Sonntag, 28. Oktober 2012

Freiheit ist handelnder Buddha



Dōgen eröffnet einen radikal neuen Aspekt des Handelns: Der Zustand des handelnden Buddhas „lehrt die menschlichen Wesen“. Mit dieser interessanten Formulierung sagt Dōgen nicht, dass Gautama Buddha als eine bestimmte historische Person die Menschen lehrt, sondern dass sein Handeln, sein wahres, reines Handeln uns lehrt. Dieses Handeln ist gleichzeitig die Tugend und die Wirklichkeit, und diese sind die Tatsachen der Welt und unseres Lebens. Genau bei diesem Buddha-Handeln gibt es keine Trennung zwischen der Wirklichkeit und uns und es besteht nach Dōgen keine Abtrennung zwischen uns selbst und anderen Menschen, zwischen Subjekt und Objekt. Und dieses Handeln als Befreiung ist unser natürlicher Zustand und steht uns daher allen offen.

Das Lotus-Sūtra vergleicht diesen Zustand mit den „sich öffnenden Blumen“, sodass sich auch die Schönheit genau dann ereignet und verwirklicht. Damit werden die Worte überschritten, wie es auch Meister Ungo Doyo ausdrückt: „Dann sind viele Worte nicht nützlich.“ Obgleich Dōgen ohne Zweifel geschriebenes und gesprochenes Wort des Buddha-Dharma sehr hoch schätzt, kennt er sehr wohl die Grenzen und Möglichkeiten der Sprache und schätzt das wahre, reine Handeln als Kern des Buddhismus höher ein. Der Mensch ist sozusagen vor Allem der Träger des Handelns und der Handlungen, das Handeln selbst ist die Hauptsache und es ist die Wirklichkeit. Nach meiner festen Überzeugung ist dies die tiefe Bedeutung des Sanskrit-Wortes Karma. Das Karma prägt unser Leben ganz entscheidend. Dabei ist falsches Handeln unnatürlich und hat negative Folgen für das nachfolgende Leben. Wahres Handeln ist Freiheit und Einheit.

Eine solche Lebensphilosophie des Handelns als Wirklichkeit und Befreiung ist im Westen kaum bekannt. Hier steht der Mensch als physische und psychische Einheit im Mittelpunkt, fast wie ein „Ding mit Geist“ und Bewusstsein. Man betrachtet ihn als Individuum, das bestimmte Gefühlen und Ideen besitzt und sich mehr oder minder bewusst entscheiden kann. Der Mensch ist danach eine genau definierte und abgegrenzte Person, er ist da und handelt dann. Seit den Anfängen der griechischen Philosophie sind zudem das Handeln und philosophische Denken voneinander weitgehend getrennt. Bei den antiken Griechen wird das Handeln grundsätzlich geringer geschätzt als Denken und Reden, sie stehen – vor allem im Dialog – wie bei Platon im Mittelpunkt. Bei Dōgen wird die Trennung zwischen dem Ich und den anderen aber gerade durch das Handeln aufgehoben, im Handeln finden wir die ersehnte Einheit wieder:

„Genau hier und jetzt kommt (das wahre Handeln) vom Tushita-Himmel. Genau hier und jetzt geht es (das wahre Handeln) zum Frieden und zum Glück.“

Die Bezeichnung „Tushita-Himmel“ wird bisweilen für den Himmel des Amitabha-Buddha verwendet; Dōgen meint damit auch die Zazen-Praxis. Dadurch wird deutlich: Die Zazen-Praxis ist also keine Askese, keine anstrengende Trainingseinheit für ein schwer zu erreichendes Ziel. Es geht auch nicht darum, Schmerzen auszuhalten, Härte zu zeigen und sich selbst zu beweisen, was man alles durchstehen kann, sondern Zazen ist der Zustand des Friedens und des Glücks, es ist Handeln in der reinsten Form und es ist Befreiung.

