Von Doris Zölls
(Zen-Meisterin und
spirituelle Leiterin des Benediktushofes)
Das vor Ihnen liegende Buch,
liebe Leserinnen und Leser, macht die Lehren Shākyamuni Buddhas mit seinen
Kernaussagen, dem „bedingten Entstehen“ oder genauer dem „gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung“ und der „Leerheit“, zu seinem zentralen Thema.
Im Lauf der Geschichte und
auch heute noch schleichen sich immer wieder Fehlinterpretationen dieser Lehren
Buddhas ein. Seine Aussagen sind für viele von uns ja auch schwer zu verstehen
und stehen zu den „üblichen“ Vorstellungen in großem Widerspruch. Wir Menschen
sehnen uns nach dem Unveränderlichen, nach einem festen unveränderlichen
Wesenskern, einem beständigen Absoluten, das in unserer Existenz wirksam ist
und uns hält. Doch wir brauchen nicht tief zu schürfen, um zu erkennen, dass
diese Sehnsucht nicht erfüllt werden kann. Das Leben ist, wie Heraklit es
ausdrückte, immer im Fließen. Halten wir Menschen dennoch an einer absoluten
unverrückbaren Wahrheit fest, sind Glaubenskämpfe unvermeidlich, denn jeder
meint, die wahre Wirklichkeit erkannt zu haben, in Händen zu halten und sie
dann auch noch gegenüber anderen verteidigen zu müssen. Die Komplexität des
Lebens, sein unentwegter Wandel und seine Weiterentwicklung jedoch gehen nicht
in einem Konzept auf. Ein statisches Welt- und Lebensbild ist nur eine
Scheinsicherheit für uns Menschen. Halten wir an ihm fest, stürzt uns diese
Haltung unweigerlich ins Leiden.
Zum Glück gab es auch immer
wieder weise Menschen, die es sich zur Aufgabe machten, diesen irrigen
Vorstellungen entgegenzutreten und sich für Buddhas Weisheit einzusetzen. Sie
machten sich selbst auf den Weg, die Wirklichkeit genau wahrzunehmen und
hinzusehen auf das, was Buddha mit seinen Aussagen zum gemeinsamen Entstehen in
Wechselwirkung und zur Leerheit wirklich ausgedrückt hat. Sie versuchten, die
Irrlehren aus ihrer Verengung wieder herauszuführen. Einer der ganz großen
Interpreten, der Buddhas Lehre durch seine präzisen Ausführungen wieder ins
rechte Licht rückte, war Nāgārjuna mit seinem Mittleren Weg. Dieses Werk ist
für fast alle buddhistischen Linien des späteren Mahāyāna in Indien, des Chan
in China, des Zen in Japan und des tibetischen Buddhismus von entscheidender
Bedeutung.
Yudo Seggelke greift es in
seinem Buch auf und vertieft mit Nāgārjunas Ausführungen die Lehren Buddhas.
Aber er bleibt hier nicht stehen, er geht noch weiter und bereichert Nāgārjunas
Aussagen mit denen von Dōgen aus dem Shōbōgenzō.
Aber dies macht er nicht, um die Texte nur in einen neuen Zusammenhang zu
setzen. Er stellt sie nicht um ihrer selbst willen dar. Ihm ist wichtig
darzulegen, dass es Nāgārjuna und Dōgen wie Buddha nicht um intelligente
philosophische Ideen als solche ging, sondern dass für sie die Befreiung und
die Entwicklung der Menschen im Mittelpunkt standen. Der Autor sieht damit
diese großen Interpretationen nicht nur innerhalb des Buddhismus als wertvoll
an. Er gibt den Schriften eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Menschen
auch bei uns im Westen.
Wir sind heute oft festgefahren
in unseren Meinungen, kämpfen für unsere Überzeugungen und geraten immer tiefer
in kriegerische Auseinandersetzungen. Die Schriften dieser alten Meister können
uns wachrütteln. Sie verweisen auf eine Weisheit, die sich jenseits von Meinungen
und Begriffen entfaltet.
