Sonntag, 4. September 2011

Das Selbst empfängt und erfährt sich beim Zazen

Der Zen-Buddhismus lehrt uns in Theorie und Praxis, wie wir zur Wirklichkeit und Wahrheit gelangen und damit ein freies, friedliches Leben voller Freude und Tatkraft führen können. Das ist die Erleuchtung oder mit einem anderen Wort das Erwachen. Dabei ist die Zazen-Praxis oder, wie es im Indischen heißt, der Samādhi ein zentrales Moment und der Kern der Übungspraxis. Beim Zazen werden Gedanken, Bilder und Emotionen zum Verschwinden gebracht, sodass der gewöhnliche Alltagsgeist überschritten wird und wir den wahren umfassenden Körper-und-Geist von quälenden und einengenden Vorstellungen, Emotionen von Hektik und Stress befreien. Dadurch kann sich unser natürliches Potential voll entfalten.

Dōgen selbst hat auf der Suche nach dem wahren Buddhismus, den er in Japan seinerzeit nicht finden konnte, in China schließlich seinen Meister Tendō Nyojō getroffen. Bei ihm lernte er, dass die vielfältigen theoretischen Probleme und Fragestellungen der buddhistischen Philosophie letztlich auf dem Weg zur Erleuchtung nicht weiterführen, sondern dass das Zazen als Übungspraxis hinzukommen muss, damit man die buddhistische Lehre überhaupt „versteht“. Dies ist aber keine Verachtung der Vernunft!
Dōgen verwendet gern für Zazen und den Zugang zum Buddha-Dharma die Formulierung:

Das Selbst empfängt sich und erfährt sich.“

Das wahre „Selbst“, das sich durch diese Übungspraxis intuitiv und ganzheitlich eröffnet, hat den Bereich der dualistischen Unterscheidung von Ich und Du, von Ich und Welt, von Subjekt und Objekt und all der vielen anderen Dualitäten und Bewertungen, welche die meisten Menschen in ihrem Leben vornehmen und auf die sie fixiert sind, verlassen und gelangt in das unmittelbare Handeln, Geschehen-Lassen und Schauen in der Gegenwart.

Allerdings negiert Dōgen keinesfalls die Bedeutung der theoretischen Lehre oder bestimmter Bilder und Vorstellungen im Buddhismus. Er betont jedoch immer wieder, dass die Theorie und die Ideen einseitig und unvollständig sind und nur einen Teil der Wirklichkeit und Wahrheit darstellen. Ohne das Handeln und die Praxis des Zazen finden wir keinen Zugang zum wahren Buddhismus. Nur in deren Zusammenwirken können wir ein Leben der Freude und der Überwindung des Leidens und des Dualismus führen.

Gerade die Freude ist eines der zentralen Themen Dōgens. Wir wissen aus der heutigen Psychologie, dass aus der Freude erhebliche Lebensenergien erwachsen, die es uns ermöglichen, auch schwierige Lebenskrisen zu meistern: Wer im Zazen sitzt, erfährt intuitiv und ganzheitlich, dass er den Körper und denkenden Geist, also auch das kleine, ängstliche oder aggressive Ich, fallen lässt und die festgefahrenen Ansichten, Gedanken und Gefühle jäh abschüttelt.