Sonntag, 10. August 2008

Samadhi als Erfahrung des Selbst (Teil 1)

In diesem Kapitel behandelt Dôgen die Selbsterfahrung im Samadhi, also im Zustand des Gleichgewichts und des Zazen (Kap. 75, Jisho-zanmai). Dabei bedeutet das japanische Wort ji das Selbst und sho erfahren.

Zanmai erscheint häufig im Shôbôgenzô und bedeutet Samadhi oder Zazen. Dôgen erläutert aufgrund seiner tiefen eigenen Erfahrung, vor allem durch seinen Meister Tendô Nyojô, dass man sein wahres Selbst im Gleichgewicht des Zazen erfährt. Er lehnt gleichzeitig ein nur intellektuelles Verständnis der Erleuchtung ab. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum im Buddhismus, dass man allein durch die Arbeit des Geistes, zum Beispiel durch Konzentration, die Erleuchtung erlangen kann. Nach Dôgen ist dies nur ganzheitlich von Körper und Geist in der praktischen Erfahrung des Zazen und des Lebens möglich.

Er kritisiert hier mit aller Deutlichkeit einen "Meister" Dai-e-Soko, der als ein Begründer des Koan-Zen gilt, und aus der Sicht von Dôgen diese Methode falsch verstanden hatte. Trotzdem hatte er Schüler und Nachfolger, die an ihn glaubten. Ein geistiger oder gar mystischer Zustand der angestrebten Erleuchtung allein ist für Dôgen ganz allgemein ein fundamentaler Irrtum, der unbedingt vermieden werden sollte, weil er immer wieder in eine Sackgasse und häufig sogar zur Selbstüberheblichkeit führt.
Dôgen zitiert am Anfang dieses Kapitels:

"Was die Buddhas und Vorfahren im Dharma authentisch übermittelt haben, ist das Samadhi als der Zustand der Erfahrung des Selbst. Dies wurde von allen Buddhas und (auch) den Sieben Buddhas (weitergegeben)."

Diese Formulierung verwendet Dôgen häufiger im Shôbôgenzô, zum Beispiel in den Kapiteln 10, 20, 32 und 52.
Er fügt dann ein zweites ganz wesentliches Zitat an, das einen Dialog des großen Meisters Daikan Enô mit einem seiner Dharma-Nachfolger Nangaku Ejo enthält. Dies wird in den Kapiteln 7 (Sich waschen und reinigen), 29 (Das Etwas) und nicht zuletzt im Shinji-Shôbôgenzô (Buch 2, Nr. 1) im Einzelnen behandelt. Danach fragt Daikan-Enô:

"Stützt du dich auf die Praxis und Erfahrung oder nicht?"
Nangaku
antwortet:
"Es ist nicht so, dass es keine Praxis–und–Erfahrung gibt, aber es ist unmöglich, diese zu verunreinigen."

Dôgen sagt dazu:

"Denkt daran, dass die Vorfahren im Dharma selbst die nicht verunreinigte Praxis–und–Erfahrung sind, und sie sind (auch) der Samadhi der buddhistischen Vorfahren im Dharma, (und zwar) der Donnerschlag, Wind und der rollender Donner."

Damit verdeutlicht Dôgen, dass die praktische Erfahrung im Zustand des Gleichgewichts "das Auge" der großen buddhistischen Meister ist, also den Kern der Lehre bezeichnet. Es geht nicht um theoretische und intellektuelle Erkenntnisse, die unabhängig vom Körper und der Praxis des Zazen erreicht werden könnten. Die Erfahrung bezeichnet ebenfalls das Ganzheitliche von Körper und Geist und ist nicht auf den Verstand reduziert.

Daikan Enôs Frage an seinen hervorragenden Schüler Nangaku, ob dieser sich auf die Praxis und Erfahrung stützt, trifft den Kern des Buddhismus, der in Ostasien in so ausgezeichneter Weise herausgearbeitet wurde. Nangaku bestätigt in seiner Antwort zunächst, dass die Praxis und Erfahrung in der Tat als Wirklichkeit besteht. Er fügt jedoch den moralischen Aspekt der Reinheit hinzu, der unterstreicht, dass die Zazen-Praxis selbst rein sein müsse, also frei von Gier nach Ruhm, Macht und Geld.

Wenn die Zazen-Praxis selbstgefällig zum Aufbau des Egos, des eigenen Ruhms oder anderer vordergründiger Ziele ausgeübt wird, geht sie an dem Wesentlichen des Buddhismus vorbei. Nangaku sagt noch mehr: Die wahre Praxis und Erfahrung des Samadhi kann nicht verunreinigt werden, weil sie sonst den Charakter des Gleichgewichts und des Erwachens verliert. Damit ist die Moral unauflösbar mit dem Zustand des Gleichgewichts und der Einheit im Samadhi verbunden und kann nicht getrennt werden. Eine Trennung hat zwangsläufig die Verunreinigung zur Folge! Diese reine Einheit von Praxis und ganzheitlicher Erfahrung zeichnet alle Buddhas und großen Meister aus. In dem Koan fügt Daikan Enô hinzu, dass dies für ihn, für seinen Schüler Nangaku und für alle Buddhas gilt.

