Sonntag, 26. August 2007

Erzeugt kein Unrecht ! (Shoaku makusa)


Im Shôbôgenzô erläutert Dôgen in diesem wichtigen Kapitel: "Erzeugt kein Unrecht!" (Kap. 10, Shoaku makusa), dass aus buddhistischer Sicht das Unrecht von Natur aus in der Welt gar nicht vorhanden ist, sondern vom Menschen durch unrechtes Handeln erzeugt also hinzu gesetzt ist. Das ist in der Tat verblüffend, denn in den meisten Religionen wird festgelegt, dass das Böse z. B. in Form des Teufels Teil dieser Welt und des Menschen ist und mit Gewalt bekämpft werden muss. Auch der Marxismus lebt nicht zuletzt von der Verdammung des Bösen als einer Art „Urkraft“ der Gesellschaft, die mit allen Mitteln ausgeschaltet werden muss. Genau genommen gibt es aber im Buddhismus das Unrecht als eine Art böse dauerhafte Essenz überhaupt nicht, sondern es gibt nur das unrechte Tun und Handeln der Menschen, das gegen Moral und vor allem gegen die Gesetze des Universums verstößt.
Es wurde schon mehrfach betont, dass Moral und Ethik, also richtiges Handeln, untrennbar mit der buddhistischen Lehre verbunden sind, dass der Buddhismus also keine „wertfreie“ Philosophie oder Theorie ist, sondern die Einheit von Körper, Geist, Handeln und Moral umfasst. Rechtes oder unrechtes Handeln im Hier und Jetzt des Augenblicks und Ortes sind also für den Buddha-Dharma ganz wesentlich, wobei das unrechte Handeln wie betont gerade gegen die Gesetze des Universums und damit gegen Moral verstößt und eigentlich in der Welt von Natur aus überhaupt nicht vorhanden ist. Wenn man also, wie häufig zu beobachten ist, abstrakt und meist empört über das Unrecht in der Welt oder der anderen diskutiert, ist dies viel zu allgemein und bleibt in der Dimension der Theorie und Philosophie. Deshalb kann man auch über Unrecht so gut diskutieren, sich streiten, sich besser fühlen als andere, aber in Wirklichkeit hat man dabei selbst Unrecht getan. Dann hat man eben gerade durch den Streit und die Verletzung des anderen die sozialen Gesetze des Buddhismus verletzt und derartige aggressive Diskussionen verhärten sich oft immer mehr zu einem Kampf mit Worten des einen Ego gegen das andere. Dies kann aber auf keinen Fall der Buddha-Dharma sein.
Ein alter Buddha lehrt:

„Vielfältiges Unrecht nicht zu erzeugen.
Die vielen Arten des Rechten achtungsvoll zu tun.
Macht Herz und Geist auf natürliche Weise rein.
Dies lehren alle Buddhas.“

