Boot, das Ruder, das Segel, den Mast usw. geht, die von einem Menschen bedient werden, denn damit wäre eine Trennung der Objekte von dem handelnden Subjekt behauptet. Sondern Dôgen sagt ganz klar, dass erst durch das gesamte Handeln im Zusammenhang das Boot mit dem Menschen zu einem wirklichen Boot wird. Er sagt:

"Der Himmel, das Wasser und die Küste kommen zusammen und werden der Augenblick des Bootes. Und diese unterscheiden sich ganz eindeutig von anderen Augenblicken abseits vom Boot.“

Das Leben ist also das, was ich tue und mache, und auch ich bin das, was ich mache. Das Ich besteht also aus Augenblicken des Handelns im sinnvollen Ganzen und es existiert nicht als dauerhafte getrennte Entität, die quasi wie ein Ding gedacht wird, aber eine Seele besitzt. Damit verblüfft uns Dogen mit der Aussage, dass wir aus Handlungs-Elementen je im Augenblick bestehen.
Ein alter Meister sagte:
"Das Leben ist die Offenbarung und Verwirklichung der Welt des Handelns und aller Funktionen; der Tod ist die Offenbarung und Verwirklichung aller Handlungen und Funktionen."

Es geht dabei nicht um den Beginn oder das Ende der Welt oder meines Lebens, sondern es geht um die Gegenwart, in der sich das Handeln als Welt und als Ich offenbart und verwirklicht. Die Welt baut sich sozusagen aus Handlungs-Elementen auf, die sich dynamisch verändern und je in der Wirklichkeit existieren. Dogen bittet uns, dies gründlich zu erfahren und zu erforschen und nicht einfach gläubig hinzunehmen. Wenn wir nur im Kopf denken, dass die Erde eine Einheit ist und dass der Raum eine Einheit ist, so liegen wir falsch. Solche Gedanken und solche Worte entspringen nur dem Gehirn und sind nicht die Wirklichkeit im Hier und Jetzt. Die Wirklichkeit und Dynamik des Universums besteht jenseits von Vorstellungen, Hoffnungen und Ängsten des Lebens und des Todes. Diese wirkliche Welt als Leben und Tod existiert,

"wenn zum Beispiel ein starker Mann seinen Arm beugt und anspannt und wenn ein Mensch im Schlaf die Hand nach hinten ausstreckt und nach seinem Kissen greift."

In dieser Welt des dynamischen Handelns gibt es wunderbare Kräfte und große Klarheit und Schönheit. Die Welt entwickelt ihre ganze wunderbare Kraft im gegenwärtigen Augenblick, auch im vorherigen Augenblick gab es eine solche Offenbarung und Verwirklichung, aber dies können wir nur erinnern und nicht erleben und erfahren. Dôgen sagt zum Abschluss dieses kurzen, aber außerordentlich inhaltsreichen Kapitels, dass das hier Gesagte dringend darauf wartet, dass es verwirklicht wird.

Donnerstag, 6. Dezember 2007

Die Kunst, eine Bambus-Flöte zu spielen

Die japanische Bambusflöte des Zen hat die Bezeichnung "Shakuhachi" und besteht aus einem Bambusrohr mittlerer Dicke, deren Nodien durchstoßen worden sind, sodass ein durchgehendes Rohr aus Bambus entsteht.

