Mittwoch, 11. April 2012

Die Sein-Zeit existiert in den Bergen und Meeren

Dōgen kennzeichnet das richtige, angemessene Handeln des großen Meisters Baso:
„Er war damit vertraut, das Rechte zu sein, und er wurde durch die Lehre geleitet. Wenn man sich selbst (vom Handeln) abhält, ist das (aber) nicht (immer) identisch damit, recht zu sein. Und wenn man sich selbst dazu bringt (aktiv zu handeln), ist das nicht (automatisch) das selbe, recht zu sein. Alle diese (verschiedenen Situationen) sind Sein-Zeit.“

Baso hat also gelernt, in vollem Einklang mit der buddhistischen Lehre das Rechte zu tun und das Unrechte zu vermeiden. Dōgen behandelt dieses Thema besonders tiefgründig in einem anderen wichtigen Kapitel „Erzeugt kein Unrecht und erlangt die Freiheit!“ Darin betont er besonders, dass wir allgemeine Ideologien zur Moral vermeiden sollten und immer auf den ganz konkreten Einzelfall eingehen sollen.

Denn: Unüberlegter Aktionismus kann großen Schaden anrichten, weil er nicht auf dem Gleichgewicht beruht. Was angemessen ist, hängt von der jeweiligen Situation und nicht zuletzt von den Menschen ab, mit denen wir es man zu tun haben und die wir unterstützen wollen.
Nishijima Roshi verweist an dieser Stelle auf die große Bedeutung des wahren ethischen Handelns, damit unser Selbst und das Universum verwirklicht werden. Ein solches Handeln geschieht im gegenwärtigen Augenblick:

„Ohne solche Anstrengungen gibt es überhaupt keine Chance für uns, irgendetwas Wirkliches im gegenwärtigen Augenblick zu erzeugen, das auf der Sein-Zeit beruht.“

Aber Dōgen vertritt nicht den Aktionismus um jeden Preis, denn es ist nicht in jedem Einzelfall richtig: manchmal ist es besser, nichts zu tun: Unterlassen ist daher nicht immer falsch. In diesem Fall sind wir auch und gerade in der Einheit mit den anderen Menschen und dem Universum. Auch ein solches Geschehen-Lassen ohne Aktionismus ist Wirklichkeit und keine Trägheit oder Faulheit.
Dōgen fährt zur Sein-Zeit fort:

Ohne Zeit können die Berge und Meere nicht existieren: Wir sollten nicht verneinen, dass Zeit in den Bergen und Meeren hier und jetzt existiert.“

Am Ende dieses Abschnitts fasst Dōgen die von ihm beschriebene Lehre der Sein-Zeit noch einmal in einigen Kernsätzen zusammen: Im Buddhismus gibt es eine unauflösbare Verbindung mit der Natur, für die hier stellvertretend die Berge und Meere genannt werden. Die Natur soll nicht als unabhängig von uns selbst und unabhängig von der Zeit verstanden und erfahren werden. Durch unsere Anstrengung in der Praxis auf der Grundlage der buddhistischen Lehre – zum Beispiel im Zazen – erfahren wir die Identität mit Zeit und Universum und damit die Überwindung der Dualität.

„Wenn die Zeit untergeht, gehen die Berge und die Meere unter. Wenn die Zeit nicht dem Untergang unterworfen ist, sind auch die Berge und Meere nicht dem Untergang unterworfen.“

Mit dieser Feststellung bekräftigt Dōgen noch einmal die unauflösbare Identität von Zeit und Natur. Sie haben immer dasselbe Schicksal und befinden sich immer in Koexistenz. Das ist für westliches Denken eine ganz neue Wahrheit von großer Tragweite!