Bei der Übersetzung der deutschen Fassung von "Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges" (Shôbôgenzô) haben Frau Ritsunen Linnebach und ich gründlich überlegt, ob wir die häufig verwendete Fassung "Kein Unrecht tun" verwenden sollen oder nicht. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die präzise Übersetzung aus dem Japanischen eher dem deutschen Begriff "erzeugen" entspricht und dass Dôgen dies auch genau meint. Dadurch kommt besonders klar zum Ausdruck, dass das Unrecht sozusagen künstlich durch die Menschen erzeugt wird und eigentlich von Natur aus gar nicht existiert. Auch wenn man eine andere Übersetzung wählen würde wie: "Enthaltung von dem Übel", so beruht dies auf der Vorstellung, dass das Übel in der bereits Welt vorhanden ist und dass man sich davor in Acht nehmen soll, sich also dessen enthalten soll. Dies will Dôgen aber u. E. nicht sagen.
Die Behauptung, dass man das Unrechte und Übel erst erzeugt und es in der Harmonie des Universums und der Welt sonst gar nicht vorhanden wäre, mag zunächst wirklich überraschen. Wenn wir aber bedenken, dass der Buddhismus grundsätzlich auf das Handeln abstellt, und so dem Handeln die Qualität der Wirklichkeit und Wahrheit gibt, nicht aber einer abstrakten Idee oder gedachten Existenz, dann hat dies für unser Leben wirklich eine ganz große Bedeutung. Danach kommt es einfach darauf an, dass wir nichts Unrechtes tun und dass wir uns in unserem Leben und Handeln den vielen Möglichkeiten, Sinnvolles und Gutes zu tun, mit Sorgfalt und Achtung widmen.
Bisher wurde das aktive eigene Handeln betont. Aber wie Dôgen sagt, geht es auch darum, dass man das rechte Handeln geschehen lässt und das Unrechte nicht zulässt. Also auch ein eher passives Verhalten des Geschehen-Lassens muss bei der Frage des moralisch richtigen Handelns voll einbezogen werden. Mit unrechtem Handeln kommen wir in unserem Leben häufig in Berührung. Dies kann durch Freunde, Verwandte, aber auch Feinde und Konkurrenten geschehen. Damit sagt der Buddhismus in aller Klarheit, dass es moralisch nicht korrekt ist, zuzuschauen und es zuzulassen, wenn andere Unrechtes tun. Ein solches Verhalten kann auch nicht mit dem falsch verstandenen Satz: „Es ist wie es ist“ begründet werden, um sich aus der Verantwortung in der Welt zurückziehen zu können. Weiterhin gibt es nach Dôgen neben dem rechten und unrechten auch neutrales Handeln, das weder Recht noch Unrecht ist.
Da das Unrecht nicht als dauerhafte abstrakte Wirklichkeit besteht, sondern durch Handeln erzeugt oder nicht erzeugt wird, kann dies nur je im gegenwärtigen Augenblick geschehen. Das rechte oder unrechte Handeln existiert also nur im jetzigen Augenblick der Sein-Zeit und nicht auf Dauer. Aus buddhistischer Sicht ist das Unrecht der Vergangenheit, das wir erinnern, dem Unrecht des wirklichen Augenblicks nur ähnlich oder unähnlich, es ist aber nicht dasselbe. Das Gleiche gilt für erwartetes und vorgestelltes Unrecht in der Zukunft. Die Klarheit darüber wird uns durch die buddhistische Praxis, vor allem des Zazen, deutlich. Dôgen sagt hierzu, dass sich damit die Menschen des Buddha-Dharma und der gewöhnlichen Lebenswelt bei der Frage von Recht oder Unrecht mehr unterscheiden, als die Abweichungen innerhalb des Buddhismus selbst. Wie in dem Kapitel Sein-Zeit (Uji) im Shôbôgenzô im Einzelnen behandelt wird, ist die wahre Zeit des Augenblicks untrennbar mit dem Handeln von Recht und Unrecht verbunden.
Wenn man die Worte hört, dass man kein Unrecht erzeugen soll, verändert dies meistens schon das Verhalten und Handeln des Menschen. Wichtig ist, dass die buddhistische Praxis, z. B. des Zazen, hinzu kommt und dass ein moralischer Vorsatz nicht auf das Denken und Reden beschränkt bleibt. Denn die Kraft der Praxis ermöglicht es vor allem, dass wir an Klarheit gewinnen und unser Handeln und Verhalten umstellen. Dann gibt es eine intuitive moralische Klarheit im Augenblick, so dass es unmöglich wird, etwas Unrechtes zu tun. Da wir immer im gegenwärtigen Augenblick handeln, bedeutet dies die Klarheit und Kraft im Jetzt. Dieser Augenblick ist so kurz, dass wir nicht gleichzeitig über Recht und Unrecht reflektieren und handeln können. Indem wir recht handeln, kann sich eine Eigenständigkeit des Unrechten an keinem Ort und zu keinem Zeitpunkt entwickeln, selbst wenn wir in einer Umgebung leben und in eine Situation geraten, in der Unrechtes getan wird, sich also das Unrecht gegenüber dem Handeln verselbstständigt hat. Dann hat sich auch der Gedanke oder die Idee verselbstständigt und beherrscht den Geist. Dôgen drückt dies wie folgt aus:

"Wenn ihr euch mit eurem ganzen Geist und mit eurem ganzen Körper der Praxis (des Zazen) hingebt, verwirklicht sich achtzig oder neunzig Prozent (davon, dass kein Unrecht erzeugt wird) gerade vor diesem Augenblick und im folgenden Augenblick.“