Das Mundstück ist eine einfache geschärfte Blaskante, die in der richtigen Weise und mit der richtigen Lippenspannung angeblasen wird, damit der Ton entsteht. Die japanische Zen-Flöte hat fünf Löcher, vier auf der Oberseite und eine unten für den Daumen, beruht also grundsätzlich auf einem System von fünf Tönen, also der Pentatonik. Viele alte Musikstücke und Lieder früherer Kulturen haben diese Pentatonik als musikalische Grundlage. Dies gilt zum Beispiel auch für die Indios in Südamerika und ihre Musik. Deren Flöte (Kena) hat sogar gewisse Ähnlichkeiten mit der japanischen Shakuhachi. Daraus wird auch die alte Verwandtschaft der amerikanischen Indianer mit ostasiatischen Völkern nicht zuletzt aus Japan deutlich.
Der Name „Shakuhachi“ bezeichnet eine Länge der Flöte von 1,8 japanischem Fuß, das entspricht etwa 54 cm. Die heutigen Shakuhachi-Flöten sind allerdings länger, meine eigene hat z. B. eine Länge von knapp 2,4 Fuß, dies entspricht etwa 72 cm.
Die abgebildete Flöte wurde von Ikkei Hanada, meinem damaligen Shakuhachi-Lehrer gebaut, er hat auch die Noten geschrieben.

Eine solche buddhistische Zen-Flöte zu spielen nennt man in Japan auch den "Bambusweg". Dieses Flötenspiel ist also eine buddhistische Kunst wie etwa das Bogenschießen, das Blumenstecken, der Schwertkampf usw. Obwohl oder gerade weil die Bambusflöte eigentlich ein sehr urtümliches, um nicht zu sagen, achaisches Instrument ist, hat sie eine außerordentlich große Vielfalt und Breite von Ausdrucksmöglichkeiten, je nach dem wie man sie anbläst. Man kann die Tonhöhe dadurch stufenlos verändern, dass man die recht großen Löcher nur teilweise mit dem Finger abdeckt oder indem man die Flöte aus verschiedenem Winkel anbläst, sie also im Verhältnis zum Mund nach oben oder nach unten zieht. Außerdem hat man natürlich alle Möglichkeiten, durch den Atem zu steuern und zu gestalten, so wie man auch vielfältige Melodien singen kann.
Die Herkunft der Shakuhachi liegt teilweise im Dunkeln der Geschichte.

Man kann aber davon ausgehen, dass sie etwa seit dem siebten Jahrhundert in China benutzt wurde und dann über Korea nach Japan gelangte. Es gibt vermutlich zwei zu unterscheidende Epochen: die erste unmittelbar in den folgenden Jahrhunderten nach dem Eintreffen in Japan und die zweite etwa nach dem 16. Jahrhundert, als in Japan das Spiel der Shakuhachi zu höchster Blüte entwickelt wurde. Jede Bambusflöte unterscheidet sich teilweise von der anderen, denn es handelt sich ja um den natürlich gewachsenen Bambus, der im Wuchs zwar durchaus ähnlich, aber niemals ganz gleich ist. Heute wird die Shakuhachi meist aus dem unteren Teil des Bambus gebaut, der den festen Wurzelstock enthält. Die Wurzeln werden dabei abgeschnitten, der Wurzelstock wird durchbohrt und dies gibt der Flöte eine feste, fast kernige Ton-Grundlage, die besonders in den tiefen Lagen wirksam ist.

Das Spiel der Shakuhachi-Flöte ist eng mit der Lebensphilosophie des Buddhismus verknüpft und es bedarf lebenslanger Übung, um zu der Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit zu gelangen, die den Weg des Buddhismus selbst ausmacht. Es gibt verschiedene Traditionen des Shakuhachi-Spiels, die einerseits den spirituellen, buddhistischen Bereich anspricht, und zum anderen konzertant in der Kammermusik ausgeprägt ist, dort z. B. zusammen mit dem Saiteninstrument der Koto. In diesem Fall müssen die Flöten in der Tonhöhe vereinheitlicht werden, damit ein tonlich harmonisches Zusammenspiel mit anderen Instrumenten ermöglicht wird. Ich habe seiner Zeit die buddhistische Tradition des „Myo An“ (Hell-Dunkel) von dem japanischen Shakuhachi-Meister Hanada erlernt, der nunmehr in Deutschland lebt. Jetzt habe ich zusammen mit meinem Bruder bei Fritz Nagel Unterricht.

