Sonntag, 21. Oktober 2007

Die Pflaumenblüten sind Gautamas Augen

Die Klöster Chinas lagen meist hoch in den Bergen, wo es im Winter besonders bei Nordwinden bitter kalt war, und der Schnee oft einen Meter hoch lag. An warmen Tagen im Vorfrühlings öffneten sich dann die ersten Knospen der Pflaumenblüten und verkündeten den kommenden milden Frühling oder, besser gesagt, diese Blüten waren der Frühling selbst. Pflaumenblüten sind meist von weißer Reinheit mit gelben Staubgefäßen oder in rötlichen Tönen und erscheinen auf den oft knorrigen Ästen bevor die Blättern grünen. Wir können uns sehr gut vorstellen, wie die Schar der Mönche nach einem schweren kalten Winter die ersten Pflaumenblüten begrüßten und die Natur frisch und neu am Anfang des Jahres stand. Dieses begann in China anders als bei uns zum Frühlingsanfang, also Mitte März, und manchmal blühten dann wirklich schon die Pflaumenbäume. Meister Dôgen liebte die Pflaumenblüten außerordentlich und hat uns mehrere Gedichte seines eigenen Meisters Tendo Nyojo überliefert, der auch ein großer Freund der Pflaumenblüten war.

In diesem Kapitel „Die Pflaumenblüten“ (Kap. 59, Baike) kreisen die Worte und Gedanken von Meister Dôgen um die Wirklichkeit und Schönheit der Pflaumenblüten, und er zeigt uns die verschiedenen Bilder und die buddhistische Bedeutung dieser Blüten auf. Am Anfang zitiert er seinen eigenen hochgeschätzten Meister Tendo Nyojo mit folgendem Gedicht:

„Tendos erste Worte in der Mitte des Winters:
Der knorrige alte Pflaumenbaum.
Plötzlich treibt er Knospen, eine Blüte, zwei Blüten,
Drei Blüten, vier, fünf Blüten, unzählige Blüten.
Sie können sich ihrer Reinheit nicht rühmen
Und nicht stolz sein auf ihren Duft.
Sie erschaffen das Gesicht des Frühlings,
Und weben duftend durch die Gräser und Bäume“.

Es wird dann weiter beschrieben, dass sich der Schnee nach den Winterstürmen wie ein mit Drachen besticktes schönes weißes Gewand auf die Landschaft legt und sich die Erde dann mit Schnee bedeckt. In diesem Gedicht wird also der Schnee und die Kälte des Winters angesprochen, aber auch auf die zarten und reinen Pflaumenblüten hingewiesen. Dôgens eigener Meister, der ein Maler und großer Könner des Pinsels war, schuf immer wieder wunderbare und aussagekräftige Bilder. So wird die winterliche Schneelandschaft mit den weißen Blüten des Pflaumenbaum verbunden. Dôgen sagt hierzu:

„Der Pflaumenbaum treibt plötzlich Knospen und trägt dann seine Früchte, manchmal macht er den Frühling und manchmal den Winter.“ Und weiter: „Seine geheimnisvolle plötzliche Verwandlung und seine unerklärlichen Wunder kann niemand ermessen.“

Im Buddha-Darma wird die sich öffnende Blüte häufig symbolisch für die sich entfaltende Lehre verwendet und immer wieder ist von den sich öffnenden fünf Blütenblättern die Rede, auch die Pflaumenblüten haben fünf Blütenblätter. Gerade der Gegensatz eines alten knorrigen Pflaumenbaums, auf dem die zarten weißen Blüten in großer Zahl aufgehen und blühen, ist von bewegender Poesie. Sie bilden eine Einheit mit dem Leben der Mönche in den Klöstern, mit der menschlichen Welt, mit dem Himmel und mit den Gebäuden des Klosters. Wenn die Knospen auf dem Pflaumenbaum erscheinen, öffnet sich der Buddha-Dharma; Gautama Buddha und der große Meister Bodhidharma erscheinen in der Welt.
Dôgen zitiert seinen eigenen Meister in einem anderen Gedicht:

„Gautama verliert seine (bisherigen) Augen.
Nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee.
Jetzt sind alle Orte beschwerlich und voller Dornen.
Und doch lachen die tanzenden Blüten im Frühlingswind.“

