Montag, 3. September 2007

Die Stimme des Tales und die Form der Berge (Keisei sanshiki)


Die Natur und deren Schönheit, Erhabenheit und Reinheit haben in der Buddha-Lehre einen ganz hohen Stellenwert. Die Natur wird dabei nicht als etwas Materielles außerhalb des Menschen, also als ein getrenntes Objekt erlebt, sondern ist eine Einheit mit ihm.

Das Tal des Klosters Tokein mit Brücke



Schon von Gautama Buddha wird berichtet, dass er die Natur außerordentlich liebte und mit ihr eng verbunden war. Seine Dharma-Vorträge hielt er eigentlich immer draußen in der Natur, auf einem Berg, in einem Hain, oder in einem Garten. Es wird auch berichtet, dass er in den Tagen und Nächten vor seiner Erleuchtung unter einem Baum am Rande eines Baches im Freien lebte, bis er mit dem Aufblitzen des Morgensterns das große Erwachen erfuhr. Im Buddhismus wird die Natur der Berge, der Flüsse, des Meeres, des Himmels usw. als Teil des Dharma und Universums meist poetisch beschrieben und es gibt viele Geschichten alter Meister, die in der Natur zur Wahrheit erwachten. So lehrt uns auch die Natur die große Wirklichkeit und Wahrheit des Buddha-Dharma.
In diesem Kapitel des Shôbôgenzô: "Die Stimme des Tales und die Form der Berge" (Kap. 9, Keisei sanshiki) beschreibt Meister Dôgen die zentrale Bedeutung der Einheit von Natur und Mensch. Man könnte die unbelebte Natur lediglich aus der materiellen Sicht, also des Materialismus beschreiben. Dies wäre nach Nishijima Roshi, also die Lebensphilosophie des Materialismus. Dôgen macht aber deutlich, dass diese materialistische Sicht der äußeren Form oder der materiellen Elemente, wie z. B. Wasser, Erde, Feuer und Luft nicht zum Kern der buddhistischen Lehre vordringen kann und nur eine Teilwahrheit ist. Erst mit der von ihm so benannten vierten Lebensphilosophie des Buddha-Dharma eröffnen sich neue Dimensionen und eine neue Tiefenschärfe für das Verständnis und Erleben der Natur. Die in den Tälern fließenden Bäche und Flüsse werden als die Zungen Buddhas bezeichnet, die den wahren Dharma lehren. Die Form der Berge wird mit dem Körper Buddhas verglichen, für den vor allem die Reinheit und Tugend kennzeichnend ist. Dann geht die so verstandene Natur weit über ihren eigentlichen, stofflichen und materiellen Aspekt hinaus, ist eine wunderbare Komposition der Wirklichkeit und kann den Menschen in seinem tiefsten Innern anrühren. Auch in China und Japan war die Verbundenheit oder besser gesagt Einheit mit der Natur ein ganz wichtiger Teil des menschlichen Lebens und war unauflösbar mit den empfindenden Wesen der Tiere und den nicht empfindenden Lebewesen, wie Kiefern, Bambus, Chrysanthemen, also Bäumen, Pflanzen und Blumen verbunden. Dies alles wird im Buddha-Dharma als Harmonie und natürliches Gesetz des Universums erlebt, erfahren und verstanden.
Dôgen schildert zunächst die Erlebnisse eines großen chinesischen Dichters, der tief in die buddhistische Lehre eingedrungen war und deren "Drachen und Elefanten" erforschte. Er war hoch begabt, phantasievoll und schöpferisch, und es wird berichtet, dass er nachts im Tal der Stimme des Flusses lauschte und zur großen Wahrheit erwachte. Er verfasste danach folgendes Gedicht:

"Die Stimme des Tales ist (Buddhas) weite und lange Zunge.
Die Form des Berges, nicht anderes als sein reiner Körper.
Achtundvierzigtausend Verse klingen in der Nacht,
Wie kann ich dies an einem anderen Tag den Menschen sagen?"


