Freitag, 28. Oktober 2016

Den gefährlichen Wald-Dämon überlisten


Buddha berichtet die Geschichte des Dämons Mara, um den es in diesem aussagekräftigen Gleichnis als Wild-Fütterer geht und der unserem Teufel gleicht. Dieses Gleichnis ist aus meiner Sicht besonders treffend für die Praxis gerade unseres heutigen Lebens in einer gefährlichen Welt. Wir werden ohne Zweifel immer wieder von gefährlichen Menschen und Mächten bedroht. Wie können wir uns dabei schützen, wo lauern unbekannte Gefahren und wie können wir mit Klugheit und Klarheit unser Leben verbessern?

Es geht darum, dass eine Herde von harmlosen und edlen Wildtieren, wie zum Beispiel Rehe oder Hirsche, vom bösen Mara nur gefüttert werden, um sie in die Falle zu locken, zu fangen und zu töten. Er lockt sie an eine bestimmte Stelle im Wald und sie finden dort köstliches Futter, das der gefährliche Dämon Mara dort absichtlich gestreut und ausgelegt hat. Sein Ziel ist es die Tiere der Herde auf diese Weise zu fangen, zu töten und zu fressen. Er ist also kein Wildhüter, der den Tieren hilft, sondern das Gegenteil, nämlich ein gerissener Fallensteller und Wilderer, der die Tiere fangen und töten will.

Buddha unterscheidet in diesem Gleichnis nun vier verschiedene Verhaltensweisen der Tiere, je nach dem, wie sie sich zu dem ausgelegten Futter locken lassen oder nicht und welche List Mara anwendet, um sie zu fangen.

„Da kam ein erstes Rudel angelockt von dem ausgestreuten Futter, fraß es unbedacht, wurde nachlässig und unvorsichtig und konnte deshalb dem Machtbereich des Wild-Fütterers nicht entgehen.“

Das erste Rudel wird also so beschrieben, dass es keine Selbststeuerung und Selbstkontrolle hatte, sich sofort ungebremst an dem Futter erfreute, nicht weiter darüber nachdachte, ob es gefährlich war und wie es für sie weiter ging und so dem Dämon erlag.

„Ein zweites Rudel merkte, wie es dem ersten ergangen war und wollte es nicht ebenso machen. Es hielt sich deshalb von dem ausgestreuten Futter ganz fern und zog sich in die Wildnis zurück. Im letzten Sommermonat aber, als Gras und Wasser vertrockneten, wurden die Tiere äußerst mager und verloren ihre Widerstandskraft.“

Sie konnten durch diese Schwächung der Verlockung des ausgestreuten Futters nicht widerstehen, weil es für sie auch keine Alternative mehr gab, überhaupt zu überleben. Es kam wie es kommen musste: Mara brachte sie in seine Gewalt; sie hatten keine Chance! Wie könnte nun das dritte Rudel der tödlichen Gefahr entgehen?

Ein drittes Rudel merkte, wie es den beiden anderen ergangen war und wählte deshalb seinen Standort zwar in der Nähe des ausgestreuten Futters, fraß das Futter aber bedachtsam, wurde nicht nachlässig und nicht unvorsichtig.“

Zunächst war diese Strategie erfolgreich, weil Mara nicht wusste, dass das Rudel sich nun direkt an der Stelle der Fütterung aufhielt und schnell bei Gefahr reagieren und sich in Sicherheit bringen konnte. So ging Mara sehr zu seinem Ärger ins Leere. Er sann auf List. Durch diese Misserfolge angestachelt, untersuchte er das Verhalten des Rudels sehr genau und stellte fest, dass es sich unmittelbar in der Nähe des Futterplatzes aufhielt und von dort aus dann zum Futter vorkam, wenn die Luft rein war. Mara dachte:

„Dieses dritte Rudel ist schlau und verschmitzt. Es ist wie verhext. Die Tiere fressen das Futter und wir wissen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen.“

Er errichtete mit seinen Gesellen heimtückisch einen Holzzaun um den Aufenthaltsort dieses Rudels und brachte sie damit ebenfalls in seine Gewalt. Auch hier war er also erfolgreich. Und das Rudel fiel ihm zum Opfer.