Wie Herrigel in seinem Buch, „Die Kunst des Bogenschießens“, beschreibt, hatte er nach mehreren Jahren des Unterrichts und des Lernens erleben können, dass "es geschossen hat." Sein Bogenmeister verneigte sich darauf, weil sich das "Etwas" ereignet hatte, das mehr ist als das Subjekt, also hier der Mensch und mehr ist als das Objekt, hier der Bogen, der Pfeil und die Sehne. Dann verbindet sich das Handeln weit darüber hinaus gehend auf natürliche Weise mit diesem Etwas, sodass sich ein Schuss natürlich wie von selbst löst. Man kann auch sagen, dass sich „ein Schuss ereignet“. Im Augenblick der höchsten Spannung muss alles locker vor sich gehen, sodass der Schuss "wie eine reife Frucht fällt“.

Den von Herrigel beschriebene Weg des Bogenschießens gibt es in gleicher Eindringlichkeit auch bei den anderen verschiedenen buddhistischen Übungen und Künsten: Es ist zunächst ein vorsichtiges Herantasten an die Aufgabe oder die damit verbundenen Dinge, ein stetes Üben, bei dem das Ich und das Selbst immer mehr in den Hintergrund treten und das Handeln und Tun sich sozusagen vom Subjekt und Objekt ablöst und sich, wie Nishijima Roshi betont, die Wirklichkeit selbst öffnet . Im Handeln gibt es dann kein intellektuelles Erinnern an das Vergangene und keine Erwartung für die Zukunft, denn beides würde nur vom Denken und Verstand erzeugt werden, sondern das Handeln findet je im Augenblick ganzheitlich und intuitiv statt. Nach Dôgen ist dies genau die Sein-Zeit, die er in dem grundlegenden Kapitel Uji in seinem Werk "Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges" (Kap. 11 des Shôbôgenzô) beschreibt.

Wie bei der Zazen-Praxis verhindert eine willentliche bewusste Anstrengung mit dem Ziel, das perfekte Flötenspiel zu erreichen, genau das Wesentliche des Shakuhachi-Weges. Dôgen führt immer wieder aus, dass eine willentliche bewusste Anstrengung, die Erleuchtung zu erlangen, ganz genau verhindert, dass sich das Erwachen oder die Erleuchtung bei der richtigen Sitzhaltung des Zazen „ereignen“ kann. Die buddhistische Praxis ist ein intuitives wunderbares Ganzes, bei dem nicht der Verstand vorherrscht und auch nicht die Emotionen dominieren.
Warum ist das Spielen der Shakuhachi ein praktisches Beispiel für die buddhistische Lehre und das buddhistische Handeln und Leben selbst? Wie können sich die naturhaften Töne dieser Bambusflöte mit der buddhistischen Lehre verbinden?

Wir nehmen einen Ton mit unseren Ohren als sinnliche Wahrnehmung auf und öffnen uns beim Spielen und beim Zuhören ganz der Gegenwart des Hier und Jetzt. Wenn die Gedanken des Menschen abschweifen, wird dies z. B. dem Spieler irgendwann bewusst, weil er merkt, dass die Töne an Lebendigkeit, Schönheit und Spiritualität verlieren. Die Shakuhachi ist ein sehr empfindliches Ding, das wie ein „Lebewesen handelt“, sodass gewaltsames Blasen und auch abschweifende Gedanken nicht selten oft dazu führen, dass der Ton ganz wegbleibt. Es erfordert zunächst sehr viel Geduld, um als Anfänger überhaupt irgend welche Töne zu erzeugen und es gibt Schüler, die drei Monate und mehr benötigen, damit sich überhaupt zum ersten Mal ein Ton vorstellt. Dann bedarf es vieler Jahre, in denen man stetig und ausdauernd übt, bis eine gewisse Leichtigkeit und Natürlichkeit beim Spielen entsteht und die Töne zunehmend naturhaft werden und sich eine Einheit von Mensch, Flöte, Luft, Ton, Spieler, Raum Zuhörer usw. einstellt. Es ist in der Tat dann überhaupt nicht mehr sinnvoll, von einem Subjekt, also dem Spieler, und einem Objekt, nämlich der Flöte, zu sprechen. Die aus der Lunge ausströmende Luft wird vor allem durch die Muskulatur des Bauches gestaltet und gesteuert und weniger durch die Muskulatur der Brust. Die Lippen müssen eine bestimmte Spannung haben und zugleich locker sein, damit es einen vollen natürlichen Ton gibt. Wenn man beim Spielen oder Zuhören in den ganzen Augenblick der Gegenwart eintaucht, verwirklichen sich wunderbare Töne, die mit Worten nur unzureichend beschrieben werden können und die mit dem Verstand nur spärlich zu fassen sind. Dann gilt: "Es bläst, es klingt, es hört."

