Freitag, 19. September 2014

Die Wahrheit hat die Kraft einen Edelstein herauszuziehen


 Wenn Dōgen davon spricht, dass man im Alltagsleben durch den „Schlamm geht und im Wasser steht“, bezieht er sich im Hinblick auf die große Wahrheit auf die täglichen Gegebenheiten im alten China und Japan. Er erklärt, dass wir uns selbst wie mit einem Seil an die große Wahrheit binden, und meint damit die Selbststeuerung des Zen, die alle Extreme vermeidet und mit dem buddhistischen Ethos im Einklang ist.

„(Die Wahrheit) hat die Kraft, einen Edelstein herauszuziehen und auch achtsam in das Wasser zu gehen und eine Perle zu finden. Wir sollen uns nicht dadurch irritieren lassen, dass die Wahrheit sich manchmal verabschiedet, dass sie auseinanderfällt oder auch plötzlich ganz verschwindet.“

Das heißt, dass wir im Lernprozess der Wahrheit manchmal das Bewusstsein und die Klarheit über diese Wahrheit selbst verlieren, aber dadurch kann sich das Problem der Wahrheitsfindung durch das Bewusstsein gerade auflösen. Wir handeln dann unmittelbar und ohne dualistisches Denken von Subjekt und Objekt.

Die Wahrheit besteht keinesfalls nur aus materiellem Beobachten und intellektuellem Denken, denn beides vollzieht sich in der Trennung von Subjekt und Objekt und ermöglicht keinen direkten, umfassenden Zugang zur Wirklichkeit.

Indem wir einen (geistigen) Salto machen, lernen wir die Wahrheit.“

Jeder besitzt laut Dōgen den natürlichen Zustand, den Umständen und Gesetzen der Welt und des Lebens zu folgen, also in Harmonie und Kreativität mit ihnen zu handeln. Dadurch fallen je im Augenblick die einengenden Mauern zusammen, und wir lernen, offen in den zehn Himmelsrichtungen zu leben.

Den Wahrheits- oder Bodhi-Geist beschreibt Dōgen in mehreren Kapiteln. Es sei von zentraler Bedeutung, dass wir genau diesen Geist erwecken, denn damit erlangen die Lebensbereiche von Leben-und-Tod und von Nirvāna sowie alle anderen Lebensumstände eine neue Bedeutung; sie überschreiten das herkömmliche Verständnis.

Der geografische Ort für den Aufenthalt des Menschen ist unwesentlich, wenn wir den Wahrheitsgeist erwecken und entwickeln. Dieser ist frei von Vorurteilen, psychischen Blockaden, Ängsten und gierigem Willen. Philosophische Begriffe und Bedeutungen wie Existenz oder Nicht-Existenz sind ebenfalls weitgehend bedeutungslos und werden einfach beiseite gelassen. Auch die üblichen Bewertungen wie gut oder schlecht, moralisch vorbildlich oder falsch sowie Begriffe wie Sünder, Zöllner und Gescheiterte verlieren ihre Bedeutung – und zwar für uns selbst und -nicht zuletzt- im Zusammenleben und Handeln mit anderen Menschen.

Dōgen betont, dass die Bodhi-Wahrheit weder eine Belohnung für früheres gutes karmisches Handeln ist, noch eine Folge davon, sondern es komme genau auf den jetzigen Augenblick und auf die Befreiung von karmischen Bindungen an.

Ein Mensch der Bodhi-Wahrheit mag sich so fühlen, als ob er „unter Fremden weilt“, deren Sprache er nicht mehr versteht, denn er hat die gewöhnlichen Lebensphilosophien verlassen. Der Wahrheitsgeist verlässt ihn allerdings nicht, gerade wenn er in schwierige Situationen kommt und mit Menschen Umgang hat, die gierig wie Tiere ihren Vorteil verfolgen oder mit verblendetem Geist verhärteten Ideologien nachjagen.

Der Wahrheitsgeist gibt den Menschen Stabilität, innerer Ruhe und Lebensfreude.