Der Zen-Buddhismus möchte nicht in romantische Träumerei abgleiten und kommt daher auch immer auf die Schwierigkeiten von Dornen zu sprechen, die es nun einmal in der Welt und im Leben gibt, denn auch in diesem Gedicht ist von den Dornen die Rede. Damit wird ein großer Bogen gespannt, der von den zarten Blüten bis zu den Dornen reicht, die das Leben beschreiben und widerspiegeln. Wenn man seine „alten Augen“ verliert, wie es in dem Gedicht heißt, bedeutet dies, dass man die gewöhnliche Sichtweise und das bisher als wesentlich Erachtete verliert und sich die Welt mit neuen erwachten Augen und Sinnen öffnet. Diese neuen Augen werden mit den Pflaumenblüten im Schnee verglichen und auch als Dharma-Rad bezeichnet, sodass wir die Pflaumenblüten auch als Dharma-Blüten verstehen können. Dôgen sagt dazu:
„Sogar der Himmel, die Erde, die Länder und die Nationen sind voller Kraft und Lebendigkeit, weil sie durch dieses Dharma-Rad gedreht werden.“

Dôgen zitierte häufig die Gedichte seines eigenen Meisters Tendo Nyojo und bedauert, dass es nur wenigen Menschen vergönnt war, ihn direkt zu erleben und ihm von Angesicht zu Angesicht zu lauschen. Leider starb er bald nachdem Dôgen wieder nach Japan zurückgekehrt war und konnte daher auch in China den Buddha-Dharma nicht mehr mit seiner poetischen Kraft lehren. Dôgen betrachtet es als außerordentliches Glück, dass er Tendo Nyojo nicht nur persönlich kannte, sondern auch dass es ihm vergönnt war, jederzeit Zugang zu ihm zu haben, obgleich er doch aus dem fernen Land Japan und nicht aus China gekommen war. Er sagte, dass es nach dem Tod seines Meisters wohl im Reich der Song „noch finsterer geworden sei als in einer mondlosen Nacht“.
Dôgen bezeichnet die Pflaumenblüte dann als das Buddha-Auge und als die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges. In seiner einfachen klaren Sprache gelingt es ihm, poetische Bilder von großer Kraft in unserem Geist zu erzeugen, so wie sein eigener Meister wunderbare Bilder mit dem Pinsel malte. Dôgen sagt wörtlich:

Deshalb gehören die unzähligen Blumen alle zur Familie der Pflaumenblüten im Schnee: die himmlischen Blumen im Himmel über uns, die himmlischen Blumen der Menschenwelt und die mannigfaltigen anderen Blumen in den grenzenlosen Ländern des ganzen Universums. Alle diese Blumen blühen, weil ihnen ein Teil der Wohltaten der Pflaumenblüten zugute kommt.“

Auch in unserer Sprache sind der weiße Schnee und eine verschneite Berglandschaft in ihrer Reinheit und Klarheit wirklich Poesie von weiter stiller Kraft. Der unberührte Schnee weckt in uns Menschen große und tiefgehende Gefühlsbereiche, die über die reine äußerliche Form und Farbe hinausgehen. Ein solches umfassendes Erleben der Schneelandschaft geht über romantische, schwärmerische Bilder hinaus, die Dôgen hier als „verschneiter Palast“ bezeichnet. Die Schneelandschaft wird mit den Augen Buddhas gleichgesetzt und auch die vielen tausend Augen des Bodhisattva des großen Mitgefühls (Avalokiteshvara) und sein tätiges Handeln für andere werden hier angesprochen. Eine rein materielle, am Äußeren hängende Schönheit ist also nicht gemeint, sondern durch das moralische Handeln des Bodhisattva wird die umfassende buddhistische Lebensphilosophie angesprochen. Die Schneelandschaft ist also Gautama Buddha und Gautama Buddha ist die Schneelandschaft. Dôgen sagt hierzu:

„Wenn es nicht ´überall nur Schnee´ gäbe, könnte es im ganzen Universum keine Erde geben. Die harmonische Vereinigung von innerem Wesen und äußerer Form in diesem ´überall nur Schnee´ ist das Auge des alten Gautama.“