Es ist nicht das Ziel in der Shakuhachi-Tradition von Myo An virtuos und technisch beeindruckend zu spielen oder gar besondere Effekte und Tricks zu erzeugen. Den Ton der Flöte hört man oder spielt man genau in der Gegenwart einer weit offenen Intuition. Man muss sich also ganz für diese Gegenwart aufmachen, störende Gedanken und drückende Gefühle müssen verschwinden, damit man sich dem Ton und seiner Schönheit öffnen kann und damit die Töne Leben bekommen. Der Spieler hat dann die vielen Jahre und Stunden des Übens vergessen. Er vergisst auch sein Ich und hat sein Denken fallen gelassen und aufgelöst. Er lebt ganz in der Gegenwart und dadurch ist er in der Wirklichkeit und Wahrheit ankommen, wie es Meister Dôgen in seinem großartigen Kapitel der Sein-Zeit sagt.

Es gibt eine intuitive Verbindung im Lauf des Spielens und der Melodie mit dem jeweils Vorigen, das vorher lebendige Gegenwart gewesen ist. Dies ist aber kein intellektuelles Erinnern, es ist auch kein konkreter Gedanke, sondern es ist eine intuitive lebendige Spur aus dem vorherigen in der Gegenwart. Gäbe es eine solche intuitive Verbindung nicht, würde man überhaupt keine Melodie erkennen und könnte nur Geräusche hören. Der zukünftige Verlauf beim Spielen oder Hören ist ebenfalls nicht im Denken verankert, sondern ein intuitives Verbinden mit dem, was kommen wird. Ohne diese Intuition des Gesamten im gegenwärtigen Augenblick kann es keine Musik und kein Flötenspiel geben. Das Denken beim Spiel der Bambusflöte muss wie die Vergangenheit und Zukunft vergessen werden, genauso wie die Trennung von Subjekt und Objekt, vom Medium der Luft oder gar von den physikalischen Zusammenhängen. Sonst kann man sich der ganzen Ton-Fülle der Gegenwart nicht öffnen oder entfalten und das „Etwas“ kann nicht erscheinen, weil es durch das intellektuelle Denken oder durch wühlende Emotionen gestört oder unmöglich wird. Das gleiche gilt bei Eitelkeit und Imponiergehabe.

Der große Nutzen des Bambusweges ergibt sich dadurch, dass man eine sehr konkrete Rückmeldung erhält, ob diese Freiheit des Augenblicks, die notwendig ist für das natürliche und freie Spiel, vorhanden ist oder nicht. Man erhält ganz schnell eine Meldung, ob die Töne "in Ordnung" sind oder nicht. Die Shakuhachi ist gewissermaßen ein sensibles Messgerät für die Wirklichkeit im Augenblick aber auch für die durch Denken und Emotionen erzeugte Verzerrung und Verkrampfung des Spielenden. Gerade weil diese Bambusflöte so ursprünglich und einfach ist, kann sie eine solche klare Rückmeldung für uns leisten. Bei eher technischen Instrumenten, wie zum Beispiel dem Klavier oder einer elektronischen Orgel, ist dies wenig oder überhaupt nicht möglich, sodass deren Eignung für den buddhistischen Weg um vieles geringer ist.

