Donnerstag, 18. Oktober 2007

Was war die Absicht des großen Bodhidharma, als er von Indien nach China kam?

Kopf des Bodhidharma inTokein

Bodhidharma war ein indischer großer buddhistischer Meister, der im 6. Jahrhundert die damals schwierige und gefährliche Reise nach China unternahm und dort den wahren Buddhismus und vor allem die Praxis des Zazen lehrte. In China ist er der erste Zen-Meister und Vorfahre im Dharma. Er leitete eine Epoche von mehreren hundert Jahren in China ein, in der dort der Buddhismus in großartiger Weise aufblühte und ganz wichtige Bereiche des Buddhismus durch den ostasiatischen Einfluss in besonderer Weise weiter entwickelte und hervorbrachte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Frage, warum er denn nach China kam, eine der bekanntesten Koan-Aufgaben im Zen-Buddhismus ist.

Meister Dôgen gibt in diesem Kapitel (Kap. 67, Soshi sairai no i) oder „Der Sinn von Bodhidharmas Kommen aus dem Westen“, sein tiefgründiges Verstehen zu diesem Thema wieder. Viele Zen-Schüler haben sich mit dieser Frage und mit diesem Koan intensiv beschäftigt und auseinander gesetzt. Dôgen gibt zu diesem Thema eine Geschichte eines berühmten chinesischen Meisters wieder, der den folgenden Fall schilderte:

Am Rande einer steil abfallenden tiefen Schlucht steht ein Baum, dessen kräftiger Ast über den Abgrund gewachsen ist. Die tiefe Schlucht misst tausend Fuß senkrecht nach unten. An diesem Ast hängt unter schwierigsten Bedingungen ein Mann, dem es nur möglich ist sich zu halten, indem er in den Ast beißt und sich so mit den fest gebissenen Zähnen vor dem tödlichen Absturz halten kann. Es wird geschildert, dass er die Hände und Füße nicht benutzen kann, um sich aus dieser äußerst gefährlichen Lage zu befreien. Dann erscheint am Rande der Schlucht unter dem Baum jemand, der ihm zuruft:

Was ist der Sinn von Bodhidharmas Kommen aus dem Westen?“

Wenn der Gefragte nun antworten will, muss er den Mund öffnen und verliert damit über dem Abgrund seinen Halt, stürzt ab und wird dabei zu Tode kommen. Wenn er jedoch nicht antwortet, verletzt er seine Pflicht als Buddhist bei wichtigen Fragen auf jeden Fall zu antworten, wenn jemand diese Antwort unbedingt benötigt.
Nachdem der große Meister nun diese Geschichte seinen Mönchen erzählt hatte, bat er um Antworten. Ein älterer Mönch trat dann hervor und sagte, ihm erschiene es nicht so wichtig, was der Mann in dieser doch sehr ungewöhnlichen Lage sagte, sondern was er in seinem normalen Alltag täte und wie er handeln und reden würde. Der große Meister brach nach dieser Antwort in ein schallendes Gelächter aus und zeigte damit an, dass er mit dieser Antwort sehr zufrieden war, da sie in der Tat auf den normalen Alltag mit seinem üblichen Handeln abzielte, das im Zen-Buddhismus so sehr im Mittelpunkt steht.
Dôgen erklärt dann, dass diese Geschichte wohl meistens falsch verstanden worden ist und sagt wörtlich:

„Es scheint eher, dass es den meisten die Sprache verschlagen hat. Ihr solltet euch aber bemühen, diese Geschichte (gründlich) zu durchdenken und dabei das Nichtdenken und das, was jenseits des Denkens ist, benutzen.“

Er lobt dann den alten Meister und sein tiefes Verständnis, das in der obigen Geschichte zum Ausdruck käme. Er rät uns wie der bekannte alte Meister dieser Geschichte, ausdauernd und regelmäßig auf dem Kissen zu sitzen, sodass wir die Geschichte wirklich erfahren können,

schon bevor (der am Baum Hängende) seinen Mund aufmacht“.

