Dienstag, 29. Januar 2013

Shigons Erwachen beim Anblick der Pfirsichblüten im Tal



Diese Erleuchtungs-Geschichte im Zusammenhang mit einem Naturerlebnis ist voller Poesie und Aussagekraft: Meister Reiun Shigon war laut Dōgen seit 30 Jahren ein „Sucher der Wahrheit“. Das bedeutet, dass er regelmäßig und ausdauernd Zazen praktizierte und sich voll und ganz dem Buddha-Weg widmete.

Eines Tages unternahm er eine Wanderung in den Bergen, ruhte sich am Fuß eines Hügels aus und blickte auf die entfernten Dörfer im Tal. Es war Frühling, und die Pfirsichblüten standen in voller, wunderbarer Blüte. Bei diesem Anblick verwirklichte Shigon plötzlich die Wahrheit. Spontan und lange Überlegung verfasste er die folgenden Verse:

„Dreißig Jahre lang, ein Wanderer auf der Suche nach (dem scharfen) Schwert (der Wahrheit).
Wie häufig fielen die Blätter und sprossen die Knospen?
Nach einem Blick auf die Pfirsichblüten
bin ich direkt in der Gegenwart angekommen und habe keine Zweifel mehr.“

Nachdem Shigon seine Verse dem Meister Dai-i vorgelegt hatte, sagte dieser: „Wer durch die äußeren Phänomene (in die Wahrheit) eingegangen ist, wird niemals zurückfallen oder schwanken.“

Diese bedeutende Geschichte über das Erwachen und die Erleuchtung schildert den Augenblick der Wirklichkeit eines alten Mönchs, der bereits viele Jahre praktiziert hatte. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er mit Willensstärke und Zielstrebigkeit oder gar Ehrgeiz die Erleuchtung gewinnen wollte, sondern im Gegenteil: Die Szene wirkt entspannt und frei von Stress und Absicht: Erruht sich am Fuße eines Berges von der Wanderung aus.

Durch den Anblick der wunderbaren Pfirsichblüten fallen alle bisherigen Begrenzungen und Hemmnisse des Denkens und der Emotionen von Shigon ab, die klare Wirklichkeit hat direkten Zugang zu ihm und führt zur Einheit mit der Natur und dem Universum. Als er jung war, hatte er das Erwachen als etwas Besonderes gesucht, das scharf wie ein Schwert und etwas Extremes im Leben sein würde. Er hatte die Erleuchtung und das Erwachen mystifiziert und sich in großartigen Erleuchtungsutopien verloren. Gerade dadurch hatte er sich selbst den Weg zur einfachen, aber wunderbaren Wirklichkeit verstellt.

Dies alles war bei seiner Rast von ihm abgefallen, und genau dann öffnete sich sein Körper-und-Geist für und durch die Natur. Nun lebte er nicht mehr in der Vergangenheit oder Zukunft, nicht mehr in Illusionen und Erwartungen sondern, wie es in dem Gedicht heißt, ganz in der Gegenwart.

Der große Meister Dai-i bestätigte sein Erwachen und fügte hinzu, dass jemand, der durch die Natur eine solche Wirklichkeit erfahren hat, nicht mehr in frühere begrenzte Vorstellungen und Bewertungen zurückfällt. Er unterliegt keinen Verunsicherungen und Schwankungen mehr und kennt kein ängstliches Zaudern. Die Natur ist im direkten Erleben unkompliziert und spricht zu uns ohne Worte. Sie lehrt direkt den Dharma-Wahrheit für alle, die offen sind und die Wahrheit der Natur „verstehen“, wie es bei Dōgen in einem anderen Kapitel heißt.

Sicher gibt es auch viele falsche Erleuchtungserlebnisse, die auf Illusionen beruhen und lediglich gewisse psychische Ausnahmezustände und Halluzinationen sind. Viele mögen sich die Erleuchtung einbilden und täuschen sich damit selbst. Leider versuchen auch manche Lehrer, solche illusionären Geisteszustände bei Zuhörern und Schülern zu erzeugen.

Damit verwischen sie aber gerade den Unterschied zwischen Ideen und Wirklichkeit. Nishijima Roshi betont in aller Klarheit, dass es unmöglich ist, aus der Welt der Ideen, also dem Idealismus, in den Zustand der Erleuchtung zu gelangen. Dieser Ansatz zur Befreiung war meines Erachtens der fundamentale Irrtum des großen griechischen Philosophen Plato, der einen erheblichen Einfluss auf die abendländische Geschichte ausübte.

Nishijima Roshi kommentiert Shigons Erleuchtung folgendermaßen:
„Meister Shigon hatte mehr als 30 Jahre Zazen praktiziert, und eines Tages machte er einen Spaziergang in den Bergen zur Erholung. Als er am Fuße eines Berges Rast machte, sah er auf eine großartige Szenerie von Pfirsichblüten, die in den Feldern voll erblüht waren. Und dann wurde ihm sonnenklar, dass diese Welt wirklich existiert. Wir können daher annehmen, dass die Wirklichkeit sich manchmal (jäh) durch die äußere Welt (wie hier die Natur) offenbart.“