Sonntag, 14. Oktober 2012

Handeln ohne Beschränkungen





Ohne eigene Erfahrung und Praxis ist es nach Dōgen nicht möglich, den höchsten Zustand, den man als Erwachen bezeichnet, zu erreichen. Heute bezeichnen wir dies als Primär-Erfahrung. Wer zum Beispiel in einem buddhistischen Land keine unverstellte Erfahrung der Wirklichkeit hat, weil er schon alles durch die Brille einer buddhistischen Dogmatik sieht, kann nicht erwachen; auch wenn er verbal fast alles über Erwachen sagen kann. Dōgen empfindet tiefes Mitleid mit solchen fehlgeleiteten Schülern, die diesem Irrglauben ohne Primär-Erfahrung anhängen, und er bedauert besonders ihren negativen Einfluss auf andere Menschen:
„Die Wurzeln des falschen Handelns dieser Menschen sind (leider) tief und fest.“

Die schwere Last und Bürde, die diese Menschen tragen, haben sie allerdings leider selbst erzeugt. Dōgen rät ihnen, diese Last fallen zu lassen und mit neuen Augen die Wirklichkeit des Lebens anzuschauen. Denn wenn sie einfach in ihrem Raster weitermachen wie bisher, besteht keine Chance zur Veränderung: Zen-Geist ist und Anfänger-Geist. Auch die buddhistische Dogmatik ist dann ein Gefängnis und muss durch direktes Handeln im Gleichgewicht geknackt werden!

Dōgen bringt seine Ausführungen über die handelnden Buddhas auf den Punkt:

„Der ungehinderte Zustand der Gegenwart des wahren und reinen Verhaltens des handelnden Buddhas ist (nur) auf den Zustand des Buddhas selbst fokussiert. In (diesem Zustand) gibt es keinerlei Beschränkung, weil der kraftvolle Weg (im Alltag) gemeistert worden ist, sich durch den Schlamm zu schleppen und im Wasser zu stehen.“

Im alten chinesischen Sprachgebrauch redet man stellvertretend für die Schwierigkeiten des Alltags vom Waten durch den Schlamm und Stehen im Wasser. Gleichzeitig beschreibt diese Redewendung das Handeln und die Bewegung. Es geht also nicht um einen statischen Zustand, den manche fälschlicherweise mit buddhistischen Begriffen assoziieren. Das kraftvolle Handeln der Buddhas und erwachten Menschen wird nicht durch irgendwelche Blockaden behindert.
Insbesondere wird es nicht durch Gedankenfixierungen, Ideologien und emotionale Barrieren eingeschränkt. Der Zustand des handelnden Buddhas erfährt auch von außen keine Einschränkung, sondern lebt aus sich selbst in voller Freiheit:

„Die handelnden Buddhas sind nur auf sich selbst fokussiert.“

Etwas überraschend ist in diesem Zitat von „Fokussierung“ die Rede. Wie ist das gemeint? Da dieses Selbst das große, geöffnete, unbegrenzte Selbst und nicht das kleine isolierte Ich oder Ego ist, bedeutet die Aussage, dass der ganze Kosmos, die anderen Menschen und das gesamte Universum einbezogen werden. Es handelt sich also nicht um eine Abgrenzung im üblichen Sinne, sondern gerade um eine Erweiterung, die weder durch innere Hindernisse und Grenzen noch durch äußere einengende Einflüsse gefesselt wird. Fokussiert heißt also, dass es keine verfälschenden Einflüsse gibt.

„(Das Handeln der Buddhas) hat die Tugend der sich öffnenden Blumen.“

Dieser Vergleich stellt einen Bezug zum Lotos-Sūtra her und wird im Zen-Buddhismus vielfach als Symbol verwendet, um sowohl die Verbindung zu den konkreten Dingen und Phänomenen wie Blumen und Pflanzen aufzubauen, als auch auf die Schönheit dieser Welt hinzuweisen. Dōgen ergänzt hierzu, dass das Handeln

„die Tugend des Erscheinens der Welt hat, ohne irgendeinen Abstand zwischen allen Dingen, Phänomenen und der Wahrheit.“

Damit weist er auf die in der Welt vorliegenden Fakten hin, die ein wesentlicher Bestandteil des buddhistischen Handelns sind und nicht vernachlässigt werden dürfen. Ein träumerischer Idealismus, der sich von Tatsachen und Fakten verabschiedet hat, ist laut Dōgen ungeeignet, wenn man den buddhistischen Weg gehen möchte. Der Dualismus, die Trennung von Subjekt und Objekt, muss überwunden werden und dies vollzieht sich genau im reinen, wahren Handeln.

