Im Herz-Sûtra heißt es
„Form - Leere. Leere - Form“.
Keineswegs ist damit nach Dôgen gemeint, dass es überhaupt keine Form und keine materielle Welt gibt und dass nur die isolierte Leere die Wirklichkeit ist [i].
Dies wäre eine irreführende philosophische Vorstellung, die sicher nicht der Inhalt des ursprünglichen buddhistischen Textes ist und schon gar nicht mit dem Verständnis und der Praxis des Zen-Buddhismus übereinstimmt. Zentrale Aussage des Herz-Sûtra ist demgegenüber, dass die Leerheit als Freiheit von falschen Doktrinen, wie des âtman, die immaterielle Seite der Wahrheit ist, die mit der materiellen Seite der Form in Übereinstimmung sein muss. Die Welt hat also immer eine materielle Seite der konkreten Einzelheiten und die nicht-materielle Seite, die ebenso real ist. Aber wir dürfen nicht auf die äußere Form fixiert sein.
Dôgen kritisiert massiv,
dass manche behaupten, Materie könne absichtlich und mithilfe des Willens in
Leerheit umgewandelt werden und umgekehrt könne die Leerheit aufgeteilt werden,
um Materie zu erzeugen. Tatsächlich gibt es auch in einigen neueren buddhistischen
Texten ein Erklärungsmodell, das versucht, die Leerheit materiell zu beweisen: Wenn man die Materie immer weiter
aufteilt, bliebe schließlich nichts mehr übrig, daher sei die Materie leer. Als
Begründung wird die moderne Physik herangezogen, die besagt, dass es keine
Atome als kleinste unteilbare Einheiten gibt, wie uns von den Griechen
übermittelt wurde, sondern dass man Materie immer weiter unterteilen kann, bis
man zu den subatomaren Elementarteilchen gelangt. Diese seien aber immer weiter
teilbar, beziehungsweise als kleine Energieprozesse existieren.
Dieser Argumentation liegt
eine materielle, naturwissenschaftliche
Lebensphilosophie zugrunde. Sie ist methodisch zweifelhaft, weil sie eine
Schlussfolgerung aufbaut, die die Leerheit gerade materialistisch beweisen
soll.
Genau diese materielle
Scheinlogik lehnt Dôgen ab, denn die Leerheit ist eine Erfahrung der Freiheit
vom Ideologien und Doktrinen der vierten und höchsten Dimension des Lebens nach
dem Erwachen. Materielle Argumente können nur unvollständige Teilwahrheiten
erfassen. Genauso unsinnig ist es, immaterielle
Ideen oder unkörperliche Wesen als Ursprung
anzunehmen, aus denen sich das Materielle und Formgebundene entwickeln würde
oder ableiten ließe. Dôgen drückt das ganz einfach so aus:
„Leerheit,
in der die Leerheit genau Leerheit ist.“
Die Erfahrung der Leerheit
kann nur in der Leerheit selbst gemacht werden. Dazu zitiert er Meister Seikiso Keisho, der auf die Frage eines
Mönchs
„Was war die Absicht des alten Meisters
(Bodhidharma), als er aus dem Westen kam?“ antwortete: „Ein Stein im Raum.“[ii]
Das klingt nach einem der
angeblich unverständlichen und paradoxen Zen-Zitate, ist es aber nicht. Nach
meiner Ansicht will der Meister damit jedoch sagen, dass der konkrete Stein als
Realität wichtig ist und wir uns nicht in spekulativen Welten des Denkens
verlieren sollten. Denn woher soll der Meister die wirkliche Absicht von
Bodhidharma kennen, ohne zu behaupten, dass er selbst allwissend ist? Das ist
einem Zen-Meister total fremd. Der Raum zählt im Buddhismus bekanntlich zu den
materiellen Elementen, also hier den Dharmas. Die spekulative Frage des Mönchs
beantwortet der Meister indirekt, indem er sinngemäß sagt, dass der Mönch zu seinen
Ideen und schönen spirituellen Fantasien
die konkrete Form hinzufügen muss, um
zur Wirklichkeit zu gelangen.
Der einseitige Idealismus
ist genauso wenig wie der einseitige Materialismus in der Lage, die Wahrheit
der Leerheit und der Buddha-Natur zu verwirklichen. Häufig wird sogar
behauptet, dass nur die Leere wie das Nichts die wahre Wirklichkeit ist. Dies
wäre eine irreführende philosophische Vorstellung, die sicher nicht der Inhalt
des ursprünglichen buddhistischen Textes ist und schon gar nicht mit dem
Verständnis und der Praxis des Zen-Buddhismus übereinstimmt.
Häufig wird bei der den Begriffen „Form - Leere. Leere - Form“ beides durch ein "ist" verbunden, also "Form ist Leere". Das "ist" gibt es im Original des Sanskrit aber nicht. Dann kann es allerdings zu Missverständnissen führen. Es geht m. E. gerade nicht um die Identität von Form und Leerheit, denn nach dem Mittleren Weg Nagarjunas gibt es in unserer Wirklichkeit weder die totale Identität noch die totale Differenz. Eine solche behauptete totale Identität wäre ja auch paradox und schwer nachvollziehbar.