Dôgen kommt dann auf das wirkliche Wesen der Sein-Zeit im Hier und Jetzt zu sprechen. Dann kann man nicht sagen, dass die Blumen erscheinen und vergehen, weil sie einfach hier im Jetzt so da sind wie sie sind. Man kann nicht sagen, dass sie entstehen und vergehen, also aufblühen und verwelken, denn dies ist nicht das Erfahren und Erleben im gegenwärtigen Augenblick, sondern vollzieht sich in der linearen Zeit, die mehr gedacht als unmittelbar erfahren wird. Dôgen spricht von der einzigartigen und unübertrefflichen Wahrheit des „Nicht-Erscheinen“. Dies sind dazu die Worte von Tendo Nyojo. dem Lehrer von Meister Dôgen:
„Nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee.“
Genau je im Augenblick gibt es die Wirklichkeit und Wahrheit, die durch die Pflaumenblüten im Schnee poetisch zum Ausdruck kommen. So kann man sagen, dass das ganze Universum das konkrete Hier und Jetzt der Pflaumenblüten ist, und dies sind auch die Augen von Gautama Buddha. Es ist also die Wirklichkeit jenseits von verengtem Denken und von der Wahrnehmung, die von Dôgen durch die berühmten Worte Bodhidharmas angesprochen werden:

Zu Anfang kam ich in dieses Land,
Um den Dharma weiterzugeben und alle Lebewesen von ihren Täuschungen zu befreien.
Eine Blüte öffnet ihre fünf Blütenblätter.
Und ihre Früchte reifen von selbst auf natürliche Weise.“

Hier kann auch ein direkter Bezug zu den Pflaumenblüten hergestellt werden, weil diese ebenfalls fünf Blütenblätter besitzen. Man kann sich viele phantasievolle romantische Gedanken und Vorstellungen darüber machen, warum Bodhidharma von Indien nach China wanderte oder wie es in der Zen-Literatur immer heißt, „warum er aus dem Westen kam“ und in den Osten ging. Unabhängig davon kommt den Pflaumenblüten je im Hier und Jetzt die ganze Wirklichkeit zu. Durch den wahren Buddha-Darma, den er mit der Zazen-Praxis nach China brachte, war es dann möglich, die Natur unverfälscht und ohne spekulative Ungenauigkeit zu erleben und zu erfahren. Dies bezeichnet Dôgen als

Hier-Sein der Pflaumenblüten, das ins Jetzt gekommen ist. Da das Jetzt sich auf diese Weise verwirklicht, spricht (Tendo) von einem Ort, der beschwerlich und voller Dornen ist.“

Durch die Erwähnung der Dornen und der Beschwerlichkeiten des Lebens wird der direkte Bezug zur Wirklichkeit hergestellt, der ja keineswegs ohne Schwierigkeiten und Hindernisse zu begehen ist. Auch ein Pflaumenbaum hat alte knorrige Äste und frische junge Triebe, wie das Leben selbst. Die Pflaumenblüten haben also ein edles inneres Wesen und auch eine äußere Form. Wenn man einen einzelnen Pflaumenzweig betrachtet, so gibt es nur diesen einen, eine Verallgemeinerung auf alle Pflaumenzweige, auf die jeweilige Landschaft und auch der Bezug zum Buddha-Dharma sind etwas anderes als das konkrete Hier-Sein dieses einen Zweiges. Dies ist die konkrete Betrachtung der Form. Aber ein solches Hier-Sein ist mehr als nur die äußere Form durch die materielle Sichtweise, sondern es offenbart die Wirklichkeit selbst in ihrer ganzen Schönheit, so wie sie ist. Dies ist die Lebensphilosophie der Wirklichkeit und Wahrheit, die seit Gautama Buddha von einem authentischen Meister auf den anderen übertragen wurde. Dadurch hat sich der Buddha-Darma in China entfaltet wie sich die fünf Blütenblätter der Pflaumenblüte öffnen. Übrigens gibt es hier große Ähnlichkeiten mit der Philosophie Martin Heideggers.

Dôgen mahnt uns dann, die fünf Blütenblätter nicht in etwas platter Weise als die fünf großen Vorfahren im Darma von China selbst zu interpretieren. Dies sei schon deswegen nicht möglich, da sich die fünf Blütenblätter ja nicht nur auf diese fünf Meister beziehen können, sondern die ganze Welt und das ganze Universum umfassen.