Obgleich man beim wahren Shakuhachi-Spiel nicht mit dem Verstand denkt, ist das Bewusstsein nicht ausgeschaltet. Es ist ein Achtsamkeit der Klarheit und Offenheit, und der Spieler handelt in der Gegenwart und lässt das Spielen geschehen. Dann ist das Spiel jedes Stückes jeweils eigenständig im Hier und Jetzt und erhält seine Lebendigkeit gewissermaßen aus sich selbst. Jede Besonderheit eines Tones in der Gegenwart erzeugt Spuren bei den kommenden Tönen, ohne dass dies als bewusster Gedanke vorhanden wäre. So sind Vergangenheit und Zukunft eingeschmolzen in der Gegenwart und dies alles geht jenseits von Denken und Emotionen vor sich.

Bei der Musik kann man den Augenblick des Tones nicht festhalten. Diese Musik fließt natürlich dahin und gerade die Offenheit der Gegenwart beim Spielen und Hören gibt uns eine tiefe Befriedigung und Freude und macht uns frei. Sorgen, Ängste und Verletzungen aus der Vergangenheit sind vergessen und wir sind gewissermaßen in eine wunderbare Glocke des Tones eingehüllt. Aber diese Glocke schließt uns nicht ab und engt uns nicht ein, sondern sie öffnet uns in den Raum hinein und "stößt durch den Himmel", wie Meister Dôgen dies wohl ausdrücken würde. Dann sind wir ganz im Hier und Jetzt oder wie es im Shôbôgenzô heißt: "Geist hier und jetzt ist Buddha." Dies ist wie das Leben selbst, wenn man es mit Gewalt festhalten will, gibt es keine lebendigen Töne und keine Musik!

Montag, 3. Dezember 2007

Die Wirklichkeit des Mondes

Wir wissen, dass Meister Dôgen den Mond sehr liebte und sich viel mit dessen Wirklichkeit und Schönheit beschäftigt hat.

Der Mond verändert während des Jahres fortwährend seine Gestalt: Einmal verschwindet er ganz als Neumond, dann bildet er eine schmale oben und unten spitze Sichel, die breiter und zu einem Halbmond wird und schließlich gibt es den Vollmond, der in klaren Nächten so hell scheint, dass man in seinem Licht fast ein Sutra lesen kann. Danach nimmt der Mond wieder ab, wird kleiner und schmaler bis er wieder als Neumond verschwindet. Der Mond bewegt sich also fortwährend in seiner Gestalt und seinem Standort am Himmel und unterscheidet sich insofern von der Sonne, die immer als helle Scheibe über den Himmel wandert und uns auch hinter dichten Wolken das Tageslicht gibt.
In diesem Kapitel "Der Mond" (Kap. 42, Tsuki) untersucht Dôgen anhand des Mondes die Wirklichkeit und diese unterscheidet sich grundsätzlich von der Wahrnehmung (materielle Sicht) und den Vorstellungen (Idealismus). Über dieses kompakte und nicht einfach zu verstehende Kapitel habe ich ein längeres Gespräch mit Nishijima Roshi geführt, in dem er unterstrich, dass der Buddhismus die Wirklichkeit zum Inhalt hat und er daher von dem buddhistischen Realismus sprach. Den Mond kann man nicht anfassen, das heißt, die sinnliche Wahrnehmung des Greifens und Tastens kann nicht verwendet werden. Der Mond ist immer entfernt und ungreifbar, ganz gleich, auf welche Weise man versucht, ihm nahe zu kommen. Wenn man auf den höchsten Berg der Umgebung steigt, ist man von ihm genau so weit entfernt wie auf dem flachen Lande. Man ist beim Mond ganz auf die sinnliche Wahrnehmung des Sehens angewiesen, denn er er gibt auch keine Töne von sich, er duftet nicht und lässt sich nicht anfassen. Warum hat Meister Dôgen gerade das Beispiel des Mondes gewählt, um den grundsätzlichen Unterschied von Wirklichkeit einerseits und der Wahrnehmung sowie Denken andererseits herauszuarbeiten? Der Mond wird auch in vielen Gedichten und von tiefer Poesie besungen und hat schon immer die Fantasie der Menschen beflügelt und getragen.