Sonntag, 7. Oktober 2012

Handeln ist kein Wetterleuchten des Geistes!




Ein allzu sehr auf den gewöhnlichen Menschen bezogenes Verständnis des Buddhismus kann nicht zur wahren buddhistischen Lehre und Praxis führen. Nur dann sind alle praktischen Tätigkeiten des Alltags sowie die sinnlichen Wahrnehmungen im Einklang mit der buddhistischen Wirklichkeit!

Vermutlich spricht Dōgen solche buddhistischen Gruppen und Übertragungslinien an, die er nicht für authentisch hält, die die Lebenswirklichkeit des Handelns nicht konkret kennen und den Dharma nicht praktizieren. Sicher meint er auch Gruppen, die nicht Zazen praktizieren und in Theorien und Zeremonien gefangen sind.

Dōgen hält fest, dass viele verschiedenartige, zu seiner Zeit gelehrte Formen der Erleuchtung überhaupt nicht die Wirklichkeit des wahren und reinen Handelns erreichen. Sie verharren in dogmatischen traditionellen Lehren und liebgewordenen Ideen-Konstrukten ohne großen Wahrheitsgehalt. Sie sind nur nettes Wetterleuchten im Geist ohne Kraft und ohne Entwicklungs-Potential. Dies gilt nicht zuletzt für bestimmte buddhistische Lehren, die vielleicht sogar als heilig und unantastbar anerkannt waren.

Für Dōgen ist es von großer Bedeutung, ernste Fragen zu stellen und nichts ungeprüft hinzunehmen. Für solches Verhalten sind sogar heilige Hierarchien auch in heutigen buddhistischen Gruppen bestimmt hinderlich.

Auch Begriffe und Vorstellungen von der Achtsamkeit oder der Nicht-Achtsamkeit erreichen nicht das Handeln selbst. Das behandelt Dōgen in den Kapiteln über die Lotus- Sūtra und das Lesen der Sūtras. Ob man Erleuchtung erlangt hat oder ohne Erleuchtung ist, oder ob man „erlernte Erleuchtung“ oder „ursprüngliche Erleuchtung“ hat, sind laut Dōgen
„nur aufgeregte Gedanken der gewöhnlichen Menschen und sie werden hektisch von den gewöhnlichen Menschen der Gegenwart hin- und hergewälzt.“

Im Verhältnis zum Handeln in seiner Einfachheit und Reinheit seien dies jedoch nur Gehirntätigkeiten, die letztlich nicht weiterführen. Solche Denkgebäude würden sich auch nicht im Einklang mit dem authentischen Buddha-Dharma befinden.

Dōgen arbeitet dann heraus, dass sich die Achtsamkeit als Begriff und Vorstellung bei den gewöhnlichen Menschen fundamental von der Achtsamkeit der handelnden Buddhas unterscheidet. Davon ist im großen Sūtra der Achtsamkeit des frühen Buddhismus die Rede, in dem auch die Vier Edlen Wahrheiten, die Fünf Hemmnisse des Erwachens und vor allem der Achtfache Pfad enthalten sind. Im Kapitel des Shōbōgenzō über die 37 Elemente des Erwachens bespricht Dōgen die Achtsamkeit ebenfalls detailliert.

Er lehnt sie also keineswegs ab, sondern führt sie durch die Praxis des wahren und reinen Handelns auf ihren Kern zurück.

Montag, 1. Oktober 2012

Die handelnden Buddhas und das Universum



„Jene (Menschen), die sagen, dass die Buddhas sich nur im menschlichen Bereich manifestieren, sind von der äußeren Peripherie der großen Meister aus (nicht weit in den Buddha-Dharma) hineingekommen.“

Damit möchte Dōgen ausdrücken, dass die Buddhas nicht auf die menschliche Welt beschränkt sind, sondern die Natur und das ganze Universum einbeziehen. Die großen Meister, die diese Tatsache erfasst haben, haben also eine fundamentale Grenze und Schwelle weit hinter sich gelassen, welche die gewöhnlichen Menschen nur teilweise und nur ein kleines Stück überschreiten. In einem anderen Kapitel führt Dōgen aus, dass die Natur selbst den Dharma lehrt, also selbst die Wirklichkeit ist.