Dôgen erläutert weiter, dass es sich hier um einen wirklichen Menschen handelt, der in den Baum gestiegen war und sich nur mit den Zähnen über dem Schwindel erregend tiefen Abgrund halten konnte, indem er fest in den Ast gebissen hatte. Das wirkliche Erleben und Handeln findet in der Sein-Zeit statt, das heißt Leben und Handeln lässt sich nicht unabhängig von der Zeit erfahren, denn es gibt überhaupt nichts, was unabhängig und unveränderlich von der Zeit existiert. Dôgen sagt hierzu:

„Es gibt die Zeit des Fallenlassens und die Zeit des Hinaufsteigens. (In dieser Geschichte) geht es um einen wirklichen Menschen, der auf einen Baum gestiegen ist."

Durch die realen Beschreibungen des Baumes und der Schlucht soll sicher deutlich werden, dass es sich nicht um eine phantasievolle und künstlich dramatisierte Geschichte handelt, sondern dass wir bei der Frage, warum Bodhidharma aus dem Westen kam, in der vollen Wirklichkeit des Hier und Jetzt sein müssen und uns nicht in Phantastereien und vagen Spekulationen verlieren dürfen. Diese Wirklichkeit wird aber nicht nur materiell und durch die Tiefenmaße der Schlucht bestimmt, sondern Dôgen vergleicht sie mit dem ewigen Spiegel, also mit dem Symbol für die intuitive Weisheit. Damit verlässt er sowohl die Ebene der Ideen und Spekulationen, als auch die der materiellen Äußerlichkeiten und der Wahrnehmung, und zielt direkt auf den Kern der buddhistischen Lehre. Er vergleicht dann die Einheit von Mund und Ast beim Beißen damit, dass eine Unterscheidung von Subjekt und Objekt bei existentiellen Fragen vollständig unmöglich ist. Der feste Biss in den Ast kann symbolisieren, dass bei der Trennung und dem Loslassen des Astes der Sturz in die Tiefe unvermeidlich ist, oder anders ausgedrückt, dass das Drama des Lebens genau mit einer solchen Trennung von Subjekt und Objekt in unserer Vorstellung und in unserem Denken verbunden ist. Wir stürzen dann unweigerlich in die Tiefe.

Die Geschichte erzählt zunächst eine sehr konkrete Situation und hat einen sehr markanten Inhalt, sodass vor allem die materiellen und an die Form gebundenen Bereiche dieser Welt angesprochen werden und bedeutsam sind. Nishijima Roshi ordnet dies der zweiten Lebensphilosophie, also dem Materialismus, zu. Diese können wir zwar nicht als umfassende Wirklichkeit und Wahrheit anerkennen, sie ist aber natürlich in unserem Leben von großer Wichtigkeit. So ist der Baum wirklich ein Baum und der Ast wirklich ein Ast, und da der Mann in der obigen Geschichte am Ast neben dem Stamm des Baumes hing, konnte er sich auch nicht mit seinen Füssen auf den Baum abstützen. Dies war jedoch vorher möglich, als er von unten auf den Baum nach oben gestiegen war. Aus einer solchen konkreten Sichtweise kann ein Mensch natürlich auch nicht im „leeren Raum“ hängen, sondern nur an einem Ast, in den er hinein beißt. Alle Vorstellungen des leeren Raumes oder der Leerheit sind im Buddhismus ohnehin in Gefahr, immer in Phantasiewelten zu verschwimmen.

