Mittwoch, 29. Oktober 2008

Die Wirklichkeit der zehn Richtungen des Universums (Teil 2)

Dôgen zählt dann die realen Dinge und Zusammenhänge des Kloster-Lebens auf und bringt sie mit den zehn Richtungen des Raumes in

Morgenstimmung im Kloster Tokei-in

Verbindung: Die Säulen des Klosters im Freien, die Steinlaternen und auch das Auge und Handeln. Er betont, dass bewertende Begriffe wie „rein“ oder „unrein“, aber auch „groß“ oder „klein“ ungeeignet sind, um diese konkrete Wirklichkeit zu beschreiben. Wir sollen diese so verstehen, wie sie ist, und die Realität von eigenen Bewertungen und subjektiven Vorstellungen klar trennen. Er wendet sich vor allem gegen die wechselseitige Herabsetzung und Diffamierung verschiedener buddhistischer Schulen und Traditionen und sagt:

"Wenn (die Buddhas) das Dharma-Rad drehen und den Dharma lehren, setzen sie sich nicht gegenseitig herab und sprechen nicht über Verdienste, Recht oder Unrecht der anderen. Vielmehr fördern sie einander und verneigen sich voreinander als Buddhas Schüler und als Buddhas."

Wer mit solchen Abwertungen um sich wirft, ist nach Dôgen ein Mensch außerhalb des Buddha-Weges oder sogar ein Dämon. Er betont, dass in den Sutras nirgends geschrieben steht, dass Gautama Buddha irgendjemanden diffamiert oder herabgesetzt hat. Wie können annehmen, dass Dôgen dies nicht ohne Grund hervorhebt, denn sicher gab es schon damals eine gewisse Tendenz, andere buddhistische Traditionen zu kritisieren und abzuwerten. Er hat sich zu diesem Problem in einem gesonderten Kapitel in diesem Sinne ganz eindeutig geäußert.
Im weiteren Verlauf des Kapitels zitiert Dôgen verschiedene große Meister zum Universum der zehn Himmelsrichtungen. Der Zenmeister Chosa Keishin sagte:

"Das ganze Universum der zehn Richtungen ist das Auge eines Mönchs."

Damit sei das Auge von Gautama Buddha gemeint, also die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges. Dieses wurde nach der Überlieferung im Zen-Buddhismus an den ersten Nachfolger im Dharma, Mahakashyapa, übermittelt. Dôgen versteht es hier allgemeiner, dass dieser Schatz nämlich an alle übergeben worden ist. Es wird daran erinnert, dass ein Bodhisattva unendlich viele Augen besitzt und so das Leid der Welt erkennt und helfend eingreift.
Das nächste Zitat lautet:

"Das ganze Universum der zehn Richtungen ist die alltägliche Rede eines Mönchs."

Damit wird die Bedeutung des Alltags und der alltäglichen Handlungen hervorgehoben, also nicht nur einer heiligen Rede am Feiertag oder zu besonderen Anlässen, sondern das natürliche, tagtägliche Reden und Kommunizieren. Die Worte sollten dabei klar und wahrheitsgemäß sein, also nicht doppelbödig, undurchschaubar, oder sogar Macht orientiert und von der eigenen Gier gesteuert.

Wichtig ist, dass die oft nicht eindeutige Sprache je nach Situation etwas anderes bedeuten kann und dass es darauf ankommt, herauszufinden, was der andere gerade benötigt und was wir für ihn tun können. Die Kraft der Sprache hat bei Dôgen eine besonders große Bedeutung und er sagt:

"Wer weiß schon, dass ein großer Mensch, der sich vom (unterscheidenden) Denken befreit hat, in der Rede seinen Körper, sein Gehirn und auch seine Rede selbst verwandelt."

Eine solche Rede sei natürlich wie die zehn Himmelsrichtungen und werde nicht von vorgefassten Meinungen, Bewertungen und fixiertem Denken eingeengt.
Das nächste Zitat lautet:

"Das ganze Universum der zehn Richtungen ist der ganze Körper eines Mönchs."

Damit wird auf die Legende verwiesen, dass Gautama Buddha direkt nach der Geburt auf den Himmel und auf die Erde zeigte und darauf hinwies, dass er selbst mit ihnen durch seinen Körper identisch ist und seine Lehre die Wahrheit ausdrückt. Wie in dem großen Kapitel zur Verwirklichung des Universums (Genjô kôan) herausgearbeitet wird, verwirklicht sich das Universum durch unser Handeln im Zustand des Gleichgewichts (Erwachen, Erleuchtung) und das Handeln ist durch den Körper "eines Mönchs" realisiert.