Im Buddha-Dharma hüten wir uns vor falschen romantischen Gefühlen, sondern wollen zur Wirklichkeit selbst vorstoßen und vorgefasste Meinungen, Ideologien, falsche Emotionen und Hektik auflösen. Aber wir sind weit offen für die Schönheit des Universums, der Welt und der Natur. Dazu müssen wir genau unterscheiden, was sozusagen künstlich durch Ideen und Denken erzeugt wird und uns dann romantische Gefühle vorgaukelt aber nicht wirklich und nicht echt ist. Diese Klarheit wird im Buddhismus Erleuchtung, Erwachen, Gleichgewicht oder auch Leerheit genannt. In dem Kapitel „Sein-Zeit“ erläutert Dôgen die buddhistische Lehre des Augenblicks im Hier und Jetzt und Nishijima Roshi betont dabei, dass die Vergangenheit lediglich eine Erinnerung ist und die Zukunft aus Erwartungen besteht. Weder die Vergangenheit noch die Zukunft sind danach die Wirklichkeit und Wahrheit selbst, denn diese gibt es nur im Handeln und im Gleichgewicht des gegenwärtigen Augenblicks. Dôgen sagt in diesem Zusammenhang:

"Die runde Verwirklichung vieler Monde ist nicht nur drei und drei vorn und drei und drei hinten. Wenn die vielen Monde ihre Rundheit verwirklichen, sind sie (aber auch) nicht nur (gedachte) drei und drei vorn und drei und drei hinten. "

Was ist damit gemeint? Die Redewendung "drei und drei vorn und drei und drei hinten" bedeutet im alten chinesischen Sprachgebrauch, dass etwas abzählbar ist, dies ist also ganz konkret die materielle Sicht der Dinge. Dôgen betont hier, dass mit einer solchen Zählweise die Wirklichkeit nicht ausreichend gesehen, beschrieben und erfahren werden kann. Wenn man zum Beispiel abzählt, wie viele verschiedene Formen der Mond im Laufe eines Monats hat, kann man ihn damit nicht richtig beschreiben. Er begründet seine Sicht und zitiert Shakyamuni Buddha:

"Buddhas wahrer Dharma-Körperist genau so wie der Raum.Seine Form offenbart sich den Dingen entsprechend.Er ist wie der Mond im Wasser. "

Mit dem wahren Dharma-Körper ist die umfassende Wirklichkeit gemeint, die zwar körperlich erscheint, aber weit mehr ist. Der Raum hat im Buddhismus eine doppelte Bedeutung; er ist zum einen materielles Element wie im alten Indien und zum anderen ist er bedeutungsgleich mit der Leerheit, die Nishijima Roshi als Gleichgewicht bezeichnet und die im Shôbôgenzô meist Erwachen heißt. Die Dinge der Welt offenbaren sich für den Menschen umfassend im Gleichgewicht. Wer also erwacht ist, hängt nicht mehr nur an der äußeren Form und Materie, die man sehen und berühren kann sondern geht darüber hinaus und dies sei dasselbe wie der Mond im Wasser. Das Bild des sich im Wasser spiegelnden Mondes wird mehrfach im Shobogenzo verwendet. Es hat die Bedeutung des wahren Mondes, des wahren Wassers, der Verbindung beider, ohne dass sie sich gegenseitig als Subjekt und Objekt gegenüberstehen oder gar behindern. Dôgen sagt dazu:

"Die hundert Dinge und zehntausend Phänomene verwirklichen sich so wie sie sind und sie sind Buddhas wahrer Dharma-Körper und wie der Mond im Wasser."