Dann taucht in der Geschichte ein anderer Mensch unter dem Baum auf und stellt die Frage nach dem Sinn des Buddha-Dharma. Dies führt aus der materiellen Sicht und Denkweise heraus. Die beiden genannten Menschen treten dabei in eine Wechselwirkung ein und bilden so eine geistige Einheit, obgleich sie sich in der Tat in sehr unterschiedlichen Situationen befinden. So wird die Einheit im Biss von Mensch und Baum durch einen weiteren Menschen erweitert, der eine wichtige Frage stellt und unbedingt eine Antwort haben möchte. Da wir uns die beiden Menschen dabei nicht mehr getrennt vorstellen sollten, sagt Dôgen:

Beim Fragen beißt (auch) der Fragende mit dem Mund in den Ast des Baumes.“

Was will Dôgen uns mit dieser eigenartigen Aussage vermitteln? Sie soll sicher auch bedeuten, dass der Fragende sich ganz wirklich in die Situation des Befragten eindenken und einfühlen sollte und nicht einfach daherkommen darf und ohne Einfühlungsvermögen und Bewusstheit für die gesamte Lage seine fordernden Fragen loslässt. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass die Frage nach Bodhidharmas Kommen den Kern des Zen-Buddhismus in China trifft. Dann bedeutet diese Frage nichts anderes „als dass er direkt in diesen Sinn (des Buddha-Dharma) beißt“: ein wirklich durchschlagendes Gleichnis!

Dôgen untersucht dann weiter, ob es überhaupt immer erforderlich ist, mit Worten zu antworten, und dass gerade die Antworten des Buddha-Dharma oft über Sprache und Worte hinausgehen. Dann wäre es gar nicht notwendig, dass der Befragte, der an dem Ast hängt, seinen Mund öffnet und deswegen herunterfällt und dabei stirbt. Dies soll symbolhaft heißen, dass man wirklich „in die Wahrheit beißen“ soll, wenn man jemandem auf wichtige Fragen antwortet. So sagt Dôgen:

„Es ist daher etwas Alltägliches, dass der ganze Mund in den Ast beißt und dies hindert euch nicht daran, euren Mund zu öffnen oder zu schließen“.

Wenn man in die Wahrheit beißt und wirklich ehrlich antwortet, dann empfängt man also eigentlich erst seinen wahren Körper-Geist und verliert gerade nicht Leib und Leben. Wenn man jedoch tot ist und nicht mehr lebt, kann man natürlich auch nicht mehr antworten und kann dem Fragenden überhaupt nicht mehr helfen. Man muss also das vorherige gewöhnliche Leben über Bord werfen und abstoßen, um zu einem neuen kraftvollen Leben auf dem Buddha-Weg zu erwachen. Der Mund, der die Wahrheit sagt, beißt in den Ast und bildet eine feste unzerstörbare Einheit zwischen Subjekt, Objekt und dem Sinn von Bodhidharmas Kommen aus dem Westen. Damit wird die Trennung von Subjekt und Objekt überwunden. Daher kommt es nicht zuletzt darauf an, dass wir uns selbst die wichtigen Fragen stellen, wenn wir „in die Wahrheit beißen“. Dôgen sagt schließlich, dass die Buddhas und Vorfahren im Dharma, die nach dem Sinn von Bodhidharmas Kommen aus dem Westen fragten, alle den Augenblick erfahren haben, in dem sie am Baum hingen und mit dem Mund in den Ast gebissen haben. Und sie hören nach Dôgen nicht auf zu fragen.

So kommt es darauf an, in einer extremen Situation wie sie in dieser alten Zen-Geschichte geschildert wird, nach der großen Wahrheit zu suchen, aber es kommt auch darauf an, im Alltag und in einer normalen Situation nach der Wahrheit zu streben und nach der Absicht von Bodhidharma zu forschen. Welche Absicht hatte dieser große Meister, als er nach China kam und welchen Buddhismus brachte er dort hin? Der Zen-Buddhismus blühte dann auf und entwickelte sich in großartiger Weise. Es ist damit ganz klar, dass wir die in diesem Kapitel behandelte Frage überhaupt nicht einfach beantworten können. Aber wir sollen uns in sie hinein beißen und nicht so schnell wieder loslassen. So haben alle großen Meister gehandelt!