Dann zitiert Dōgen seinen eigenen Meister Tendō Nyojō:
„Shākyamuni Buddha ging in den Tushita-Himmel, um die Götter von Tushita zu lehren, nachdem er die Übertragung des wahren Dharma vom Kāshyapa Buddha empfangen hat, und er ist jetzt noch dort.“

Vorab ein paar Hinweise zu den im Zitat genannten Namen: Kāshyapa Buddha ist ein legendärer Buddha, der vor der Zeit von Shākyamuni Buddha in der Welt war. Tushita ist nach alter indischer Legende ein Himmel, in dem die Götter leben. Aber diese Götter sind nicht auf Ewigkeit dort, sondern müssen wiedergeboren werden, wenn sie ihr gutes Karma aufgebraucht haben. Dōgen verwendet dieses Gleichnis, um herauszuarbeiten, dass Shākyamuni Buddha nicht auf die Menschenwelt beschränkt ist und durch sein Lehren immer weiter tätig bleibt. Sein Handeln findet also niemals ein Ende.

Die Lehre, dass Gautama Buddha nach seinem Dahinscheiden in das Nirvāna eingegangen ist, wird im Lotos-Sūtra als „geschicktes Mittel“ verwendet, um die Menschen zu lehren. Dōgen betont, dass für die buddhistischen Schüler Buddhas Sprache, sein Handeln und sein Lehren in der menschlichen Welt nur eine bestimmte Dimension seines umfassenden Wirkens darstellen. Dies gilt für die unzähligen Veränderungen und Verwandlungen seines Lehrens. Das Handeln der Buddhas überschreitet alle Lehren und Theorien über die Zeit, also zum Beispiel über die lineare Zeit. Aber das Handeln überschreitet auch die Lehre vom Augenblick, denn ohne Tun und Handeln ist auch dies nur eine theoretische Lehre, über die das reale Handeln als direkte Wirklichkeit weit hinausgeht. Diese Wahrheit ist laut Dōgen im Buddhismus authentisch übermittelt, aber sie ist leider für viele Menschen eine völlig unbekannte Qualität.

„An den Orten, an denen der handelnde Buddha die Lehre erweckt, existieren Lebewesen jenseits von (der Aussage) ‚der vier Arten der Geburt‘ und es mögen Orte jenseits von den Begriffen ‚Himmel über uns‘; menschlicher Bereich’; Welt des Dharma‘ und Ähnlichen existieren.“

Mit dieser Aufzählung sind Formulierungen und Ideen gemeint, die lediglich auf der Begriffs- und Denkebene des Buddhismus stehen bleiben und die Wirklichkeit des Handelns nicht erreichen können. Laut Dōgen kann man mit den Augen der Götter im Himmel und noch weniger mit den menschlichen Augen kaum einen Eindruck vom reinen, wahren Handeln der Buddhas bekommen – vor allem aber nicht mit emotionsgesteuertem Denken: „Habt nicht das Ziel, (das wahre Handeln) mit solchen Mitteln auszuloten.“

Diese Mittel seien ungeeignete „Werkzeuge“ und selbst die Bodhisattvas seien dazu nicht in der Lage, stellt Dōgen fest und ergänzt: „Wie viel weniger kann der berechnende Verstand der menschlichen Welt und des Himmels, der über (uns ist), das erreichen.“ Das menschliche, angesammelte Wissen sei kurz und schmal, genau wie die menschliche Überlegung. Außerdem sei unsere Lebensdauer begrenzt, wie zusammengepresst, und dies gelte auch für den Intellekt. Damit könne das Verhalten der handelnden Buddhas unmöglich erfasst werden. Dōgen warnt uns davor, dass wir die menschliche Welt mit dem Buddha-Dharma gleichsetzen und dass wir gewöhnliche „menschliche Methoden“ so betrachten, als ob sie der Buddha-Dharma seien. Menschen, die das glauben, sind durch ihr eigenes Verhalten und ihr Karma gefangen und können sich nicht befreien. Dōgen drückt es folgendermaßen aus:

„Sie haben niemals das Hören des Buddha-Dharma durch Körper-und-Geist erfahren und sie haben niemals einen Körper-und-Geist besessen, der die Wahrheit praktizierte.“