Er legte sein Gedicht einem großen buddhistischen Meister vor und dieser bestätigte sein Erwachen. Was war damals geschehen, als er plötzlich zu einer neuen Lebensdimension erwachte, obgleich er vorher als Dichter schon großartige Verse verfasst hatte, ohne allerdings die Praxis und Lehre des Buddhismus schon umfassend erfahren zu haben. Der Dichter hatte z. B. vorher den Gang der Jahreszeiten mit den Blumen im Frühling, den frischen Trieben der Kiefern im Sommer und den wunderbaren Chrysanthemen im Herbst noch nicht wirklich erkannt und erfahren, bis ihm dieses Erlebnis mit der Stimme des Tales zuteil wurde. Kurz vorher hatte er von einem Zen-Meister die Lehre der nicht empfindenden Wesen, also der Bäume, Blumen und Pflanzen gehört, aber sie war noch nicht richtig in seinen Geist und in sein Herz eingegangen, aber vermutlich gab es Spuren und Nachwirkungen in diese Nacht hinein, und dann hatte er seine eigene tiefe Erfahrung des Buddha- Dharma. Vorher wird er noch nicht offen und reif gewesen sein, um den tiefen Sinn der buddhistischen Lehre ganz aufzunehmen und zu leben, aber plötzlich, mit dem großen Erlebnis nachts im Tal, kam das große Erwachen. Der Mensch als Subjekt und die Natur als Objekt waren zu einer Einheit verschmolzen, und so fragt Dôgen in einer für ihn typischen Weise, ob letztlich der Dichter zur Wahrheit erwachte oder ob es die Berge und Flüsse waren, die zur Wahrheit erwachten.
Eine andere berühmte Geschichte berichtet davon, dass ein späterer großer Meister zunächst bei seinem eigenen Lehrer trotz intensiver Arbeit an den buddhistischen Schriften nicht weiter kam und auf die berühmte Frage, wie denn der Zustand vor der Geburt seiner Eltern zu beschreiben sei, nicht antworten konnte. Er sollte diese Frage nämlich aus eigener Erfahrung beantworten und nicht aus den buddhistischen Schriften zitieren. Er war dann so entmutigt, dass er sich entschloss, nur noch einfache Arbeiten im Kloster zu übernehmen und alle seine theoretischen Schriften, die er so intensiv studiert hatte, zu verbrennen. Seine Erkenntnis war:

"Das Bild eines Reiskuchens kann den Hunger nicht stillen".

Das Bild des Reiskuchens entspricht dabei den Schriften und Dharma-Lehren seines eigenen Meisters, aber diese bleiben theoretisch und blass, wenn sie nicht mit eigenen Erfahrungen und eigenem Leben einhergehen. Schließlich bat er seinen Meister, ihm doch eine weitere Hilfestellung zu geben, damit er auf dem Dharma-Weg vorankommen könnte. Dieser erkannte die besondere Begabung seines Schülers und lehne es daher ab, die Frage des Schülers zu beantworten. Er war sich wohl sicher, dass dieser selbst die notwendige Erfahrung machen würde. Eine verbale Belehrung bleibt nämlich meist bei Worten und Gedanken hängen und kann die eigene Praxis nicht ersetzen. Dies wäre also wieder das berühmte Bild des Reiskuchens, den man nicht essen kann und der den Hunger nicht stillt. Die Geschichte berichtet dann, dass der Mönch sich in die Einsamkeit zurück zog und zwar an einen Ort, an dem ein früherer berühmter Meister jahrelang praktiziert hatte. Er hatte es aufgegeben, nach Erwachen und Erleuchtung zu streben, sondern lebte harmonisch im Gang des Jahres mit der Natur, praktizierte ausdauernd und intensiv und so vergingen die Jahre. Er pflanzte einen Bambus, den er hegte und pflegte. Es wird berichtet, dass dann irgendwann ein Ziegelstück an das Rohr des Bambus flog, als er den Weg zu seiner Hütte fegte. Es heißt, dass er bei diesem Klang das große Erwachen verwirklichte. Er bedankte sich danach tief ergriffen und machte eine Niederwerfung in Richtung seines eigenen Meisters, weil dieser ihm nicht voreilig erklärt hatte, was auf ihn wartete, sondern er hatte es der kommenden Wirklichkeit in dessen Leben überlassen. Dadurch war es erst möglich geworden, dass er selbst zur großen Wahrheit erwachte. Er verfasste dann ein Gedicht, das mit dem Satz beginnt:

"Vergessen ist mit einem Schlag alles Wissen.
Nicht länger muss ich mich in Selbstdisziplin zügeln.
Mein Handeln offenbart den Weg der Alten".


Sein Meister bestätigte später das Erwachen und sagte, dass dieser Schüler vollendet sei.
Eine andere berühmte Geschichte erzählt den buddhistischen Weg eines alten Meisters, der über dreißig Jahre seines Lebens praktiziert hatte, als er bei einer Wanderung von einer Anhöhe herab in ein wunderschönes Tal blickte, in dem die Pfirsichbäume im Frühling voll erblüht waren und er dann plötzlich die große Wahrheit verwirklichte. Sein Gedicht wird wie folgt übermittelt:

"Dreißig Jahre lang ein Wanderer auf der Suche nach einem Schwert.
Wie viele Male fielen die Blätter und erblühten die Knospen?
Mit einem Mal, als ich die Pfirsichblüten gesehen habe,
Bin ich direkt angelangt im Jetzt und habe keine Zweifel mehr".