Die Praxis des Zazen verwirklicht sich dabei körperlich und geistig durch das Handeln und es wird vermieden, dass wir unser Selbst verunreinigen. Da bei der buddhistischen Praxis die Einheit mit dem Universum und der Welt besteht und die Abgrenzung und Dualität überwunden wird, kann man sagen, dass wir auch die Berge, Flüsse, die Erde, Sonne, den Mond und die Sterne praktizieren und dass wir sie praktizieren lassen. In diesem Sinne haben die Buddhas und Vorfahren im Dharma die Praxis und Erfahrung niemals verunreinigt und sind dadurch frei und haben sich selbst niemals eingeschränkt. Dies bedeutet:
„Erzeugt kein Unrecht!“.
Das Unrecht ist nach buddhistischer Lehre als Faktum weder existent noch nicht existent, sondern es wird beim Handeln erzeugt. Genauso wenig hat es materielle oder immaterielle Qualität, denn es geht um das Erzeugen im Augenblick als Tun. Dies darf man nicht allgemein abstrakt verstehen, sondern es bedeutet wirklich das reale konkrete Handeln im Hier und Jetzt. Allzu leicht wird das Unrecht beschönigt und verkleinert, aber dies sind Bewertungen des Menschen, die Unklarheiten zur Folge haben. Indem wir bedauern, dass wir etwas Unrechtes getan haben, entwickelt sich die Kraft und das Streben nach dem Richtigen. Wenn man also durch die Übungspraxis Kraft und Klarheit gewonnen hat, ist es überhaupt nicht mehr möglich, willentlich Unrechtes zu erzeugen.
In dem obigen Gedicht heißt es dann, dass wir die vielen Arten des Rechten achtungsvoll tun. Dabei geht es also auch konkret um das Handeln im Augenblick und die Freiheit, die wir dann haben, Gutes und Rechtes zu tun. Denn das Rechte ist nicht unabhängig vom Tun und überhaupt nicht eigenständig vorhanden. Diskussionen darüber, ob das Rechte existiert oder nicht existiert, führen also nicht weiter und erstarren auf einer theoretischen Ebene, die vom Handeln im Alltag und Hier und Jetzt völlig getrennt sein kann. Es ist in der Tat erstaunlich zu sehen, dass Menschen ganz anders handeln, als sie glauben und denken zu handeln, und dass oft theoretische wohlklingende Moral damit verbunden ist, dass das Rechte gerade nicht getan wird. Überhaupt wird manches als Rechtes bezeichnet, was bei genauer Untersuchung des Handelns selbst wirklich nicht als richtiges Handeln bezeichnet werden kann. Dôgen betont an dieser Stelle auch, dass es viele verschiedene Wege gibt, Rechtes zu tun, nämlich die Glaubenspraxis des reinen Landes und die Zazenpraxis, die er selbst so sehr schätzt. Wichtig ist, dass man beim Rechten achtungsvoll handelt, das heißt also, Achtung vor anderen Menschen und vor ihrem Handeln hat. Wie Dôgen an anderer Stelle betont, gilt dies nicht nur für Freunde und Verwandte, sondern auch für Konkurrenten oder Feinde, hat also sowohl einen engen Bezug zum Leben in der Familie und zum Umgang mit Freunden als auch zum Beruf, bei dem häufig Konkurrenzkämpfe und Positionsneid vorherrschen. Auch das achtungsvolle Tun des Rechten vollzieht sich im Augenblick selbst und man kann die Entschuldigung, das Rechte nicht tun zu können, auch nicht auf die Umstände und Situationen abschieben. Was für das aktive Tun gilt, ist auch für das Geschehenlassen wahr, denn man kann Rechtes auch dadurch verwirklichen, dass man etwas geschehen lässt und nicht störend oder egoistisch eingreift und damit Unrecht erzeugt.
Im Gedicht heißt es weiter, dass sich das Herz und der Geist auf natürliche Weise öffnen und diese rein werden, wenn man kein Unrecht erzeugt und das Rechte achtungsvoll tut. Auch diese Aussage darf jedoch nicht in der Theorie und im begrifflichen Denken stecken bleiben, sondern muss erfahren und erforscht werden. Dann kann man lernen, wie Buddhas sein sollen und man verhält sich nicht wie gewöhnliche Menschen, die sich mit dem Leiden durch unrechtes Handeln abfinden und nicht zum rechten Tun vorstoßen. So kann auch im alltäglichen Leben ganz wirklich vermieden werden, das Unrechte zu erzeugen und es kann ermöglicht werden, das Rechte zu tun.