Buddha fuhr dann fort: Ein viertes Rudel merkte, wie es den anderen ergangen war und wollte nicht so handeln wie die anderen. Es wählte einen Standort dort, wohin der Wild-Fütterer und seine Gesellen keinen Zugang hatten.

„Die Tiere ließen sich von dem ausgestreuten leckeren Futter nicht anlocken, fraßen es nicht unbedacht, wurden nicht nachlässig und nicht unvorsichtig und ließen sich nicht fangen.“

Mara hatte nun seine Möglichkeiten ausgeschöpft, denn er konnte um den Standort dieses Rudels keinen Zaun errichten, weil er den Ort nicht kannte und keinen Zugang hatte. Mara und seine Gesellen kamen zu dem weisen Schluss: „Kümmern wir uns also nicht mehr um dieses vierte Rudel!“ Es gebe auch andere Rudel, die leicht zu fangen seien. Sie verloren das Interesse an dem geschickten unauffälligen vierten Rudel. Und tatsächlich kümmerten sich die Wild-Fütterer und seine Gesellen dann nicht mehr um das vierte Rudel, und so konnte dieses dem Machtbereich des Maras entgehen.

Es liegt auf der Hand, dass sich Buddhas Geschichte direkt auf unser eigenes praktisches Leben mit seinen Gefahren und auch seinen Feinden bezieht. Wenn man sich den Verlockungen hingibt und die Selbststeuerung verliert, hat man nur geringe Chancen gut zu leben und zu überleben. Besonders muss aus psychologischer Sicht unterstrichen werden, dass sich derartige unkontrollierte Verhaltensweisen beim Menschen mit der Zeit immer mehr verfestigen und immer mehr zur unbewussten und unkontrollierten Sucht werden können. Dies gilt natürlich besonders für Suchtmittel wie Drogen, Alkohol, Glücksspiel, aber auch für Sex, Überernährung, ungesundes Essen und Bewegungsmangel.

Aber auch die total entgegengesetzte Lebensweise der Askese und der überzogenen Entsagung bringt nichts, weil dadurch Körper und Geist soweit geschwächt werden, dass irgendwann der Widerstand und die Lebenskraft aufgebraucht sind und dass es dadurch zu Abhängigkeit und Aufgeben der Selbststeuerung kommt.

Die mittlere obige Strategie der Tiere, die aber zu durchsichtig ist und von den listigen Gegnern durchschaut werden kann, bringt wenig, weil diese dann an der empfindlichen Stelle angreifen und ihre Opfer in ihre Gewalt bringen können.
Die vierte Alternative ist die erfolgreiche! Sie bezeichnet den Mittleren Weg, der die Extreme der ungesteuerten Genusssucht und der Askese vermeidet und auch keine durchsichtigen Manöver zum eigenen Schutz ergreift. Die vierte Gruppe entwickelt und realisiert eine geschickte und wirksame Strategie in der Situation und überlebt unbeschadet. Dabei ist es besonders wichtig, dass der Gegner die eigene Strategie nicht durchschauen kann, sodass er schließlich von seinem Vorhaben ablässt und sich anderen für ihn interessanteren und vorteilhaften Aktivitäten zuwendet. Böse Akteure haben selten Geduld und Ausdauer. Das ist der gute mittlere Weg.

Ich möchte hinzufügen, dass ich die obige Strategie im Berufsleben mehrfach angewendet habe. Und zwar mit Erfolg.