Dôgen geht dann auf die wirkliche Zeit des Erlebens und Erfahrens ein. Wir wissen heute, dass der Mond im Sonnensystem sich in einem genau zu berechnenden Zyklus um die Erde bewegt und dass beide wiederum um die Sonne kreisen. Diese naturwissenschaftlich exakte Angabe der Laufbahn des Mondes kannte Dôgen natürlich noch nicht. Sie entstammt dem naturwissenschaftlich materiellen Verständnis der Welt und wurde seit dem 19. Jahrhundert auch bezeichnend „Himmelsmechanik“ genannt. Man konnte zu Dôgens Zeiten natürlich die verschiedenen Phasen des Mondes genau beobachten, wie etwa die Phase des Neumondes, der abnehmende und zunehmende schmalen Sichel und des Halbmondes.

Dabei müssen aber die Gedankeninhalte und das wirkliche Erleben in der Sein-Zeit nach Dôgen klar unterschieden werden. Im Hier und Jetzt erlebt man nur je einen Mond im gegenwärtigen Augenblick und wenn man offen dafür ist, sind die Gedanken an andere Mondphasen und Formen der gesehenen Mondscheibe nur Erinnerung oder Erwartung, sie haben aber überhaupt keine wahre Erlebnisqualität der Wirklichkeit. Damit unterscheidet sich das gedachte Bild des Mondes von der wirklichen Erfahrung in der Wirklichkeit und nach Dôgen ist nur dies der wahre Mond.

Der Mond ist aber auch oft Gegenstand romantischer Schwärmerei, gefühlsbetonter Gedichte, um nicht zu sagen sentimentaler Beschreibungen. Dabei werden Ideen und Fantasien zum Mond durch Worte erzeugt, die von dem wirklichen Erleben und Erfahren unterschieden werden müssen. Dôgen sagt uns, dass wir uns derartigen romantischen Gefühlen eventuell hingeben können, wenn wir uns voll bewusst sind, dass es nicht die Wirklichkeit ist sondern nur eine romantische Vorstellung. Er betont weiterhin, dass derartige Fantasien viel weniger Schönheit und Kraft besitzen als die Wirklichkeit des Mondes selbst!

Auch Beobachtungen und Überlegungen, auf welche Weise der Mond die Dinge beleuchtet, stammen häufig aus dem Bereich des Denkens und sollten von dem unmittelbaren Erleben und der Praxis unterschieden werden. Gleiches gilt für Bezeichnungen wie "alter" oder "neuer" Mond. Hierbei werden Vergleiche gezogen und Vorstellungen eingebracht, deren es in der Wirklichkeit gar nicht bedarf. Dôgen zitiert hier einen alten Meister mit dem folgenden Gedicht:
"Geist-Mond allein und rund.Licht verschlingt Zehntausende Phänomene. Licht erleuchtet weder Dingenoch gibt es überhaupt Dinge. Licht und Dinge verschwinden beide,was ist das? "
Mit dem „Geist-Mond“ ist die ganze Wirklichkeit und Wahrheit gemeint und „allein und rund“ bedeutet, dass es vollkommen ist so wie es ist, dass nichts fehlt und nichts hinzugefügt werden kann. Dôgen sagt selbst hierzu:

"Weil (die Buddhas) diese (Einheit des Lichts mit den Dingen) verwirklicht haben, erscheinen sie sogleich mit dem Körper eines Buddhas und lehren den Dharma, wenn die Menschen durch den Körper eines Buddhas befreit werden müssen. Und sie erscheinen sogleich mit einem gewöhnlichen Körper und lehren den Dharma, wenn die Menschen durch einen gewöhnlichen Körper befreit werden müssen. "

