Dienstag, 18. Oktober 2022

Shikan hört im Jetzt den wahren Ton des Bambus


Eine im Zen-Buddhismus berühmte Geschichte handelt von dem Mönch
Shikan, der unter dem Zen-Meister Dai-i [i]durch einen jähen Ton Erleuchtung erlangte. Aber wie ist das möglich? Muss man dazu nicht die schwierige Philosophie des Buddhismus vollkommen verstehen und ein geistiges Genie sein? Wohl nicht, wie diese Geschichte zeigt! Shikans Meister Dai-i sagte zu ihm:

„Du bist von scharfem und brillantem (Verstand) und hast ein umfassendes Verständnis (der buddhistischen Lehre). Sag mir einen Satz über den Zustand, den du hattest, bevor deine Eltern geboren waren, ohne dass du aus irgendeinem Text oder Kommentar zitierst.“[ii]

Es handelt sich dabei nicht um eine intellektuelle Frage nach der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, sondern um die direkt erlebte Wirklichkeit im gegenwärtigen Augenblick.

Der Mönch Shikan suchte in mehreren Denk-Anläufen nach einer klaren Antwort, die seinen Meister zufriedenstellen könnte. Aber das gelang überhaupt nicht. Er war verzweifelt! Er strengte seinen Geist immer mehr an, so sehr es ihm überhaupt möglich war, aber ohne jeden Erfolg. Schließlich bat er seinen Meister inständig darum, ihm zu helfen, um aus dieser aussichtslosen Situation heraus zu kommen.

Aber Meister Dai-i lehnte das entschieden ab:

„Ich hätte nichts dagegen, dir etwas Hilfreiches zu sagen, aber wenn ich dies tue würdest du vielleicht später Groll gegen mich hegen.“

Was heißt das? Shikan sollte zu seinem eigenen Besten selbst den Schlüssel des Lebens finden. Er verließ das Kloster und zog sich auf einen Berg zurück. Dort lebte allein er allein im Einklang mit der Natur und im Rhythmus der Zen-Praxis . Und dann passierte es: Als er eines Tages seinen Weg vor der Hütte fegte, löste sich ein Kieselstein vom Boden, traf auf das Rohr des Bambus und erzeugte dabei einen klaren einfachen Ton: „Bong“. Das schlug bei Shikan ein! Das war der Wendepunkt seines Lebens.

Das war der wirkliche Ton, ohne intellektuellen und doktrinären Anspruch. So einfach und wunderbar sind das Leben und das Universum.

Shikan erkannte schlagartig, dass sein Meister ihm wie kein anderer geholfen hatte, nur durch die eigene Erfahrung wirklich zu hören. So gelangte er  zur Wirklichkeit, die sich ihm jetzt und völlig unerwartet geöffnet hatte.

Dōgen zitiert zu Shikan:

‚Bei einem einzigen "Bong" verlor ich das (alte) Bewusstsein, nicht länger muss ich (unnatürliche) Selbstdisziplin üben. Es gibt keine (negativen) Spuren irgendwo"

Meister Dogen beschreibt das Lebens und Universum auch im berühmten Kapitel Genjo Koan: ´Das verwirklichte Universum´. Denn was wären wir ohne das Universum, ohne das Licht und ohne die Energie der Sonne? Der Mönch Shikan und das Universum waren nun eins und mit ihm verbunden. Was nützen da Zitate und scharfsinniges Denken? Nicht viel, denn es geht um mehr!

Und Dōgen fügt hinzu: "Wer in der Natur erwacht, fällt nicht zurück!" Buddha erwachte in der reinen Natur in Indien, als der Morgenstern aufging. Vorher konnte er durch die damalige Philosophie, Meditation und seine harte Askese trotz größter Anstrengung gerade nicht erwachen. Wir sollten unsere Natur daher schonen, pflegen und lieben. Sie ist ein Wunder!

Universum verwirlichen


[i] Zen-Meister Dai-i lebte von 771 bis 835.

[ii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 109