Sonntag, 23. Oktober 2016

Das Floß zum anderen Ufer, zum großen Frieden


Buddha erklärt seinen Schülern das Gleichnis vom Floß, das zum Überqueren des trennenden Wassers benutzt wird. Er fragt: Sollte das Floß danach auch am anderen sicheren Ufer aufbewahrt und weiter benutzt werden? Sollen wir es auf dem Rücken mühsam an Land weiter tragen?
„Ein Wanderer sieht auf seinem Wege vor sich eine große breite Wasserflut. Das diesseitige Ufer ist unsicher und gefährlich, das jenseitige Ufer dagegen sicher und ohne Gefahr. Er möchte daher unbedingt an das andere Ufer. Es ist aber kein Schiff zum Übersetzen und keine Brücke zum anderen Ufer vorhanden. Da überlegt er: vielleicht könnte ich Holzstämme, Zweige, Schilf und trockene Blätter sammeln, mir daraus ein Floß bauen und auf diesem Floß mit Händen und Füßen rudernd heil an das andere Ufer gelangen?“

Diesen Plan führt er aus und kommt tatsächlich heil an das andere Ufer. Dort angelangt denkt er: „Dieses Floß war mir von großem Nutzen, ich will es mir auf den Kopf und auf die Schultern laden und mitnehmen, wohin ich auch an Land weiter gehen werde.“

Buddha fragt daraufhin seine Mönche, ob dies ein sinnvolles, praktikables und wirkungsvolles Vorgehen sei, denn in der Tat war das Floß ein ausgezeichnetes Hilfsmittel, um auf das sichere Ufer zu gelangen und sich aus Schwierigkeiten und Problemen an die andere Seite zu retten.
Die Mönche antworteten völlig zu Recht, dass das kein sinnvolles Verhalten sei, weil das Floß auf dem hiesigen sicheren Lande überhaupt keinen Nutzen mehr habe. Es sei daher besser, das Floß zurückzulassen, nicht weiter mit sich zu schleppen und in der neu gewonnenen Freiheit auf dem Land unbeschwert seinen neuen Weg zu gehen.

Dieses Gleichnis formuliert den buddhistischen Weg der Emanzipation und Befreiung, für dessen schwierigen Teil man Hilfen und Werkzeuge gut gebrauchen kann oder deutlicher gesagt: Ohne solche Hilfsmittel ist das Übersetzen in eine bessere Lebenswelt kaum möglich. Solche Hilfsmittel sind für die Unterstützung durch die buddhistische Lehre sinnvoll: zum Beispiel die Vier Edlen Wahrheiten und die Vermeidung von Extremen, durch Beratung, die gemeinsame Arbeit mit Lehrern und anderen Menschen und durch buddhistische Werkzeuge.

Das Ziel des Buddhismus ist es also, dass man die Theorie der buddhistischen Lehre übersteigt und überflüssig macht und sich auch von Lehrern und Meistern durch eigene Praxis und Erfahrung unabhängig macht. Jeder geht schließlich seinen eigenen Wahrheits-Weg, entsprechend seiner ganz bestimmten Konstitution und nach seinen Möglichkeiten und Potentialen für die Weiterentwicklung und Emanzipation. Die buddhistische Lehre ist also keine Doktrin, abstrakte Metaphysik oder Ontologie, die immer und überall in gleicher Weise für alle Menschen die absolute Wahrheit garantieren soll. Diese gibt es nicht als Paket. Es kommt viel mehr auf das eigene Erleben und die sich laufend erweiternde Klarheit und Weitsichtigkeit auf dem buddhistischen Weg an. Dieser ist zum Beispiel im Achtfachen Pfad der Vier Edlen Wahrheiten zur Überwindung des Leidens beschrieben, aber kein Dogma.

