Samstag, 14. Juli 2018

Wer hat eigentlich die Buddha-Natur?




Dôgen zitiert wortgetreu den großen nationalen Zen-Meister Enkan Sai-an[i], der lehrte: „Alle Lebewesen haben die Buddha-Natur!“[ii] Und der Mensch sei nur ein Beispiel für die verschiedenen Lebewesen auf der Welt. Dôgen fügt hinzu, dass alle Lebewesen einen Geist haben. Er setzt offensichtlich Geist und Buddha-Natur gleich. Das bringt m. E. mehr Klarheit in den recht unbestimmten Begriff des Geistes, denn die Buddha-Natur beschreibt Dogen recht genau aufgrund seiner eigenen tiefgründigen Erfahrung. Er stellt dabei das jeweilige Handeln in den Mittelpunkt und lehnt die Vorstellung als Ding im Gegensatz zu anderen eindeutig ab.

Und er erweitert mit diesem Zitat die Bedeutung der Buddha-Natur: Bisher war nur von Menschen die Rede, und es ging um die Frage, wann und ob sie die Buddha-Natur haben und ob sie die Buddha-Natur sind oder nicht. Dôgen geht sogar noch weiter als Enkan Sai-an, indem er die Buddha-Natur außerdem auf die belebte und die nicht-belebte Natur bezieht. Dabei wird der Unterschied zur westlichen Philosophie besonders deutlich: Wir postulieren nicht nur, dass allein der Mensch die Qualität des Geistes besitzt und sich damit von den Tieren fundamental unterscheidet, beziehungsweise sich über sie erhebt, sondern wir unterscheiden auch rigoros zwischen der belebten und nicht-belebten Natur. Dagegen sagt Dôgen:

„Gras, Bäume und Länder sind selbst Geist. Weil sie Geist sind, sind sie lebende Wesen. Und weil sie lebende Wesen sind, haben sie die Buddha-Natur.“

Damit wir die Ganzheit von Mensch, Lebewesen und Natur unterstrichen und der Dualismus negiert. In diesem Sinne zählt er dann auch die Sonne, den Mond und die Sterne auf und erklärt, dass sie „selbst Geist sind“.

Als logische Schlussfolgerung heißt das, sie sind auch Buddha-Natur. Hier betonen Nishijima und Cross[iii], dass aufgrund der Bedeutung des von Dôgen verwendeten japanischen Wortes zugleich ganz klar ist, dass auch sie die Buddha-Natur sind und nicht nur haben. Wie in der tradierten Aussage von Gautama Buddha dürfen wir die Formulierung „die Buddha-Natur haben“ auch hier nicht im Sinne des Besitzens oder Nicht-Besitzens verstehen, sondern als lebendige Wahrheit. Und diese Wahrheit ist untrennbar mit der Buddha-Natur verbunden Dann folgt ein verblüffender Satz:

„Jene, die ganz und gar verschieden von den Lebewesen (Buddhas) sind, mögen jenseits davon sein, die Buddha-Natur zu haben.“

Wer unklar ist, glaubt also an die Buddha-Natur als Ding, die man haben kann. Hierzu erläutern Nishijima und Cross, dass mit den Lebewesen hier die Buddhas gemeint sind.[iv] Damit wird die Aussage bekräftigt, dass alle Lebewesen die Buddha-Natur sind.

Dôgen regt uns nachdrücklich an, dass wir dem nationalen Meister folgende Frage stellen sollen: „Haben alle Buddhas die Buddha-Natur oder nicht?“ Auf diese Weise sollen wir den großen buddhistischen Meister auf die Probe stellen, um zu erfahren, wie er seine Aussage begründen würde. Und mit Nachdruck wiederholt er, dass der nationale Meister sich von dem Begriff des Habens und als Ding unbedingt verabschieden muss.





[i] Enkan Sai-an war Nachfolger von Baso Do-itsu, er starb 842.
[ii] Shinji Shobogenzo, Bd. 2, Nr. 15
[iii] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 22, Fußnote 99
[iv] ebd., Fußnote 100