In diesem tiefgründigen und poetischen Kapitel[i]
erläutert Dōgen anhand berühmter Kōan-Geschichten und Gleichnisse des
Zen-Buddhismus einen ganz wesentlichen Bereich der buddhistischen Lehre, nämlich
den intuitiven, klaren Weisheits-Geist.
Schon in alten Zeiten und lange, bevor sich der Buddhismus in Süd- und
Ostasien verbreitete, schrieb man dort den Spiegeln ganz besondere
Eigenschaften zu, sie dienten als wichtige Gleichnisse. Spiegel sind Symbole
für die intuitive, umfassende Weisheit und den klaren Geist der Menschen, aber auch aller anderen Lebewesen. Das
ist für den Westen verblüffend: Haben also zum Beispiel auch Tiere diesen Weisheitsgeist?
Mit der griechischen Tradition ist es geradezu das Privileg des
Menschen, dass er im Gegensatz zu den Tieren ein geistiges Wesen ist, und
darauf gründet er seine Überlegenheit.
Ob Sklaven auch den griechischen und römischen Freiheitsgeist und eine Seele hatten,
war damals ein umstrittenes Diskussionsthema der Intellektuelle; die meisten
lehnten eine solche Idee rundweg ab. Der intuitive Geist, den Dōgen meint,
überschreitet aber bei Weitem den denkenden
Verstand und die unterscheidende Intelligenz,
die im Westen so sehr geschätzt werden.
Die Spiegel wurden zur Zeit Dōgens in China und Japan in einem aufwändigen
und langwierigen Arbeitsprozess hergestellt: Zunächst goss man eine dünne
Platte aus Messing oder Bronze, die dann in zahllosen, immer feiner werdenden
Arbeitsgängen geschliffen und spiegelblank poliert werden musste, bis alle
Unebenheiten verschwunden waren und man die sich darin spiegelnden Dinge klar sehen konnte. Den Spiegeln wurde oft
magische Kraft zugeschrieben.
So nahm man zum Beispiel an, dass in einem Spiegel die Vergangenheit,
Gegenwart und sogar die Zukunft klar erkennbar seien, sodass der Kaiser
mithilfe des Spiegels sein Land mit großer Weisheit und Umsicht in die Zukunft
führen könne. Er könne damit auch Lügner und gefährliche Aufrührer erkennen und
somit sich und den Staat schützen. Im Zen-Buddhismus hat das keine Bedeutung,
denn dort liegt der Schwerpunkt auf der intuitiven
Klarheit des Augenblicks; dort ist der Spiegel ein ganz wichtiges Symbol
für einen klaren, offenen Geist.
Dōgen erzählt vom frühen buddhistischen indischen Meister Geyāshata, von dem berichtet wurde, dass
er seit seiner Geburt einen Spiegel
mit sich führte, der ihn bei allen Handlungen und Bewegungen während des Tages
und der Nacht begleitete. Dies war ein Symbol für die große intuitive Weisheit,
die Geyāshata bereits als Kind besessen haben soll. Haben wir nicht alle einen
solchen Weisheits-Spiegel seit der Geburt mit uns?
Anhand dieses Gleichnisses erklärt uns Dōgen, dass der Geist dieser intuitiven
Weisheit des Spiegels kein oberflächlich angelerntes Wissen und auch keine intellektuelle
Kombinationsfähigkeit ist, denn Kinder hätten diese mentalen Fähigkeiten noch
nicht. Wer Kinder genau beobachtet, ist immer wieder erstaunt, wie verständig
und offen sie für alles Neue sind, und stellt fest, dass die Überheblichkeit mancher Erwachsener
ihnen gegenüber völlig unangebracht ist. Shunryu
Suzukis berühmtes Buch hat nicht zufällig den Titel Zen-Geist, Anfänger-Geist.[ii]
Kinder besitzen oft eine intuitive Klarheit, über die wir nur staunen können.
Durch den Spiegel konnte der indische Meister Geyāshata nach der Legende
bereits als Kind die Gegenwart und
die Vergangenheit klar und transparent erkennen. Wie es in dieser Geschichte
heißt, zeigte sich im Spiegel alles ohne
jede Verzerrung, also ohne dass etwas weggelassen oder hinzugesetzt wurde.
Der reine Geist sei wie ein klarer Spiegel.
Eine solche intuitive, klare
Sicht ist genau die Weisheit, die auch im Zen-Buddhismus hoch geschätzt wird
und die es ermöglicht, die ganze umfassende Wirklichkeit so zu erkennen, wie
sie ist. Sie wird nicht durch Fantasien, Hoffnungen, Theorien usw. verstellt,
verkleinert oder vergrößert. Dieser große, runde Spiegel der Buddhas weist laut
Dōgen keinen trüben Fleck auf. Durch ihn können zwei Menschen im Buddha-Dharma
dasselbe sehen. Sie haben denselben Geist, und ihre Augen sind vollkommen
gleich.
Der Spiegel wird so zum Symbol der echten
Wahrheit, die jenseits von angehäuftem Wissen, kalter Intelligenz und Logik sowie
auch von Begriffen wie Substanz, âtman, Ich-Kern oder Form ist. Der ewige
Spiegel wird im Gleichnis treffend als die überragende
Eigenschaft der Buddhas bezeichnet; das ist der erwachte, klare Geist.
Dabei sollten wir uns erinnern, dass im Buddhismus das Denken und die
schöpferische Kreativität keineswegs gering geschätzt oder gar abgelehnt werden,
ganz im Gegenteil. Aber man muss sich immer bewusst sein, dass man damit nur
einen Teil der Wirklichkeit erfassen
kann.