Dôgen zitiert dann wieder seinen eigenen Meister:
Ein Neujahrsmorgen ist der Anfang des Glücks.
Die zehntausend Dinge sind alle neu und frisch.
Sehr verehrte Versammelte.
Der Pflaumenbaum offenbart den ersten Frühling.“

Nach dem chinesischen Kalender ist der dortige Neujahrsmorgen der erste Frühlingstag nach unserer Einteilung der Jahreszeiten. Also handelt das Gedicht von dem Frühjahrstag im März nach dem langen kalten Wintern in den chinesischen Bergen die milde Jahreszeit mit den ersten Blüten anfing. Es liegt auf der Hand, dass dieses Gedicht die Befreiung des Menschen durch den Buddha-Dharma anspricht und dass der blühende Pflaumenzweig die Schönheit und Frische des dadurch möglichen neuen Lebens bedeutet. Dies ist nach dem Gedicht der Anfang des Glücks und der neuen Freiheit. Das Gedicht geht durch seine Poesie über die normale Bedeutung der Worte hinaus, durchstößt also die Scheinwirklichkeit des vordergründig Gesagten und Gedachten.

Dôgen kommt gegen Ende des Kapitels darauf zu sprechen, wie wir dem Buddha wirklich begegnen können. Diese Begegnung wird poetisch durch die Pflaumenblüten wiedergegeben und spiegelt sich in einer Zeile des Gedichtes von Meister Tendo Nyojo wieder:

„Der Frühling ist in den Pflaumenzweigen bedeckt von der Kälte des Schnees.“

Dies kann man wohl auch symbolisch so auffassen, dass in jedem Menschen trotz der äußeren Kälte der Frühling lebt, wie in der wunderbaren Schönheit und Reinheit einer Pflaumenblüte. Aber nur eine ganzheitliche Begegnung von Körper und Geist ermöglicht den Zugang zu dieser feinen Schönheit und Befreiung. Der wahre Buddha-Dharma wird dabei in der direkten Begegnung von einem Meister auf den anderen, also von Angesicht zu Angesicht, übertragen. In einer solchen Begegnung „sieht man Buddha nicht nur mit den Augen“, sondern erfährt, erforscht und erlebt eine solche Begegnung unmittelbar. Der Frühling ist in den Pflaumenblüten und „der Frühling ist jenseits der Welt (der gewöhnlichen) Menschen.“

Dôgen preist dann die große Fähigkeit seines eigenen Meisters, den Zweig der Pflaumenblüten in einem Bild zu malen, er sagt dazu:

„Der Frühling ist in den Pflaumenblüten und er ist eingegangen in das Bild.“

Die Formulierung „in das Bild gegangen“ wiederholt Dôgen auch an anderer Stelle im Shobogenzo und meint damit, dass Bild und Wirklichkeit zusammenkommen und eine Einheit bilden. So spricht er an einer anderen Stelle davon, dass der Bambus in das Bild gekommen ist. Wenn so die wunderbare Wirklichkeit in das Bild kommt, ist dieses vollkommen und es muss nichts mehr hinzugesetzt werden, es kann aber auch nichts mehr weggenommen werden.
Dôgen sagt von seinem Meister, dass er mit der Poesie des Pflaumenzweiges den Kern der Lehre von Gautama Buddha erforscht und erfahren habe und dass er die „Klarheit über die Pflaumenblüten erlangt“ habe.
Schließlich geht Dôgen darauf ein, dass man die Wirklichkeit und Schönheit der Pflaumenblüten nicht erfahren kann, wenn man von den Dämonen des eigenen Ich beherrscht wird. Dann sollte man sich aus den Klauen dieser Dämonen befreien und sich mit den Pflaumenblüten verbinden. Ihre Reinheit und Schönheit kann ohne Weiteres Befreiung vom Egoismus und den Dämonen der Ich-Überschätzung geben. Die Pflaumenblüten sind dann die Augen Gautama Buddhas und damit der Lehre und Praxis des Buddha-Dharma.
Am Ende dieses Kapitels zitiert Meister Dôgen einen alten Mönch und Meister wie folgt:

„Ich erinnere mich an meine Anfänge vor dem Erwachen.
Jeder Ton des großen bemalten Horns klang für mich so traurig.
Jetzt habe ich auf meinem Kopfkissen keine Träume mehr
Und überlasse die Pflaumenblüten den schwachen oder starken Winden.“

Damit wird die Harmonie des Menschen mit der Natur angesprochen, die durch keinen egoistischen Willen und keine Gier mehr belastet ist. Die Pflaumenblüten sind das Symbol der reinen und schönen Natur, der man ohne Trennung vom Ich begegnet und in die man sich einfügt. Das große Erwachen wird so mit den Pflaumenblüten verglichen und kommt ihnen gleich. Die starken und schwachen Winde des Lebens wehen dabei, ohne zu stören und ohne zu beunruhigen, und wir können die Pflaumenblüten im Wind treiben lassen.