Damit ist auf eine zentrale Aussage des Bodhisattva-Handelns verwiesen: Der helfende Bodhisattva nimmt die Form oder den Geist an, in denen er am besten helfen kann und die am besten geeignet sind, eine wirklich wirkungsvolle Hilfe zu leisten. Der Begriff "Geist" bedeutet hier nicht etwas Gedachtes, Abstraktes oder Spirituelles, sondern wird z. B. im Kapitel: "Geist hier und jetzt ist Buddha" beschrieben, bedeutet also das konkrete Handeln im Zustand des Gleichgewichts und nicht gedachte Vorstellungen, die nur im Bereich der Ideen angesiedelt sind.
Dôgen gibt anschließend ein berühmtes Gespräch zwischen einem Mönch und einem Meister wieder: Ein Mönch fragte einst den Meister:

"Wie ist der Mond, wenn er noch nicht rund ist?"
Der Meister antwortete: "Er verschlingt drei oder vier (Monde)."
Der Mönch fragte weiter: "Und nachdem er rund geworden ist?"
Der Meister sagte: "Dann speit er sieben oder acht (Monde) aus."

Dieses Koan ist bei Dôgen auch in der Sammlung von 301 Koan-Geschichten (Shinji Shôbôgenzô) enthalten und ist in der Tat zunächst recht rätselhaft. Was soll es heißen, dass der Mond drei oder vier andere Monde verschlingt und dann sieben oder acht ausspuckt? Nishijima Roshi erklärt dies folgendermaßen: Zunächst wird beschrieben, dass man durch Ideen und Ideologien die Vielfalt der Welt und Dinge fälschlich vereinfacht, also aus drei oder vier wirklichen Monden nur einen einzigen gedachten macht und auf diese Weise die Wirklichkeit verzerrt und grob vereinfacht. Wir alle kennen ideologische Menschen, die nach einem sehr einfachen Schema die Welt einteilen und bewerten. Die heutigen Soziologen würden vermutlich sagen, dass die Komplexität der Welt unsachgemäß reduziert wird und Meister Dôgen will uns davor warnen, weil natürlich durch grobe Vereinfachungen auch erhebliche Gefahren für unser Leben Entstehen können. Die Idee eines Mondes ist also nicht die Wirklichkeit selbst und unterscheidet sich so grundsätzlich von dem wirklichen Mond.

In der zweiten Aussage heißt es, dass sieben oder acht Monde ausgespieen werden. Dies bedeutet, dass man im erwachten Zustand des Gleichgewichtes seine sieben, acht oder noch mehr Ideologien wegwirft, um die Wirklichkeit selbst zu erfahren und zu erleben. Die Zahl sieben oder acht bedeutet also „sehr viele“ Ideologien und Vorstellungen, die aber der Wirklichkeit überhaupt nicht entsprechen.

Am Ende dieses kurzen, aber außerordentlich wichtigen Kapitels beschreibt Meister Dôgen das Bild, wie Wolken vor einem Mond vorbeiziehen und wir das subjektive Gefühl haben, dass sich beide bewegen, dass also der Mond sozusagen gegen die Wolke wandert. Die wesentliche Aussage hierbei ist, dass im wirklichen Leben zwei Objekte wie die Wolke und der Mond gar nicht unterschieden werden können und dass unsere Wahrnehmung und Beobachtung uns leicht einen Schein vorgaukelt, den es so in der Wirklichkeit nicht gibt.

In diesem Fall sagt uns Dôgen, dass der Beobachter, die Wolke und der Mond je im Augenblick eine Einheit bilden, dass das wirkliche Erleben ein Handeln ist und dass sich die Ideen und Illusionen von einem Mond als Wirklichkeit ablösen müssen, wenn das Gleichgewicht und das Erwachen verwirklicht sind. Er geht dann auf die Redewendung ein, dass bei einem gespaltenen Geist es "den ersten und den zweiten Mond" gibt und will damit sagen, dass derartige Unterteilungen in der Vorstellung und im Denken bestehen, aber nicht in der Wirklichkeit selbst.