Den Begriff des Schwertes können wir so verstehen, dass es das Symbol für die Klarheit des Körper-Geistes ist und dass damit die Verwirrungen und Knoten des Lebens durchschlagen werden, so dass man zur buddhistischen Wirklichkeit gelangt. Das Schwert hat also eine ähnliche symbolische Bedeutung wie der Diamant, der ebenfalls mit seiner Schärfe in der Lage ist, durch das Dickicht vorgefasster Meinungen, Bewertungen, angelernter Gedanken usw. zur Wirklichkeit zu gelangen.
Im alten China gab es viele Koan-Geschichten, in denen ein Schüler in oft klug und wohl formulierten Worten eine Frage an den Meister richtete, die dieser manchmal überhaupt nicht beantwortete, weil die Frage zu theoretisch und zu ausgedacht war . Manchmal wiederholte er einfach die Frage mit genau denselben Worten. Damit will er den Schüler von seinen vorgefassten Gedanken und Worten befreien und zum unmittelbaren Erleben und Handeln und damit zur Wirklichkeit bringen. Beispiel hierfür ist die Frage: "Wie können wir die Berge, Flüsse und die Erde eins mit uns selbst machen?" oder die Frage eines gelehrten Philosophen: "Wie kommt es, dass aus der ursprünglichen Reinheit plötzlich Berge, Flüsse und die Erde entstehen?". Die von Dôgen in diesem Kapitel wiedergegebenen Gespräche werden von einem Dichter, einem begabten buddhistischen Schüler, von einem Mönch und einem klugen Philosophen jeweils an den Meister gestellt und sollen belegen, dass mit Worten und Theorien allein die Wahrheit nicht erreicht werden kann.
Dôgen umkreist im Folgenden die wesentlichen Inhalte und Eckpunkte der buddhistischen Lehre. Ausdauer und der feste Wille zur Wahrheit sind Voraussetzung den Buddha-Weg zu gehen. Ruhm und Profit müssen dabei als mögliches Motiv erkannt werden und man muss unbedingt darüber hinausgehen, sonst blockiert man sich auf dem Wege selbst. Dôgen kritisiert, dass auch in der damaligen Zeit viele Zeitgenossen Mönche geworden sind, ohne wirklich an der buddhistischen Wahrheit zu arbeiten und mit Ausdauer zu praktizieren. Die große Zeit des Zen-Buddhismus war damals auch in China bereits im Niedergang begriffen und Dôgen selbst hatte lange vergeblich nach einem wahren Meister in Japan und China gesucht. Viele Mönche und Äbte waren zwar formal Buddhisten, aber die Kraft des Buddha-Dharma war bereits abgeebbt und das Streben nach äußerer Anerkennung und finanziellem Gewinn waren durchaus häufig. Man kann sicher noch hinzufügen, dass es oft um Macht und Einfluss bei Hofe ging. Die Wirklichkeit und Wahrheit verlieren aber dann leider ihre Bedeutung und verblassen nur als Abbilder und Schatten. Dies wird auch in dem berühmten Gleichnis wiedergegeben, in dem ein lebender wirklicher Drache zu einem Haus kommt, das von einem Liebhaber der Bilder und Skulpturen von Drachen bewohnt wird. Dieser flieht aber schockiert, als er den wirklichen Drachen vor sich stehen sieht, denn er liebt nur die „ungefährlichen“ Bilder und nicht die Wirklichkeit. Dôgen drückt dies wie folgt aus:

"Ihr Körper, ihr Geist, ihre Knochen und ihr Fleisch haben niemals nach dem Dharma gelebt und daher sind sie nicht eins mit dem Dharma; sie können ihn nicht in sich aufnehmen und nutzen".

