Samstag, 1. Oktober 2022

Die Buddha-Augen im Herbst

Wenn wir auf dem Weg des Buddha-Dharma vorangehen oder sogar erwachen, bedeutet dies nach Dōgen, dass wir die „alten“, begrenzten und verzerrenden Augen verlieren und sich die „neuen“, erwachten öffnen. Was ist damit gemeint? Dazu müssen wir uns von verzerrenden und oft verhärteten Affekten und Emotionen, unbewusst gesteuerten Sichtweisen und Vorurteilen sowie lieb gewordenen „Denknestern“ trennen. Dann können wir zu einer neuen Freiheit des Sehens, Handelns und Denkens zu kommen. Verkürzt heißt das: Wir sollten die Drei Gifte: Gier, Hass und Verblendung unwirksam machen und schließlich ausschalten.

Zen-Meister Dōgen regt an, dass wir die konkreten Dinge unserer Umwelt sehr genau betrachten, genauso wie sie sind. Aber unser Sehen sollte über die äußere Form hinausgehen, denn nur dann können wir die buddhistische, umfassende Wirklichkeit erkennen. In diesem Zusammenhang zitiert er seinen eigenen chinesischen Meister:

„Der Herbstwind ist rein und frisch, und der Herbstmond ist klar und hell.

Die Erde, die Berge und Flüsse leuchten klar im Auge.

Tendō sieht sie, und sie begegnen sich neu und frisch.

Sie laufen mit Stöcken rufend umher und prüfen mich, den Flickenmönch.“

In der ersten Zeile des Gedichts geht es um die volle Wahrnehmung des Windes und Mondes im Herbst. Diese Jahreszeit ist in China und Japan besonders beliebt, weil die Hitze und Schwüle des Sommers dann vorbei sind, die Nächte wieder kühl und klar werden und die Chrysanthemen blühen. Das Laub färbt sich in vielfältigen wunderbaren Farbtönen. Das Gedicht von Tendō Nyojō geht also über eine äußerliche, durch die Form und Materie festgelegte Beschreibung hinaus und vermittelt uns eine große poetische und spirituelle Kraft.

Dōgen spricht von der Begegnung der klaren Erde, Berge und Flüsse mit dem Mönch. Dabei wird deutlich, dass eine Trennung in ein Subjekt, das sieht, und die Natur als Objekt, das gesehen wird, unsinnig ist oder zumindest eine eindimensionale verengte Sichtweise darstellt.

In der letzten Zeile wird auf das Erwachen des Meisters verwiesen, der von der Natur geprüft und getestet wird. Das heißt, dass die Natur in besonderer Weise unseren psychischen und geistigen Zustand an uns selbst zurückmelden kann, in klärende Verbindung mit uns kommt und damit die Wahrheit des Buddha-Dharma lehrt. Wer nach Dōgens Überzeugung in lebendiger Wechsel-Wirkung mit der Natur das große Erwachen erfährt, zum Beispiel durch blühende Pfirsichbäume im Frühling oder den Wind und Mond im Herbst, ist besonders sicher im Gleichgewicht verankert und „fällt nicht in Ideologien und Statik zurück“.

Die Klarheit und Frische des Herbstwindes erfahren und erleben wir genau im jetzigen Augenblick mit allen Sinnen. Dann sind wir offen für die Natur und nicht durch eigene Gedanken und Emotionen besetzt oder und abgelenkt: Das schädliche Grübeln hört auf.

Dann eröffnet sich für uns die Vierte Dimension der Zeit: Das große Jetzt!:

„Gautama verliert seine (bisherigen) Augen.

Nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee.

Jetzt sind alle Orte beschwerlich und voller Dornen.

Und doch lachen die tanzenden Blüten im Frühlingswind.“

Die Augen „springen heraus“ in den Augenblick, wir geben alles, und „dies ist der erste Tag“.


Vertiefen: Buddha-Augen im Zen bei Dogen