Mittwoch, 9. April 2014

Geist eines wilden Fuchses


Meister Daisho verwendet für den indischen Gelehrten den Ausdruck „Geist eines wilden Fuchses“, der im Shōbōgenzō mehrere Bedeutungen hat, bei denen es aber immer um unergründliche mystische Eigenschaften eines Menschen geht. Im Kapitel „Sich niederwerfen und das Mark der Wahrheit erlangen“ überwiegt bei dieser Formulierung der positive Aspekt eines großen Menschen.

Nishijima und Cross erläutern dazu, dass damit der „unergründliche mystische Aspekt eines (guten) Lehrers“ gemeint ist; insofern stimme der Ausdruck mit dem Thema des vorliegenden Kapitels überein, nämlich dass der umfassende Buddha-Geist eines erleuchteten Meisters nicht erfasst werden kann.

Wir kennen eine ähnliche Bedeutung der Formulierung „Geist eines wilden Fuchses“ in unserer westlichen Kultur nicht. In unseren Märchen wird der Fuchs als geschickt und schlau, aber auch als verschlagen und moralisch unzuverlässig beschrieben. Die Bedeutung des Geistes eines Fuchses im alten China ist sehr viel tiefgründiger. Generell sind dort negative Bewertungen von Tieren selten, und diese werden nicht als Schimpfnamen benutzt, wie bei uns etwa in den Ausdrücken „doofes Schaf“, „dumme Kuh“ oder „falsche Schlange“. Auch darin kommt die hohe Wertschätzung der Tiere und der gesamten lebenden und „nicht-lebenden“ Natur im Buddhismus klar zum Ausdruck.

Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass in den buddhistischen Übertragungslinien, die an die Wiedergeburt glauben, Inkarnationen als Tiere möglich sind und dass die Inkarnation über einen Hund zum „Wiederaufstieg“ ins menschliche Leben führt, dann wird deutlich, dass die negative Abgrenzung der Tiere gegenüber dem Menschen wie bei uns im Westen so nicht existiert. Die westliche Philosophie hat immer wieder versucht, den grundsätzlichen Unterschied zwischen den Menschen und den Tieren herauszuarbeiten und die Einzigartigkeit und Überlegenheit des Menschen zu betonen.

Wenn Meister Daisho also den Gelehrten Sanzō als Geist eines wilden Fuchses bezeichnet, meint er sicher damit, dass Sanzō sich zwar als mystisch erleuchteter Mensch ausgegeben hat, dies aber in Wirklichkeit überhaupt nicht ist. Die Ironie in Daishos Kritik ist dabei nicht zu überhören. Im Deutschen würden wir Sanzō zum Beispiel einen „falschen Heiligen“ nennen.

Bei dieser recht harschen Kritik blieb der indische Gelehrte sprachlos; offensichtlich war er nicht in der Lage, auf der Ebene des Meisters ein tiefgehendes Gespräch im Sinne des Buddha-Dharma zu führen. Der indische Gelehrte konnte also keineswegs den Geist des großen Meisters Daisho erkennen, wie er zuvor gegenüber dem Kaiser selbstgerecht behauptet hatte.

Dōgen verdeutlicht darüber hinaus, dass der Gelehrte nicht einmal einfache Gedanken des anderen lesen konnte, die doch im Allgemeinen recht konkret sind und im direkten Kontakt mit einer bestimmten Umgebung und in einem bestimmten Zusammenhang leichter erraten werden können.


Wie viel schwieriger sei es, den umfassenden Geist eines anderen zu erkennen, und dies umso mehr, wenn es sich um den Geist eines großen Meisters und ewigen Buddhas wie Daisho handle. Gelehrtes Wissen, die Beherrschung mehrerer Sprachen und selbstsichere Behauptungen haben also wenig mit der Fähigkeit zu tun, den Geist von anderen oder von sich selbst zu erkennen.