In solchen Zeiten gibt es natürlich auch viele falsche Lehrer und selbsternannte Meister, die nicht in der Lage sind, die Schüler wirklich auf den Buddha-Weg zu führen. Dôgen empfiehlt an anderer Stelle, seine Lehrer und Meister sehr genau zu prüfen und weist auf den unwiederbringlichen Schaden hin, wenn die Lehre nicht korrekt übermittelt wird. Dies sei nicht nur Zeitverschwendung, sondern richte einen nicht wieder gut zu machenden Schaden an, so dass es dann besser sei, den Buddha-Dharma überhaupt nicht zu studieren! Wer kein eigenes wirkliches Erleben habe, sei weitgehend von anderen abhängig und benötige die soziale Rückmeldung von anderen und verwechselte dies unvermeidlich mit der Wirklichkeit selbst. Aber dies sei natürlich nicht einfach zu erkennen und zu verstehen. Dôgen schlägt daher vor, sich ganz eingehend mit den Lehren der alten Meister zu beschäftigen und sie als Vorbild zu nehmen. Dies sei viel wichtiger als im engen Kontakt mit Königen, Fürsten, wichtigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, reichen Leuten usw. zu stehen und sich auf sie einzulassen. Es kann dann gar nicht ausbleiben, dass man sich dabei abhängig macht und auf Lob und Tadel dieser Leute fixiert ist und auf Vorteile hofft. In einer solchen Umgebung, ja selbst in den Klöstern, gibt und gab es Neid und Eifersucht und dies wird bereits aus der Zeit von Gautama Buddha selbst berichtet. Wer beschränkt ist, erkennt nicht den wirklich weisen Menschen und entwickelt sogar Feindschaft gegenüber den Heiligen. Auch im Buddhismus gab es Fälle, in denen große Meister von Feinden gefoltert und getötet wurden, da diese nicht erkannten, wen sie wirklich vor sich hatten. Dôgen bittet uns hier aber eindringlich, in buddhistischem Sinne keinen Hass zu entwickeln, sondern vielmehr mit Liebe und Mitgefühl den Dharma zu lehren und solche Menschen zur Umkehr zu bewegen und auf den richtigen Weg führen.
Anfänger auf dem Weg des Buddha-Dharma sind zunächst sicher überwiegend von Gefühlen und Idealen durchdrungen, die noch nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Wichtig ist es daher, dass die Kraft dieser ersten Zeit des Lernens nicht nachlässt und erlahmt, sondern sich in pragmatische Ausdauer umwandelt, die notwendig ist, um den Buddha-Weg zu gehen und die Übungspraxis fort zu führen. Nishijima Roshi empfiehlt daher jeden Tag zwei Mal Zazen zu praktizieren, selbst wenn dies nach einem idealistischen Anfang im Buddhismus nicht immer leicht fällt und vielleicht sogar langweilig wird. Wichtig ist es auch, sich der Mühe zu unterziehen, einen wahren Lehrer zu finden. Auf diesem Weg muss man

"Berge ersteigen und Ozeane überqueren".
Er fährt fort: "Wenn ihr wirklich einen Meister und Lehrer sucht und ihn herbeisehnt, steigt er vom Himmel herab oder kommt aus der Erde hervor".

Er spricht damit aus eigener Erfahrung, dass es nämlich nach langer Suche dann doch gelingt, seinen eigenen Lehrer zu finden und dass man dies mit intuitiver Klarheit auch erkennt. Je näher man den wirklichen Meister kennen lernt, desto größer erscheint er als Mensch und um so mehr kann man von ihm lernen.
Am Ende des Kapitels kommt Dôgen darauf zu sprechen, wie man sich verhalten soll, wenn man in seinem Alltag müde und träge geworden ist und dies an sich selbst erkennen muss. Er rät dazu, sich diesem Problem in aller Offenheit zu stellen und sich selbst nichts vorzumachen. Man sollte also seine Nachlässigkeit und Trägheit aufrichtig vor dem Buddha bekennen. Daraus erwächst dann die Kraft und Energie, die uns erlöst und reinigt. Dann werden die unausgefüllten Tage der Vergangenheit abgeschnitten und es ist eine Umkehr und ein neuer Start möglich. Das alte Karma kann aufgelöst werden und die Hindernisse auf dem Weg des Lernens werden weggeräumt. Dabei wird ein alter Meister zitiert:

"Wenn ihr in den vergangenen Leben noch nicht vollkommen gewesen seid, könnt ihr es jetzt werden" und weiter "nach dem Erwachen werden die Menschen von heute ewige Buddhas sein".

Aber auf diesem Weg kommt man mit Theorie und Gedanken allein nicht weiter, so wichtig sie sein mögen, sondern man muss im Hier und Jetzt praktizieren und handeln. Dabei braucht man wahres Vertrauen in seinen Körper und Geist, dann wird uns keiner der genannten vierundachtzigtausend Verse vorenthalten und wir hören und sehen die Stimme und die Form des Tales und die Form und die Stimme der Berge. Dann wird uns klar, dass

"die Täler und Berge (wirkliche) Täler und Berge sind".

Weitere Informationen:

Die vier Lebensphilosophien des Buddhismus

Was ist Erleuchtung?