Dōgen schildert eine
wichtige Kōan-Geschichte des ES, die
allerdings häufig Anlass zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen gegeben
habe. Er berichtet, dass Meister Daikan
Enō (Hui Neng) hinzukam, als sich zwei Mönche ein heftiges Wortgefecht
lieferten.
Die beiden stammten aus
Indien, also aus dem Land, von dem der Buddhismus nach China gekommen war und
das dort ein hohes Ansehen genoss. Man könnte demnach meinen, dass diese Mönche
in der Lehre und Praxis des Buddhismus besonders klar und erfahren gewesen
waren.
Der eine behauptete:
„Die Flagge bewegt sich!“
Der andere widersprach
vehement:
„Der Wind bewegt sich!“
So ging die erhitzte
Diskussion hin und her. Wer hatte recht? Daikan Enō war zu jener Zeit einfacher
Laienarbeiter, also von tiefem Rang im Klostern, er besaß, aber ohne Zweifel
bereits die große Klarheit im Buddha-Dharma. Er sagte:
„Jenseits des sich bewegenden Windes
und der sich bewegenden Flagge ist das ES. Ihr selbst seid (nur) der sich
bewegende Geist.“
Was bedeutet nun dieses
berühmte Kōan? Ist es nicht richtig, dass Wind und Flagge sich bewegen? Haben
vielleicht beide recht? Aber wozu dann der heftige Streit?
Häufig wird dieses Kōan viel
zu eng verstanden, dass Daikan Enō nämlich die Mönche berichtigte, weil sie ein
nur materielles Verständnis der
Situation von Wind und Flagge hatten aber beide einen unruhigen, streitsüchtigen subjektiven Geist
besaßen. Laut Dōgen trifft dies jedoch nicht zu. Er betont, dass Daikan Enō
sagte,
„dass der Wind, die Fahne und das
Bewegen alles der Geist (des umfassende ES) ist.“
Er unterschied also nicht vordergründig
nach Ursache und Wirkung, nach Subjekt und Objekt, nach diskutierenden Mönchen
und deren streitendem subjektiven Geist, sondern sprach von der umfassenden
Wahrheit, die Dōgen hier als das Es
bezeichnet. Die große Einheit von Menschen, Wind, Fahne, Flaggenmast usw.
übersteigt eine spitzfindige Diskussion auf der physikalisch-materiellen aber
auch auf der subjektiven Ebene, ob sich der Wind oder die Fahne bewegt.
Streitende Menschen
verlieren sich im Streit der Egos. Das ES ist die Einheit der großen
wunderbaren Wirklichkeit; das Es ist beruhigt
wie Buddha im sutta des Mittleren Weges sagt.
Dōgen zitiert weiterhin den berühmten
Dialog zwischen dem großen Meister Sekito
Kisen und Yakusan Igen. Letzterer
kannte sich mit der Lehre und Praxis des Buddhismus sehr gut aus und fragte
Sekito Kisen, was es bedeute, dass das direkte
Zeigen auf den menschlichen Geist die Verwirklichung der Natur und des
Buddha-Werdens ist. Dies habe er noch nicht klären können. Der große Meister
Sekito antwortete scheinbar paradox:
"Wie jenes ES zu sein, ist unmöglich.
Aber wie jenes ES nicht zu sein, ist (ebenfalls) unmöglich."
Auch beides zusammen sei
nicht möglich. Dieses Kōan ist nicht leicht zu verstehen, was bedeutet es?
Dōgen erläutert, dass mit
der begrenzten Möglichkeit von Worten und der Logik das ES, das uns je als
Wahrheit begegnet, unmöglich ausgedrückt werden kann. Das ist mit der Formulierung
gemeint, direkt auf den Geist und das
Herz des Menschen zu zeigen. Die Wirklichkeit dieses Geistes ist eine
andere Ebene und eine andere Lebensdimension als Denken und Reden. Solche
Grenzen des Denkens und Redens sollten wir in aller Klarheit anerkennen, um der
Wirklichkeit des ES und des Geistes zu begegnen, sie zu erfahren und mit ihr
eins zu werden.
„Das ES (vollständig)
zu verstehen, ist unmöglich. Das ES (vollständig) zu erkennen, ist unmöglich“,
hält Dōgen abschließend fest. Und Geist und ES sind
klare Wirklichkeit. Aber ohne das Reden diesseits
des ES geht es oft nicht, gerade durch diese
Grenze können wir eine Ahnung vom ES bekommen.