Sonntag, 16. Oktober 2016

Der vergiftete Pfeil und Buddha-Handeln


Ein ehrwürdiger Schüler Buddhas meditierte an einem einsamen Ort und hatte folgende Gedanken:
Der Erhabene hat nichts darüber gelehrt, ob die Welt ewig oder nicht ewig, begrenzt oder unbegrenzt ist, ob Seele und Leib ein und dasselbe oder verschiedenes sind, ob ein Vollendeter nach dem Tode lebt oder nicht lebt oder sowohl lebt als auch nicht lebt, ob er weder lebt, noch nicht lebt. Dass mir der Erhabene darüber nichts erklärt hat, das gefällt mir nicht und befriedigt mich nicht.“

Er beschloss also direkt zu Gautama Buddha zu gehen, ihm seine Unzufriedenheit mitzuteilen und ihn sogar zu befragen, ob er überhaupt in der Lage ist, diese schwierigen aber für ihn doch so wichtigen Fragen zu beantworten. Wenn er das nicht könne, solle er das offen zugeben.

Buddha fragte ihn bei dem anschließenden Treffen, ob er zu ihm bei seinem Eintritt denn folgendes zugesagt habe:

„Komm in die (Sangha) und führe den reinen Wandel (der Befreiung und Emanzipation) bei mir.“ Habe ich Dir dabei versprochen zu erklären, „ob die Welt ewig oder nicht ewig“ usw. ist?

Der ehrwürdige Schüler gab zu, dass es eine solche Zusage von Buddha nicht gegeben habe. Buddha fragte ihn, worüber er sich denn eigentlich beklagen würde. Er fügte hinzu:

„Wenn jemand sagte, er wolle solange nicht den reinen Wandel beim Erhabenen führen, bis dieser ihm über jene Fragen belehrte, so würde dieser sterben, bevor der Erhabene ihn darüber belehren könnte“. Und ob dies wirklich wolle. Buddha erklärte ihm dann das berühmte Gleichnis des vergifteten Pfeils und erläuterte damit in eindringlicher Weise die Pragmatik und große Wirksamkeit der von ihm entwickelten Lehre:

„Nimm an ein Mensch sei von einem vergifteten Pfeil getroffen worden und seine Freunde und Verwandten holten einen tüchtigen Wundarzt. Der Verwundete sagte aber: "Nicht eher will ich den Pfeil herausziehen lassen, als bis ich weiß, ob der Mensch, der mich verwundet hat, ein Adliger oder ein Brahmane oder ein Bürger oder ein Schudra ist, wie er mit Vornamen und Familiennamen heißt, ob er groß oder klein oder von mittlerer Größe ist, ob seine Haut schwarz oder braun oder hell ist, aus welchem Dorf oder aus welcher Stadt er stammt, ob er einen Bogen oder eine Armbrust genutzt hat, woraus die Bogensehne besteht, welche Art der Pfeil ist“ usw. 

Die weiteren Fragen des schwer Verwundeten betrafen die Federn des Pfeil: z. B. von einem Geier oder einem Reiher oder von einem Habicht oder einem Hahn oder einem anderen Vogel. Weiter ging es ihm um die Sehne: ob sie von einem Rind oder einem Büffel oder Hirsch oder einem anderen Tier stamme. Außerdem welche Pfeilspitze verwendet wurde und wie sie beschaffen sei.

„Dieser Mensch würde sterben, bevor er alles dies erfahren hätte. Ebenso würde jemand, der mit dem reinen Wandel warten wollte, bis er über jene Fragen belehrt worden wäre, sterben, bevor man ihn darüber belehren könnte.“

Spekulative und abstrakte philosophische Fragen über die Welt sind ähnlich einzuschätzen, wie die Fragen zum vergifteten Pfeil. Sie würden nichts für die Probleme der Geburt, des Alterns, der Krankheit und des Sterbens, des Kummers, Jammers, Schmerzes, des Grams und der Verzweiflung beitragen, obgleich Buddha „deren wirkliche Überwindung schon in diesem Leben“ lehrt. Die philosophischen spekulativen Fragen zur Welt, zur Wiedergeburt, zum vorherigen oder zukünftigen Leben usw. würden bei der Überwindung des Leidens durch die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad nur schaden und ablenken. Buddha fuhr fort:

„Darum lasst das, was ich nicht erklärt habe unerklärt sein und haltet euch an das was ich euch erklärt habe. Nicht erklärt habe ich, ob die Welt ewig oder nicht ewig, begrenzt oder unbegrenzt ist, ob Seele und Leib dasselbe oder verschieden sind, ob ein Vollendeter nach dem Tod lebt oder nicht lebt. Ich habe es deshalb nicht erklärt, weil dies nicht zum Heil und zur Befreiung beiträgt“. All das könnte kein gutes und gelungenes Leben begründen. Die meisten dieser Fragen könnten überhaupt nicht beantwortet werden und das Leiden und die eigene Unklarheit hätten damit nichts zu tun. Erleuchtung, die Abwendung von Übel und Nirvana seien so nicht zu erreichen.

Er betonte, dass es vor allem darum ginge, das Übel des Lebens zu erklären, woraus es entstünde und entspringt. Aber vor allem wie das Übel aufhört und auf welchem Weg man es ausschalten und zur Ruhe bringen könne. Dies sei das wichtige Wissen zur Beruhigung, zum Erwachen, zum Nirvana und sei das, das er lehren würde.

Buddha legte sich also nicht einmal fest, wie diese Fragen zu beantworten seien. Er sagte vor allem nicht, dass irgendeine Antwort grundsätzlich falsch sei. Wenn also jemand darauf besteht, dass die Welt ewig ist oder umgekehrt abrupt endet, sei dies schlicht irrelevant und unwichtig. Es bliebe total offen, welche Wirkung und welchen Einfluss derartige Fragen auf das eigene Leben haben und die hoch spekulativen metaphysischen Antworten sind für das eigene Leben sicher nicht relevant.

Es geht also nicht darum, ob diese philosophischen Aussagen richtig oder falsch sind, sondern schlicht darum, dass sie keine Relevanz besitzen und im intellektuellen spekulativen Bereich hängen bleiben. Grübeln hilft nicht. Dabei sei es auch unwichtig, mit welchen Instrumenten der Mathematik, Logik, Rhetorik und mit welchen Analogien man diese Fragen und die möglichen Antworten angehen würde, denn es ginge um die Wirksamkeit der Befreiung und Emanzipation für das eigene Leben.

Spricht Buddha damit vielleicht auch die Frage der Relevanz der westlichen Philosophie für unser Leben hier und jetzt an?