Yudo Seggelke zeigt mit
seinem Buch auf: Wir brauchen ein neues Verstehen, das über die
Begrifflichkeiten hinausgeht. Die Begriffe müssen für uns lebendig werden, uns
erfassen und in uns wirksam werden. Dieses Verstehen fordert von uns, dass wir
unser Verstehen mit dem bewertenden und unterscheidenden Denken zurücknehmen
und in ein „Nicht-Denken“ kommen. Dies hat mit Unwissenheit oder Dumpfheit
nichts zu tun, im Gegenteil. Bei dem „Nicht-Denken“ geht es um ein aktives,
ganz waches Wahrnehmen dessen, was ist, ohne es mit unseren Benennungen
einzuengen. Um die Weisheiten, die Buddha und in seiner Nachfolge Nāgārjuna und
Dōgen lehrten, zu durchdringen und wirklich zu verstehen, brauchen wir einen
Paradigmenwechsel. Verstehen muss aus dem eigenen Erleben heraus entwickelt
werden.
Bereits Buddha und ebenso Nāgārjuna
und Dōgen wollten schon damals nicht nur als Philosophen verstanden werden,
sondern ihre Lehren sollten lebendig sein und den Menschen die Basis geben,
sich zu entwickeln. Die Entfaltung des Mittleren Weges sollte die Menschen aus
den unheilsamen Extremen herausführen. Das Verharren bei einem „entweder – oder“
sollte vermieden werden, stattdessen sollte alles in seiner wechselseitigen
Abhängigkeit und seiner Leerheit erkannt werden. Es ist das Nicht-Wissen, das
am Anfang der Kette des Leidens steht, die Unkenntnis der Zusammenhänge des
Lebens, die uns in die Gier und den Hass treibt.
Aus ihnen herauszufinden
bedarf es daher der tiefen Einsicht in die Leerheit und die wechselseitige
Abhängigkeit allen Seins und Werdens. Diese zu erkennen, dafür bedarf es der
Achtsamkeit. Dieses Wort ist heute in jedermanns Munde, und doch wird oft nicht
wirklich verstanden, worum es dabei geht. Die Achtsamkeit besteht aus zwei
Aspekten: Einerseits geht es bei ihr um die Aufmerksamkeit, das heißt, den
Ablenkungen des Geistes nicht zu folgen, und gleichzeitig um das Gewahrwerden
dessen, was ist, ohne die eigenen Vorstellungen und Bewertungen auf die Dinge
zu legen. In dieser Geisteshaltung entfaltet sich ein Verstehen der
Zusammenhänge des Lebens.
Diese Achtsamkeit zu praktizieren,
dafür steht die Zazen-Praxis. Sie zeigt sich als das direkte Handeln im Hier
und Jetzt, und darin offenbart sich eine neue Wirklichkeit. Dieses unmittelbare,
ganz natürliche Handeln ist absichtslos und frei von unheilsamen Vorstellungen und
Erwartungen.
Yudo Seggelke beginnt mit
Buddhas Kernaussagen, sie untermauert er mit Nāgārjunas Mittlerem Weg und setzt sie zu Dōgens Shōbōgenzō in Beziehung. Durch seine Akzentuierung und seine
Erläuterungen werden seine Ausführungen zu einem Impuls für unseren Weg im
Westen. Die wechselseitige Abhängigkeit, die Leerheit, die Kausalität geben uns
die Aufgabe auf, genau hinzusehen, wie sehr wir doch an festen Vorstellungen von
eigenständigen Entitäten haften und uns damit den Weg der Offenheit und
Freiheit versperren. Gleichzeitig sollten wir erkennen, wie sehr alles miteinander
in der ganzheitlichen Wechselwirkung verbunden ist und wir dadurch das Gesetz
von Ursache und Wirkung nicht verdunkeln dürfen.
Yudo Seggelke greift die
großen Fragen der heutigen Zeit auf und bezieht sie auf die großen Erkenntnisse
Buddhas und seiner genialen Nachfolger Nāgārjuna und Dōgen. Ich gratuliere ihm
zu diesem Buch, das uns einen wunderbaren Einblick in den Mittleren Weg schenkt und dabei unsere Fragen nicht außer Acht
lässt.
Ihnen, liebe Leserinnen und
Leser, wünsche ich beim Lesen dieses Buches inspirierende Sternstunden.