Mittwoch, 9. Dezember 2015

Der ewige Spiegel: intuitiver, klarer Weisheitsgeist (Kokyō)


In diesem tiefgründigen und poetischen Kapitel[i] erläutert Dōgen anhand berühmter Kōan-Geschichten und Gleichnisse des Zen-Buddhismus einen ganz wesentlichen Bereich der buddhistischen Lehre, nämlich den intuitiven, klaren Weisheits-Geist.

Schon in alten Zeiten und lange, bevor sich der Buddhismus in Süd- und Ostasien verbreitete, schrieb man dort den Spiegeln ganz besondere Eigenschaften zu, sie dienten als wichtige Gleichnisse. Spiegel sind Symbole für die intuitive, umfassende Weisheit und den klaren Geist der Menschen, aber auch aller anderen Lebewesen. Das ist für den Westen verblüffend: Haben also zum Beispiel auch Tiere diesen Weisheitsgeist?

Mit der griechischen Tradition ist es geradezu das Privileg des Menschen, dass er im Gegensatz zu den Tieren ein geistiges Wesen ist, und darauf gründet er seine Überlegenheit. Ob Sklaven auch den griechischen und römischen Freiheitsgeist und eine Seele hatten, war damals ein umstrittenes Diskussionsthema der Intellektuelle; die meisten lehnten eine solche Idee rundweg ab. Der intuitive Geist, den Dōgen meint, überschreitet aber bei Weitem den denkenden Verstand und die unterscheidende Intelligenz, die im Westen so sehr geschätzt werden.

Die Spiegel wurden zur Zeit Dōgens in China und Japan in einem aufwändigen und langwierigen Arbeitsprozess hergestellt: Zunächst goss man eine dünne Platte aus Messing oder Bronze, die dann in zahllosen, immer feiner werdenden Arbeitsgängen geschliffen und spiegelblank poliert werden musste, bis alle Unebenheiten verschwunden waren und man die sich darin spiegelnden Dinge klar sehen konnte. Den Spiegeln wurde oft magische Kraft zugeschrieben.

So nahm man zum Beispiel an, dass in einem Spiegel die Vergangenheit, Gegenwart und sogar die Zukunft klar erkennbar seien, sodass der Kaiser mithilfe des Spiegels sein Land mit großer Weisheit und Umsicht in die Zukunft führen könne. Er könne damit auch Lügner und gefährliche Aufrührer erkennen und somit sich und den Staat schützen. Im Zen-Buddhismus hat das keine Bedeutung, denn dort liegt der Schwerpunkt auf der intuitiven Klarheit des Augenblicks; dort ist der Spiegel ein ganz wichtiges Symbol für einen klaren, offenen Geist.

Dōgen erzählt vom frühen buddhistischen indischen Meister Geyāshata, von dem berichtet wurde, dass er seit seiner Geburt einen Spiegel mit sich führte, der ihn bei allen Handlungen und Bewegungen während des Tages und der Nacht begleitete. Dies war ein Symbol für die große intuitive Weisheit, die Geyāshata bereits als Kind besessen haben soll. Haben wir nicht alle einen solchen Weisheits-Spiegel seit der Geburt mit uns?

Anhand dieses Gleichnisses erklärt uns Dōgen, dass der Geist dieser intuitiven Weisheit des Spiegels kein oberflächlich angelerntes Wissen und auch keine intellektuelle Kombinationsfähigkeit ist, denn Kinder hätten diese mentalen Fähigkeiten noch nicht. Wer Kinder genau beobachtet, ist immer wieder erstaunt, wie verständig und offen sie für alles Neue sind, und stellt fest, dass die Überheblichkeit mancher Erwachsener ihnen gegenüber völlig unangebracht ist. Shunryu Suzukis berühmtes Buch hat nicht zufällig den Titel Zen-Geist, Anfänger-Geist.[ii] Kinder besitzen oft eine intuitive Klarheit, über die wir nur staunen können.

Durch den Spiegel konnte der indische Meister Geyāshata nach der Legende bereits als Kind die Gegenwart und die Vergangenheit klar und transparent erkennen. Wie es in dieser Geschichte heißt, zeigte sich im Spiegel alles ohne jede Verzerrung, also ohne dass etwas weggelassen oder hinzugesetzt wurde. Der reine Geist sei wie ein klarer Spiegel.

Eine solche intuitive, klare Sicht ist genau die Weisheit, die auch im Zen-Buddhismus hoch geschätzt wird und die es ermöglicht, die ganze umfassende Wirklichkeit so zu erkennen, wie sie ist. Sie wird nicht durch Fantasien, Hoffnungen, Theorien usw. verstellt, verkleinert oder vergrößert. Dieser große, runde Spiegel der Buddhas weist laut Dōgen keinen trüben Fleck auf. Durch ihn können zwei Menschen im Buddha-Dharma dasselbe sehen. Sie haben denselben Geist, und ihre Augen sind vollkommen gleich.

 Der Spiegel wird so zum Symbol der echten Wahrheit, die jenseits von angehäuftem Wissen, kalter Intelligenz und Logik sowie auch von Begriffen wie Substanz, âtman, Ich-Kern oder Form ist. Der ewige Spiegel wird im Gleichnis treffend als die überragende Eigenschaft der Buddhas bezeichnet; das ist der erwachte, klare Geist. Dabei sollten wir uns erinnern, dass im Buddhismus das Denken und die schöpferische Kreativität keineswegs gering geschätzt oder gar abgelehnt werden, ganz im Gegenteil. Aber man muss sich immer bewusst sein, dass man damit nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen kann.





[i] Shobogenzo, deutsche Fassung, Bd. 1, S. 270 ff.; englische Fassung, Bd. 1, S. 239 ff.
[ii] Suzuki, Shunryu: Zen-Geist, Anfänger-Geist