Wo liegt denn eigentlich das trennende Wasser, das mit dem Floß überquert werden muss, um den großen Frieden in unserem Leben zu finden und darin zu verweilen und zu handeln?
Allein in uns selbst und besonders in unserem trennenden und getrennten Geist! Der große Frieden ist aber von uns selbst eigentlich überhaupt nicht getrennt. Unsere Vorurteile, inneren Schranken und zementierte Ideologien trennen uns ab. Und das ist ganz unnatürlich und überflüssig, um im großen Frieden zu leben!



Sonntag, 16. Oktober 2016

Der vergiftete Pfeil und Buddha-Handeln


Ein ehrwürdiger Schüler Buddhas meditierte an einem einsamen Ort und hatte folgende Gedanken:
Der Erhabene hat nichts darüber gelehrt, ob die Welt ewig oder nicht ewig, begrenzt oder unbegrenzt ist, ob Seele und Leib ein und dasselbe oder verschiedenes sind, ob ein Vollendeter nach dem Tode lebt oder nicht lebt oder sowohl lebt als auch nicht lebt, ob er weder lebt, noch nicht lebt. Dass mir der Erhabene darüber nichts erklärt hat, das gefällt mir nicht und befriedigt mich nicht.“

Er beschloss also direkt zu Gautama Buddha zu gehen, ihm seine Unzufriedenheit mitzuteilen und ihn sogar zu befragen, ob er überhaupt in der Lage ist, diese schwierigen aber für ihn doch so wichtigen Fragen zu beantworten. Wenn er das nicht könne, solle er das offen zugeben.

Buddha fragte ihn bei dem anschließenden Treffen, ob er zu ihm bei seinem Eintritt denn folgendes zugesagt habe:

„Komm in die (Sangha) und führe den reinen Wandel (der Befreiung und Emanzipation) bei mir.“ Habe ich Dir dabei versprochen zu erklären, „ob die Welt ewig oder nicht ewig“ usw. ist?

Der ehrwürdige Schüler gab zu, dass es eine solche Zusage von Buddha nicht gegeben habe. Buddha fragte ihn, worüber er sich denn eigentlich beklagen würde. Er fügte hinzu:

„Wenn jemand sagte, er wolle solange nicht den reinen Wandel beim Erhabenen führen, bis dieser ihm über jene Fragen belehrte, so würde dieser sterben, bevor der Erhabene ihn darüber belehren könnte“. Und ob dies wirklich wolle. Buddha erklärte ihm dann das berühmte Gleichnis des vergifteten Pfeils und erläuterte damit in eindringlicher Weise die Pragmatik und große Wirksamkeit der von ihm entwickelten Lehre:

„Nimm an ein Mensch sei von einem vergifteten Pfeil getroffen worden und seine Freunde und Verwandten holten einen tüchtigen Wundarzt. Der Verwundete sagte aber: "Nicht eher will ich den Pfeil herausziehen lassen, als bis ich weiß, ob der Mensch, der mich verwundet hat, ein Adliger oder ein Brahmane oder ein Bürger oder ein Schudra ist, wie er mit Vornamen und Familiennamen heißt, ob er groß oder klein oder von mittlerer Größe ist, ob seine Haut schwarz oder braun oder hell ist, aus welchem Dorf oder aus welcher Stadt er stammt, ob er einen Bogen oder eine Armbrust genutzt hat, woraus die Bogensehne besteht, welche Art der Pfeil ist“ usw. 

Die weiteren Fragen des schwer Verwundeten betrafen die Federn des Pfeil: z. B. von einem Geier oder einem Reiher oder von einem Habicht oder einem Hahn oder einem anderen Vogel. Weiter ging es ihm um die Sehne: ob sie von einem Rind oder einem Büffel oder Hirsch oder einem anderen Tier stamme. Außerdem welche Pfeilspitze verwendet wurde und wie sie beschaffen sei.

