Dienstag, 23. Dezember 2008

Das Gleichnis der vier Pferde (Teil 1)

In diesem Kapitel (Kap. 85, Shime) wird das intuitive Verständnis zwischen Schüler und Lehrer durch das alte indische Gleichnis der vier Pferde beschrieben. Dieses bezieht sich auf das Verhältnis des Reiters zu seinem Pferd, und wie schnell und intuitiv dieses bemerkt, was der Reiter will und in welche Richtung der Ritt gehen soll.

Es geht also darum, ob das Pferd intuitiv und genau reagiert, ohne dass der Reiter sein Kommando explizit übermittelt.
Es werden dabei vier Typen der Pferde unterschieden: Erstens: Das Pferd bemerkt die Absicht des Reiters, wenn dessen Peitsche sich zeigt, ohne dass diese überhaupt benutzt wird. Zweitens: Die Peitsche berührt das Fell des Pferdes und dieses weiß dann, was der Reiter will. Drittens: Der Reiter trifft das Fleisch des Pferdes. Viertens: Die Peitsche muss den Knochen treffen, damit das Pferd überhaupt bemerkt, was es tun soll, um dann entsprechend zu handeln. Dabei können wir den Reiter als unser eigenes Leben verstehen, dass manchmal wirklich hart zuschlagen kann.

Dieses Gleichnis wird auf den Lernprozess des Schülers bezogen: Im ersten Fall versteht der Schüler intuitiv, was der Lehrer will, ohne dass dieser seine Absicht formuliert oder explizit zum Ausdruck bringt. Zweitens: Der Lehrer benötigt nur einen klaren Hinweis, um die Richtung und Wahrheit des Buddha-Dharma an den Schüler zu übermitteln. In den Fällen drei und vier sind dann sehr deutliche Signale erforderlich, damit der Schüler merkt, worum und in welche Richtung es geht. Der Lehrer muss eventuell zu sehr drastischen Maßnahmen greifen, damit der Lernprozess überhaupt in die richtige Richtung gelenkt und damit der Schüler wach wird, was zu tun ist.

Dôgen zitiert dazu eine Geschichte von Gautama Buddha wie folgt: Eines Tages besuchte ein Nicht-Buddhist den Ort, wo Buddha weilte und sagte zu ihm:

"Ich bitte (zur Belehrung) nicht um Worte, und ich bitte nicht um keine Worte."

Der Weltgeehrte saß daraufhin eine Zeitlang auf seinem Sitz, ohne etwas zu sagen. Dann machte der Mann Niederwerfungen und bedankte sich überschwänglich für das Wohlwollen und das große Mitgefühl. Bei ihm seien tatsächlich die Wolken der Illusionen und Täuschungen aufgelöst worden, sodass er zur Wahrheit gelangen konnte.
Der Schüler Ananda fragte den Buddha, was der Nicht-Buddhist erlangen konnte, obgleich Buddha überhaupt keine Belehrung gegeben und sich nicht mit Worten an ihn gewandt habe. Der Weltgeehrte sagte:

"Es war wie ein gutes Pferd in der Welt, das die Form der Peitsche sieht und (schon) galoppiert."
Hier wird das Gleichnis der vier Pferde verwendet, bei dem der Besucher von Gautama Buddha mit dem guten Pferd verglichen wird, das sofort und in aller Klarheit intuitiv das Wesentliche erkennt und in Handeln umsetzt. Dazu bedarf es keiner Worte. Beim Gleichnis des Pferdes braucht der Reiter nicht die Peitsche zu benutzen und sei es auch nur, um das Fell des Pferdes zu berühren. Dôgen erwähnt, dass viele gute Lehrer dieses Gleichnis bei ihrer Arbeit verwenden, um den Schülern bei ihren Lernprozessen zu helfen. Manchmal bedarf es nur eines kleinen Hinweises des Lehrers, während ein anderes Mal viele Jahre der intensiven Unterweisung erforderlich sind, um auf dem Weg des Buddha-Dharma in die richtige Richtung voranzuschreiten. Dôgen sagt dazu:

"Wir sollten erkennen, dass der Weltgeehrte zwei verschiedene Arten des Lehrens verwirklichte: Heiliges Schweigen und heiliges Reden. Jene, die durch das (obige Gleichnis in den Buddha-Dharma) hinein gehen, sind wie die guten Pferde in der Welt, die nur die Form der Peitsche sehen und schon galoppieren. Jene, die durch das Erkennen des Lernens eintreten, das sogar jenseits des heiligen Schweigens und heiligen Redens ist, gleichen diesen (Pferden) ebenfalls."

Nishijima Roshi und M. Cross erklären in der Fußnote hierzu, dass damit das intuitive Verstehen der gesamten Situation gemeint ist und dass der Schüler unmittelbar und ohne Zögern handelt, genau wie die guten Pferde in dem obigen Gleichnis. In ähnlicher Weise zitiert Dôgen den Meister Nagarjuna, der die Zuhörer und Schüler mit dem guten Pferd vergleicht, wenn er für sie den Dharma lehrt. Dôgen bemerkt dazu, dass viele zwar den Buddha-Dharma suchen, aber in falsche Richtungen gehen. Es sei von großer Bedeutung, wie schnell sie auf den richtigen Weg kommen und dies sei das selbe, als wenn die guten Pferde schon richtig handeln, wenn sie die Peitsche nur sehen, ohne dass sie von ihr berührt oder gar getroffen werden.
Wenn wir einen wahren Lehrer gefunden haben, können wir den Buddha-Dharma auch lernen, wenn wir vorher nicht leiden mussten und nicht einmal die Dharma-Rede hören. Wir lernen dann in jedem Augenblick und fortwährend, ohne dass es der Worte des Lehrers bedarf. Schon das Handeln des Meisters gibt uns viele Hinweise und Unterstützungen für den Buddha-Weg, so dass verbale Erklärungen überhaupt nicht mehr erforderlich sind. Dabei kann es große zeitliche Unterschiede geben, wann der Schüler die Hinweise des Lehrers vollständig erkennt. Das intuitive Verstehen vollzieht sich nicht immer sofort, wie es das Gleichnis des Pferdes beschreibt, das die Peitsche nur sieht, ohne sie spüren zu müssen.