Dōgen erzählt eine im
Buddhismus berühmte Geschichte von dem indischen Meister Samghanandi und seinem Dharma-Nachfolger Geyāshata. Der Meister hörte die Glocken in einer Halle des
Klosters läuten, weil der Wind hindurchwehte. Er fragte seinen Schüler:
„Ist es der Klang des Windes? Ist es
der Klang der Glocken?“
Geyāshata antwortete:
„ES ist jenseits des Läutens des Windes
und jenseits des Läutens der Glocken. ES ist das Läuten meines Geistes.“
Der große Meister
Samghanandi fragte:
„Was ist dann der Geist?“
Und der Schüler erwiderte:
„Der
Grund (dass ES läutet) liegt darin, dass alles ruhig ist.“
Der Meister war sehr
zufrieden über die klaren Aussagen seines Schülers, der später auch sein
rechtmäßiger Nachfolger wurde.
Dōgen untersucht nun diese
Geschichte und legt dabei den Schwerpunkt auf die Frage: Warum ist es mein
Geist, der läutet? Seine Antwort lautet:
"Mein läutender Geist ist das ES“,
das uns jäh begegnet und
unfassbar ist. Es ist dabei die Frage, um wessen Geist es sich eigentlich
handelt. Ist es der subjektive Geist des Schülers? Wie kann man den Widerspruch
erklären, dass das Läuten gerade nicht geräuschlos ist, es aber heißt, das
Läuten des Geistes des Schülers sei ganz ruhig.
Mit diesem Geist sei das unfassbare
ES gemeint, erläutert Dōgen, also die
Wahrheit oder die Wirklichkeit. In dem Augenblick, in dem die Glocken durch die
Einwirkung des Windes läuten, öffnet sich unvermittelt der Geist zur großen
Wahrheit, die ruhig ist wie der Geist selbst, der nicht mehr individuell zu verstehen ist. Dann kann
man zwischen dem Wind, den Glocken und dem Geist nicht mehr unterscheiden, denn
die gesamte unmittelbar erlebte Situation überschreitet die Trennung von
Subjekt und Objekt, übersteigt also die Dualität.
Es geht dabei nicht um
philosophische Fragen der Existenz oder der Nicht-Existenz des Geistes, sondern
beim Läuten der Glocken ereignet sich die Verwirklichung
dieser beiden großen Meister jäh im Augenblick. Die Ruhe kann dabei nicht
physikalisch verstanden werde, denn das Läuten ist ja deutlich zu hören. Wenn
sich der wahre Geist nicht ereignet hätte, bliebe es bei einer „objektiven“
Beschreibung des physikalischen Zustandes mithilfe der Schallwellen oder beim
subjektiven Empfinden der beiden Zuhörenden. Dies wäre nach Dōgen aber nur ein
oberflächliches Erlernen der Wahrheit und nicht die Klarheit des Buddhismus.
Der höchste Zustand der
Bodhi-Wahrheit und der Schatz des wahren Dharma-Auges werden als Ruhe und
Stille bezeichnet. Sie sind die Ausgeglichenheit und Balance bei der
Zazen-Praxis, in welcher der gewöhnliche denkende Geist und der gewöhnliche
empfindende Körper abfallen. Der läutende Geist ist also der Zustand im Zazen,
er ist vom denkenden Verstand nicht vollständig erfassbar und mit Worten nur
begrenzt sagbar.
Ein solcher Zustand ist ganz
selbstverständlich und natürlich.