Montag, 22. Juni 2009

Welche Kraft kann den Geist der anderen erkennen? (Teil 1)

Kloster in Kamakura
In einigen esoterischen Gruppen besteht der Glaube, dass durch die intensive und ausdauernde Praxis die mystische Fähigkeit erlernt werden kann, den Geist der anderen Menschen vollständig zu erkennen. In diesem Kapitel untersucht Dôgen die Frage, wann und unter welchen Umständen jemand in der Lage ist, den Geist oder zumindest die Gedanken und Bilder der anderen Menschen zu lesen und zu erkennen.

Er bezieht sich dabei auf ein berühmtes Koan-Gespräch zwischen einem indischen Gelehrten, der nach China gekommen war, und dem großen chinesischen Meister Echu, der direkter Nachfolger von Daikan Enô war. Der damalige chinesische Kaiser hatte Meister Echu gebeten herauszufinden, ob der indische Gelehrte mit dem Namen Sanzo wirklich den anderen Geist erkennen könne. Diese Koan-Geschichte wird auch in dem Kapitel "Der Geist kann nicht erfasst werden" (Kap. 19) zitiert und erörtert.
In diesem Kapitel analysiert Dôgen den Inhalt und die Zusammenhänge des Koans noch tiefer und gründlicher und zitiert mehrere große alte Meister hierzu. Dann belegt er seine eigene Interpretation recht ausführlich.

Meister Echu war damals in China sehr bekannt und wurde ehrenvoll auch nationaler Meister genannt. Er galt als besonders unabhängig von den Machtstrukturen der damaligen Zeit und hatte nicht zuletzt deswegen den Ruf, immer die Wahrheit offen und klar zu äußern und keine gefälligen Äußerungen, Schmeicheleien oder Urteile abzugeben.

Dies mag sicher auch ein wichtiger Beweggrund des Kaisers gewesen sein, dass der Meister sich mit dem indischen Gelehrten Sanzo treffen solle, um ihn einschätzen zu können. Dieser hatte nach seiner Ankunft in China vollmundig erklärt: "Ich habe das Auge erlangt, das den Geist der Anderen intuitiv erkennt."

Bei ihrem Zusammentreffen machte der Inder eine Niederwerfung und der Meister fragte ihn:

"Hast du die Kraft, den Geist der anderen zu erkennen" und dieser antwortete: "Ich wäre nicht so vermessen (dies zu sagen)".

Er benutzte damit eine höfliche Ausdrucksweise, die aber in Wirklichkeit bedeutete, dass er in der Tat wirklich diese Kraft besaß. Durch die Verwendung dieser Höflichkeitsformel, die in China damals üblich war, wollte er seine Bescheidenheit dokumentieren, um nicht von Anfang an als überheblich zu gelten.

Der große Meister Echu sollte dies prüfen und stellte dem Gelehrten die scheinbar einfache Frage:

"Sage mir, wo ich jetzt bin, ich, der alter Mönch?"
Der Gelehrte antwortete darauf:
"Meister, ihr seid der Lehrer des ganzen Landes, warum seid ihr zum Westfluss gegangen, um ein Bootsrennen anzusehen?“

Er unterstellte dabei wohl, dass der Meister dem Bootswettbewerb zuschauen wollte. Da der Meister mit dieser Antwort überhaupt nicht zufrieden war, wiederholte er seine Frage und erhielt darauf eine ähnliche Antwort des Gelehrten:

"Meister, ihr seid der Lehrer des ganzen Landes, warum seid ihr auf die Tianjin-Brücke gegangen, um (jemanden) zu beobachten, der mit einem Affen spielt?"

Da dies den großen Meister Echu ebenfalls keineswegs befriedigte, wiederholte er seine Frage noch drittes Mal und erhielt dann aber überhaupt keine Antwort mehr. Der indische Gelehrte war verwirrt. Daraufhin kritisierte er ihn, weil er nichts mehr zu sagen konnte:

"Du (hast) den Geist eines wilden Fuchses, wo bleibt deine Fähigkeit, den Geist anderer zu erkennen"?

Bei dieser recht harschen Kritik blieb der indische Gelehrte wiederum sprachlos, weil er offensichtlich auf der Ebene des großen Meister nicht in der Lage war, ein tiefgehendes Gespräch im Sinne des Buddha-Dharma zu führen. Wenn man die beiden Antworten bedenkt, muss man in der Tat feststellen, dass sie doch recht platt und einfach sind und nur materielle äußere Tatsachen nennen, die durch die Sinne einfach wahrgenommen werden können.

Der indische Gelehrte konnte keineswegs den großen Geist des Meisters erkennen, wie er vorher gegenüber dem Kaiser behauptet hatte.Dôgen verdeutlicht darüber hinaus, dass der Gelehrte nicht einmal in der Lage war, die Gedanken des anderen zu lesen, die doch im allgemeinen recht konkret sind und im direkten Kontakt mit einer bestimmten Umgebung und in einem bestimmten Zusammenhang leichter erraten werden können.

Wie viel schwieriger sei es, den Geist eines anderen zu erkennen und dies umso mehr, wenn es sich um den Geist eines großen Meisters wie Echu handelt. Gelehrtes Wissen und die Beherrschung mehrerer Sprachen haben also wenig damit zu tun, dass man den Geist von anderen oder von sich selbst erkennen kann.