„Dieser Mensch würde sterben, bevor er alles dies erfahren hätte. Ebenso würde jemand, der mit dem reinen Wandel warten wollte, bis er über jene Fragen belehrt worden wäre, sterben, bevor man ihn darüber belehren könnte.“

Spekulative und abstrakte philosophische Fragen über die Welt sind ähnlich einzuschätzen, wie die Fragen zum vergifteten Pfeil. Sie würden nichts für die Probleme der Geburt, des Alterns, der Krankheit und des Sterbens, des Kummers, Jammers, Schmerzes, des Grams und der Verzweiflung beitragen, obgleich Buddha „deren wirkliche Überwindung schon in diesem Leben“ lehrt. Die philosophischen spekulativen Fragen zur Welt, zur Wiedergeburt, zum vorherigen oder zukünftigen Leben usw. würden bei der Überwindung des Leidens durch die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad nur schaden und ablenken. Buddha fuhr fort:

„Darum lasst das, was ich nicht erklärt habe unerklärt sein und haltet euch an das was ich euch erklärt habe. Nicht erklärt habe ich, ob die Welt ewig oder nicht ewig, begrenzt oder unbegrenzt ist, ob Seele und Leib dasselbe oder verschieden sind, ob ein Vollendeter nach dem Tod lebt oder nicht lebt. Ich habe es deshalb nicht erklärt, weil dies nicht zum Heil und zur Befreiung beiträgt“. All das könnte kein gutes und gelungenes Leben begründen. Die meisten dieser Fragen könnten überhaupt nicht beantwortet werden und das Leiden und die eigene Unklarheit hätten damit nichts zu tun. Erleuchtung, die Abwendung von Übel und Nirvana seien so nicht zu erreichen.

Er betonte, dass es vor allem darum ginge, das Übel des Lebens zu erklären, woraus es entstünde und entspringt. Aber vor allem wie das Übel aufhört und auf welchem Weg man es ausschalten und zur Ruhe bringen könne. Dies sei das wichtige Wissen zur Beruhigung, zum Erwachen, zum Nirvana und sei das, das er lehren würde.

Buddha legte sich also nicht einmal fest, wie diese Fragen zu beantworten seien. Er sagte vor allem nicht, dass irgendeine Antwort grundsätzlich falsch sei. Wenn also jemand darauf besteht, dass die Welt ewig ist oder umgekehrt abrupt endet, sei dies schlicht irrelevant und unwichtig. Es bliebe total offen, welche Wirkung und welchen Einfluss derartige Fragen auf das eigene Leben haben und die hoch spekulativen metaphysischen Antworten sind für das eigene Leben sicher nicht relevant.

Es geht also nicht darum, ob diese philosophischen Aussagen richtig oder falsch sind, sondern schlicht darum, dass sie keine Relevanz besitzen und im intellektuellen spekulativen Bereich hängen bleiben. Grübeln hilft nicht. Dabei sei es auch unwichtig, mit welchen Instrumenten der Mathematik, Logik, Rhetorik und mit welchen Analogien man diese Fragen und die möglichen Antworten angehen würde, denn es ginge um die Wirksamkeit der Befreiung und Emanzipation für das eigene Leben.

Spricht Buddha damit vielleicht auch die Frage der Relevanz der westlichen Philosophie für unser Leben hier und jetzt an?



Dienstag, 11. Oktober 2016

Die Buddha-Natur selbst erfahren und praktizieren


Dôgen erläutert, dass zum umfassenden Wissen und Erkennen der Buddha-Natur mehr als nur der Verstand und das logische Denken notwendig sind. Wir sollten die Buddha-Natur vielmehr praktizieren, sie erfahren, lehren und wieder aus unserem Gedächtnis verschwinden lassen. Hierzu zitiert er Gautama Buddha:

„Wenn wir die Bedeutung der Buddha-Natur (umfassend) kennen wollen,
sollten wir die wirkliche Zeit, die Ursachen und Umstände genau bedenken.
Wenn die Zeit gekommen ist,
manifestiert sich die Buddha-Natur vor uns.“
[i]