In einer berühmten Zen-Geschichte fragte ein bekannter Dichter einen großen Meister:
"Was ist der große Sinn des Buddha-Dharma?“
Der Meister antwortete:
"Kein Unrecht zu erzeugen und das Rechte zu tun.“
Der Dichter, der auch ein bedeutender Gouverneur war, sagte darauf etwas abfällig:
"Wenn das so ist, kann dies sogar ein dreijähriges Kind sagen."
Der Meister sagte daraufhin:
"Ein dreijähriges Kind kann schon die Wahrheit sagen, aber selbst ein erfahrener Mann von 80 Jahren kann sie nicht konkret verwirklichen."

Der Dichter dankte daraufhin zwar dem Meister mit einer Niederwerfung, aber den tieferen Sinn der Aussage konnte er nicht verinnerlichen. Er war im Übrigen sehr berühmt wegen seiner großen Fähigkeiten als Dichter, und im Kreise der Schriftsteller und Dichter wurde er außerordentlich verehrt. Den tieferen Sinn der Aussage, dass man kein Unrecht erzeugen solle und das Rechte tun solle, konnte er jedoch nur als begriffliche Aussage, also auf der Wort- und Denkebene verstehen. Dies ist auch nicht verwunderlich, weil er ein Mann des Wortes und der Dichtung und nicht des Tuns war. Wesentlich ist jedoch die Praxis und das Handeln und dies unterscheidet sich leider häufig vom Reden und Denken. Seine hohen dichterischen Fähigkeiten hatten offensichtlich für ihn zur Folge, dass er von der buddhistischen Praxis im Zazen und im Alltag noch weit entfernt war. In der Tat ist es leicht zu sagen, was moralisch sinnvoll und richtig ist, nämlich kein Unrecht zu erzeugen und das Rechte zu tun. Es ist richtig, dass bereits ein Kind dies sagen kann, das sprechen gelernt hat und vernünftige Sätze redet. Aber die Verwirklichung eines solchen moralischen Vorsatzes erfordert eine ganz andere Dimension des Lebens, so dass selbst die Erfahrung eines sehr langen Lebens und das notwendige Lernen auf dem Weg des Dharma wohl nicht ausreichen, um dies vollständig zu verwirklichen. Für diese Verwirklichung ist eine intuitive Klarheit und umfassende Kraft des Handelns im Augenblick erforderlich. Dies kann man auch mit Dogen die wunderbaren Ursachen und Wirkungen oder die Buddha-Ursachen und Buddha-Wirkungen nennen. Auf diese Weise kann man sich befreien, indem man nichts Unrechtes erzeugt, selbst wenn in finsteren Zeitaltern das Unrecht immer mehr zunimmt und sich auf der ganzen Welt ausbreitet. Wenn man das Rechte tut, und es gibt viele Arten davon, verwirklichen sich das Wesen, die Form, der Körper und die positive Kraft. Aber selbst ein großer Dichter, der leider im Buddha-Dharma noch nicht weit vorangekommen ist, kann nach der obigen Geschichte eine solche Wahrheit nicht erfassen.
Es sei auch zu fragen, warum das dreijährige Kind überhaupt abgewertet wurde, weil der Dichter sagte, es könne schon eine solche Aussage zum Unrecht formulieren. Er wollte wohl damit sagen, dass das Ganze nicht sinnvoll ist. Dogen bezweifelt an dieser Stelle, dass der Dichter überhaupt weiß, was ein dreijähriges Kind wirklich ist. Denn wenn er es tastsächlich kennen würde, wäre ihm auch der Buddha-Dharma zugänglich. Er sagt hierzu:

"Wer ein Staubkorn wirklich kennt, kennt das ganze Universum und wer einen Dharma wirklich durchdringt, durchdringt die zehntausend Dharma".
Man kann sogar sagen, dass ein Kind sofort nach der Geburt an dem Löwengebrüll der buddhistischen Lehre teilhat und sich auf den Weg des Buddha-Dharma begibt. Dieses Löwengebrüll eines Kindes versteht der Dichter offensichtlich nicht und es scheint so, dass er das Reden des Kindes als kindliches Geplapper abtut. Aber schon ein dreijähriges Kind kann die Wahrheit ausdrücken und dies sollten wir gründlich erforschen und durchdringen. Ob und wann ein erfahrener Mann von 80 Jahren die Wahrheit verwirklicht oder nicht, sollten wir genauso untersuchen. Dabei ist es sinnvoll, dass wir uns nicht von Interpretationen leiten lassen, dass wir nichts wegnehmen und nichts hinzufügen, sondern die Wirklichkeit und damit die Wahrheit so verstehen und erfahren, wie sie sind.