Dôgen fasst dann in einem beeindruckenden großen Bogen die wahre Lehre des Buddhismus zusammen, die in den vorangehenden 74 Kapiteln aus verschiedenen Sichtweisen beleuchtet und dargelegt wurde. Am Beispiel des sog. Meisters Soku, der als ein Begründer der oft falsch verstandenen Koan-Methode gilt, arbeitet er heraus, wann die Erfahrung des Selbst auf dem falschen Wege ist.

Nach Dôgen ist es wichtig, einem guten Lehrer zu folgen, der ein guter Freund ist. Er sollte auch ein Freund der Tugend sein, also ein Lehrer, der den Buddhismus beispielhaft vorlebt und anderen hilft und sie motiviert, ebenfalls ein Zazen-Leben zu führen. Dadurch machen beide gemeinsame Erfahrungen und begegnen wirklich der externen Welt, die dann nicht mehr als extern und getrennt erfahren wird. Wir folgen dabei den Umständen und fahren fort, uns zu verändern, während wir mit den Menschen zusammenleben. Wir werfen die Bequemlichkeit des Körpers fort und finden den Dharma für den eigenen Körper. Dôgen formuliert:

"Dies ist das kraftvolle Handeln, einem guten Lehrer zu folgen und es ist die tatsächliche Bedingung, das Selbst auszuloten und das Selbst anzupassen."

Genauso wichtig ist es, den Sûtras zu folgen, wenn wir

"die Haut, das Fleisch, die Knochen und das Mark des Selbst untersuchen und uns von der Haut, dem Fleisch, den Knochen und dem Mark des Selbst befreien. Pfirsichblüten sind zu sehen und sie treten von selbst vor die Augen. Der Klang des Bambus wird von den Ohren selbst donnernd gehört."

Damit spricht Dôgen die Geschichten zweier berühmter alter Meister an: einer erlebte das große Erwachen beim Anblick der blühenden Pfirsichbäume in einem Tal. Der andere erwachte, als er den Klang hörte, der von einem Ziegelstück erzeugt wurde, das einen Bambus traf.

Dôgen verdeutlicht, dass mit den Sûtras das ganze Universum der zehn Richtungen, also die Berge, die Flüsse, die Erde, das Gras, die Bäume, das Selbst und die anderen gemeint sind. Es ist das alltägliche Handeln, zu essen, die Kleidung anzulegen, sich zu bewegen und sich nach dem Buddha-Dharma zu handeln. Es geht dabei immer um den ganzen Körper-Geist, der in der Praxis lernt und handelt.
Dôgen sagt weiter:

"Wir empfangen diesen Zustand von anderen und wir teilen diesen Zustand den anderen mit. Zur gleichen Zeit ist es das lebendige Herausspringen der Augen selbst, die vom Selbst und von anderen frei werden. Es ist genau die Übertragung von meinem Mark selbst, das vom Selbst und anderen befreit ist."

Hier spricht Dôgen also die Befreiung des Egos, also des materiellen oder ideellen Selbst, an und unterstreicht gleichzeitig die Befreiung der Unterscheidung vom Selbst und den anderen. Die wahren Augen und das Mark seien jenseits des gewöhnlichen Selbst und jenseits von anderen. Dies sei von den Vorfahren im Dharma und den großen Meistern authentisch übertragen worden. Durch die Sûtras werden die Begriffe und Vorstellungen von der Leerheit und der Existenz zerbrochen und überwunden.
Dôgen fügt hinzu:

"Wir lernen in der Praxis, dass das Selbst unausweichlich Anstrengung und Aufwand ist“.

Damit tritt er der Vorstellung entgegen, dass man ohne Anstrengung und ohne Zazen-Praxis das wahre Selbst bereits besitzt und sich nicht besonders darum bemühen muss. Er sagt:

"In diesem Lernen in der Praxis verlassen wir das Selbst und erfahren das Selbst als genaue Entsprechung (von Buddha)."

Er fährt fort, dass nur durch die authentische Übertragung von einem rechtmäßigen Nachfolger zum anderen die konkreten Hilfsmittel empfangen werden, damit wir das Selbst wirklich erfahren und verwirklichen. Im Folgenden beschreibt Dôgen die verschiedenen Lebensphilosophien, die für die Verwirklichung und Erfahrung des Selbst zu nennen sind. Es geht daher um die Teilwahrheit der ideellen Sichtweise, um die konkrete materielle Sichtweise der vielen Dinge und Phänomene in der Welt, um das Handeln und vor allem um die Wirklichkeit selbst, die der höchste Zustand des Menschen ist. Zur Lehre des Buddha-Dharma sagt er:

"Wenn wir andere daran hindern, den Dharma zu hören, wird (nicht zuletzt) verhindert, dass wir selbst den Dharma hören."