Gerade das praktische Handeln hebt Dôgen in diesem Kapitel in besonderer und – wie ich meine – einzigartiger Weise hervor. Es geht dabei nicht zuletzt um den Augenblick – also die wirkliche Zeit –, in dem die Realität, das heißt „solches Lehren, Praktizieren, Erfahren, Vergessen, falsch Verstehen, nicht falsch Verstehen“, stattfindet. Damit wird der Bedeutungsumfang der Buddha-Natur auf das ganze menschliche Leben erweitert, und auch Missverständnisse und Fehler werden explizit einbezogen. Die wahre Sein-Zeit zu bedenken, bedeutet im Augenblick zu handeln und die jeweiligen Gegebenheiten des Handelns von Ort und Zeit zu benutzen, die für die Buddha-Natur maßgeblich sind.

Wenn es im oben zitierten Gedicht Buddhas heißt, dass wir die wirkliche Zeit, die Ursachen und Umstände bedenken sollten, geht es gerade nicht um die Trennung von Subjekt und Objekt auf der Denkebene, bei der ein denkendes Subjekt, zum Beispiel ein Mensch, beispielsweise über die Zeit oder ein Objekt nachdenkt. Die von Dôgen angesprochene umfassende Reflexion darf daher nicht mit dualistischem Denken verwechselt werden, sondern sie muss als Tun und Verwirklichen im Augenblick hier und jetzt verstanden werden.

Die wahre Reflexion
„ist die Einheit der wirklichen Zeit und der Ursachen und der Umstände selbst. Sie ist die Transzendenz (der gewöhnlichen Vorstellung) von Ursachen und Umständen. Es ist die Buddha-Natur selbst“,

sagt Dôgen. Eine solche Buddha-Natur hat keine eigenständige Substanz, ist keine eigene Einheit oder Entität und schon gar kein gedachtes Objekt. Sie ist „Buddha als Buddha selbst und ist die natürliche Funktion als natürliche Funktion selbst“. Buddha können wir hier einfach als Wahrheit und Wirklichkeit verstehen und nicht nur als die historische Person Gautama Buddha. Die natürliche Funktion verweist auf natürliches Handeln und ist gerade keine dingliche Einheit wie ein Gegenstand oder auch ein Atom. Gleichzeitig ist damit eine Aufgabe in der Gesellschaft gemeint.

Im Folgenden untersucht Dôgen detailliert die dritte Zeile des Gedichtes – „Wenn die Zeit gekommen ist“ – und arbeitet dabei heraus, dass diese Aussage seit alten Zeiten häufig falsch verstanden wurde. Keinesfalls ist damit gemeint, dass wir auf etwas warten, was sich in Zukunft ereignen wird und für das wir vielleicht jetzt in der Gegenwart arbeiten. Wir sollen also nicht auf die Buddha-Natur warten und denken, dass sie sich in Zukunft vor uns manifestieren wird.

„Wenn sie mit dieser Haltung ihre Praxis fortsetzen (denken sie fälschlich, dass) sie auf natürliche Weise der Zeit begegnen, wenn die Buddha-Natur vor ihnen manifest ist.“

Solche Menschen gehen laut Dôgen davon aus, dass in der Gegenwart die Zeit der Buddha-Natur noch nicht gekommen ist und dass sie erst in Zukunft zu erwarten ist. Er hält es zwar für möglich, dass sie durchaus aufrichtig nach der Wahrheit streben, aber sie haben eine ungenaue oder falsche Einstellung und eine sehr unklare Vorstellung von der Buddha-Natur.

Ihr Leben mag vielfältig und farbig sein, aber es fehlt die spirituelle Tiefe, die sich immer in der Gegenwart verwirklicht. Solche Menschen mögen auch die Natur genießen und zum Beispiel die Sterne und die Milchstraße bewundern, aber sie kommen über eine naturalistische Lebensphilosophie nicht hinaus.




[i] Mahaparinirvana, Kap. 28