Montag, 16. November 2015

Ist es der Klang des Windes?




Dōgen erzählt eine im Buddhismus berühmte Geschichte von dem indischen Meister Samghanandi und seinem Dharma-Nachfolger Geyāshata. Der Meister hörte die Glocken in einer Halle des Klosters läuten, weil der Wind hindurchwehte. Er fragte seinen Schüler:

„Ist es der Klang des Windes? Ist es der Klang der Glocken?“
Geyāshata antwortete:
„ES ist jenseits des Läutens des Windes und jenseits des Läutens der Glocken. ES ist das Läuten meines Geistes.“

Der große Meister Samghanandi fragte:
„Was ist dann der Geist?“
Und der Schüler erwiderte:
„Der Grund (dass ES läutet) liegt darin, dass alles ruhig ist.“

Der Meister war sehr zufrieden über die klaren Aussagen seines Schülers, der später auch sein rechtmäßiger Nachfolger wurde.

Dōgen untersucht nun diese Geschichte und legt dabei den Schwerpunkt auf die Frage: Warum ist es mein Geist, der läutet? Seine Antwort lautet:

"Mein läutender Geist ist das ES“,

das uns jäh begegnet und unfassbar ist. Es ist dabei die Frage, um wessen Geist es sich eigentlich handelt. Ist es der subjektive Geist des Schülers? Wie kann man den Widerspruch erklären, dass das Läuten gerade nicht geräuschlos ist, es aber heißt, das Läuten des Geistes des Schülers sei ganz ruhig.

Mit diesem Geist sei das unfassbare ES gemeint, erläutert Dōgen, also die Wahrheit oder die Wirklichkeit. In dem Augenblick, in dem die Glocken durch die Einwirkung des Windes läuten, öffnet sich unvermittelt der Geist zur großen Wahrheit, die ruhig ist wie der Geist selbst, der nicht mehr individuell zu verstehen ist. Dann kann man zwischen dem Wind, den Glocken und dem Geist nicht mehr unterscheiden, denn die gesamte unmittelbar erlebte Situation überschreitet die Trennung von Subjekt und Objekt, übersteigt also die Dualität.

Es geht dabei nicht um philosophische Fragen der Existenz oder der Nicht-Existenz des Geistes, sondern beim Läuten der Glocken ereignet sich die Verwirklichung dieser beiden großen Meister jäh im Augenblick. Die Ruhe kann dabei nicht physikalisch verstanden werde, denn das Läuten ist ja deutlich zu hören. Wenn sich der wahre Geist nicht ereignet hätte, bliebe es bei einer „objektiven“ Beschreibung des physikalischen Zustandes mithilfe der Schallwellen oder beim subjektiven Empfinden der beiden Zuhörenden. Dies wäre nach Dōgen aber nur ein oberflächliches Erlernen der Wahrheit und nicht die Klarheit des Buddhismus.

Der höchste Zustand der Bodhi-Wahrheit und der Schatz des wahren Dharma-Auges werden als Ruhe und Stille bezeichnet. Sie sind die Ausgeglichenheit und Balance bei der Zazen-Praxis, in welcher der gewöhnliche denkende Geist und der gewöhnliche empfindende Körper abfallen. Der läutende Geist ist also der Zustand im Zazen, er ist vom denkenden Verstand nicht vollständig erfassbar und mit Worten nur begrenzt sagbar.

Ein solcher Zustand ist ganz selbstverständlich und natürlich.