"Das ganze Universum der zehn Richtungen ist die strahlende Klarheit des Selbst."

Dôgen hat in einem gesonderten Kapitel die strahlende Klarheit im Buddhismus beschrieben. Das Selbst verwirklicht sich in der Einheit mit der Welt und dem Universum. Das „Selbst“ eines Menschen ist zunächst ein abstrakter Begriff, der aber durch das Handeln eines konkreten Menschen wirklich wird und eine konkrete Einheit bildet. Dôgen zitiert weiter:

"In der strahlenden Klarheit des Selbst existiert das ganze Universum der zehn Richtungen."

In der strahlenden Klarheit dieses Selbst sind nach Dôgen die vier Lebensphilosophien des Subjekts, Objekts, der Synthese im Handeln und der Wirklichkeit zusammengefasst. Das nächste Zitat lautet:

"Im ganzen Universum der zehn Richtungen gibt es niemanden, der nicht er selbst ist."

Als Erläuterung sagt Dôgen hierzu:

"Deshalb gibt es keinen einzigen hervorragenden Lehrer und keine einzige Handlung im ganzen Universum, die nicht er selbst und nicht sie selbst ist."

Damit spricht er sicher die möglichen Verfremdungen, Fremdsteuerungen und Deformationen an, denen die Menschen oft ausgesetzt sind und die ihnen so schwer zu schaffen machen. Wenn man seinen natürlichen, handelnden Zustand erreicht hat, ist man das „Wahre Selbst“, nicht mehr und nicht weniger. Dann gibt es keine Einschränkungen und Fixierungen, die durch dritte Kräfte erzeugt werden. Dann kann sich unser wahres Leben frei verwirklichen, und die wesentlichen Aufgaben werden in der uns zur Verfügung stehenden Lebenszeit tatkräftig wahrgenommen. Dôgen drückt dies durch einen zunächst schwer verständlichen Satz aus:

"Das Lebensblut eines jeden Selbst zahlt der Welt den ursprünglichen Preis seiner Strohsandalen zurück."

Die Formulierung der Strohsandalen wurde im Zen-Buddhismus für die Wanderungen der Mönche auf der Suche nach Wahrheit von einem Kloster und Meister zum anderen verwendet. Wenn diese Wanderungen sinnvoll waren, wird das so ausgedrückt, dass sie den Preis der durchgelaufenen Strohsandalen wert sind. Allgemein ausgedrückt heißt dies, dass wir die Möglichkeiten unseres Lebens sinnvoll ausschöpfen und den Buddha-Weg gehen. Die konkreten Dinge wie die Säulen der Tempel, also die Dinge der Formen und Materie, erscheinen dann immer wieder frisch und neu durch „Bodhidharmas Auge“ und „Gautamas Nasenlöcher“, also durch das wirkliche, lebendige Handeln.
Schließlich zitiert Dôgen den großen Meister Gensa, den er außerordentlich schätzte, mit seinem bekannten Ausspruch:

"Das ganze Universum der zehn Richtungen ist eine leuchtende Perle."

Gensa legte großen Wert auf die Unterscheidung von Fantasien, Traumgespinsten oder Täuschungen einerseits und der Wirklichkeit anderseits. In der Tat ist eine Perle die konkrete Wirklichkeit und sie hat ein wunderbares Leuchten und eine runde harmonische Form. Die leuchtende Perle ist etwas anderes als die "Gesichter von Dämonen" und die "schwarzen Höhlen (des begrifflichen Denkens)".

Dôgen gibt dann einen bekannten Ausspruch seines eigenen Meisters Tendô Nyôjo wieder, der die einfachen Handlungen wie das Tragen des Gewandes und das Essen der Mahlzeiten schätzte und sagte, dass er diese

"zu einem Ball aus formbarem Lehm machte, um seine älteren und jüngeren Mönchsbrüder damit zu schulen."

Dieses Gleichnis wurde nach Nishijima Roshi für die besonders intensive Schulung der Mönche verwendet. Ob der Meister Tendô Nyôjo einen solchen Ball symbolisch seinen Schülern an den Kopf warf, um sie aus den schwarzen Höhlen des unterscheidenden und zweifelnden Denkens und Fantasierens aufzuwecken, ist uns leider nicht bekannt.
Am Ende dieses Kapitels sagt Dôgen:

"Denn letztlich erfahrt und erforscht ihr die zehn Richtungen (nicht im Kopf, sondern) im wirklichen pulsierenden Leben selbst." Wörtlich heißt es im japanischen Text: "In den Nasenlöchern, die lebend sind."