Freitag, 2. November 2007

Wie begegnen wir Buddha und den großen Meistern?

In diesem wichtigen Kapitel: "Buddha begegnen" (Kap. 61, Kenbutsu) gibt Dôgen seine tiefen Erfahrungen der Verbindung mit den großen buddhistischen Meistern, vor allem mit seinem eigenen Lehrer Tendo Nyojo, wieder. Wie begegnen wir nun Buddha und insgesamt der buddhistischen Lehre? Viele Ausführungen aus anderen Kapiteln des Shôbogôgenzô werden hier angesprochen und an dieser Stelle nur kurz erwähnt, sie schwingen aber bei allen Aussagen mit. Dies gilt vor allem für die großen Kapitel "Ein Gespräch über die Praxis des Zazen" (Kap. 1, Bendôwa), "Das verwirklichte Universum" (Kap. 3, Genjo-kôan), "Geist hier und jetzt ist Buddha“ (Kap. 6, Soku shin ze butsu), "Die Sein-Zeit" (Kap. 11, Uji), "Die Blume des Dharma dreht die Blume des Dharma" (Kap. 17, Hokke ten hokke), "Der Geist kann nicht erfasst werden" (Kap. 18 u. 19, Shin fukatoku), "Die Buddhanatur", (Kap. 22, Busshô), und das Kapitel "Es" (Kap. 29, Inmo). Sicher ist diese Aufzählung nicht vollständig, denn eigentlich hängen alle Themen und Kapitel des Shobogenzo miteinander zusammen und bilden ein großartiges Ganzes der buddhistischen Lehre des Zen in Ostasien. Für mich hat Meister Dôgen ein großartiges und umfassendes Gesamtwerk des wahren Buddhismus hinterlassen, das von unschätzbarem Wert ist.

Die Begegnung mit Buddha bedeutet die eigene Verschmelzung mit der Lehre und Praxis des Buddha-Dharma und ist unauflösbar mit der Praxis des Zazen, mit den gründlichen Studien der authentischen Schriften und dem Lernen von einem wahren Lehrer und Meister verbunden. Die Begegnung beschränkt sich damit keineswegs nur auf das Studium der Schriften, sie kann auch nicht mit einer fälschlicherweise als buddhistisch bezeichneten Weltanschauung erlangt werden, welche die Wirklichkeit der materiellen Welt leugnet und alles nur aus dem Geist erklären will. Wenn man also nur buddhistische Schriften liest und studiert, und seien sie noch so wahr und schön formuliert, findet man keinen Zugang zum echten Buddha-Dharma und begegnet dem Buddha nicht.
In diesem Kapitel untersucht Dôgen vertieft die Fähigkeit des Sehens als Teil der sinnlichen Wahrnehmung und dessen Bedeutung für die wahre Begegnung mit dem Buddhismus. Nach der Lehre von Nishijima Roshi darf man jedoch bei der Wahrnehmung nicht an der äußeren Form, am Materiellen und am sinnlichen Genuss hängen bleiben, weil dies nur eine Teilwahrheit der Wirklichkeit sein kann. Nach seiner Lehre ist dies nur eine von vier Sichtweisen oder Lebensphilosophien. Daher muss die Lehre des Buddhismus aus den Schriften und der mündlichen Überlieferungen hinzukommen. Vor allem das Handeln im gegenwärtigen Augenblick des Hier und Jetzt ist außerdem wesentlich, um zur höchsten Wirklichkeit und einer umfassenden Intuition zu gelangen. Ein willensmäßiges Streben und Konzentrieren, um Erleuchtung zu erlangen, bringt jedoch nach Dôgen nicht den gewünschten „Erfolg“ und verkehrt sich sogar zwangsläufig ins Gegenteil, das heißt, das angestrebte Ziel der Erleuchtung entschwindet mit großer Sicherheit dann, wenn man es willensmäßig erzwingen will.

Dôgen schätzte das Lotus-Sûtra als wahre buddhistische Lehre außerordentlich, er geht jedoch bei der Interpretation wesentlich weiter als beim üblichen bekannten Verständnis dieses großartigen Sûtra. Er trat als ganz junger Mönch in ein Kloster der Tendai-Linie ein, die das Lotus-Sûtra zur Grundlage hat. So hat er sich in seinem ganzen Leben mit diesem Sûtra und der darin behandelten Lehre beschäftigt und verbunden. Für ihn ist es jedoch keineswegs eine märchenhafte fantastische Erzählung voller Wunder und poetischer Formulierungen, sondern es eröffnet den Zugang zum Hier und Jetzt im Handeln, in der Sein-Zeit und in der umfassenden intuitiven Weisheit.
Dôgen zitiert Shakyamuni Buddha:

"Wenn ihr sowohl die vielfältigen Formen als auch die Nicht-Form erfasst, begegnet ihr sogleich dem Tathagata".

Darin wird also ausgesagt, dass sowohl die äußeren Formen, nämlich die materielle Sicht der sinnlichen Wahrnehmung, als auch die Lehre, die Ideen, das Handeln und die höchste Intuition Grundlagen der wahren Begegnung mit dem Tathagata sind. Dies bedeutet eine grundsätzliche Abkehr von dem nur geistigen Verständnis des Buddhismus und beinhaltet nicht zuletzt die Wahrnehmung der Schönheit der Natur und der Welt. Dies gilt z. B. bei der Lotusblume, den blühenden Pflaumenzweigen, bei dem Klang, der entsteht, wenn ein Stein auf ein Bambusrohr trifft und bei der zentralen Aussage des Lotus-Sûtra: "Die Dharmablume dreht die Blume des Dharma". Dôgen sagt hierzu:

"Dieses Auge (der Form und Nichtform) zu verwirklichen, dass Buddha sehen kann und sich bereits durch diese Erfahrung geöffnet hat, nennen wir Buddha begegnen. Der kraftvolle Weg des Auges, das Buddha begegnet, ist das an Buddha teilhabende Auge".

Er macht weiter deutlich, dass das einfache Sehen der sinnlichen Wahrnehmung überschritten werden muss, sodass man "selbst als Buddha jenseits von Buddha sehen kann". Dies soll aber nicht theoretisch und nur gedanklich vollzogen werden, sondern man muss die Begegnung mit Buddha erfahren und erforschen. Viele Zen-Buddhisten lehnen das, was Dôgen als Erforschen bezeichnet, bewusst oder unbewusst ab und meinen, weder das Studium der Schriften noch das eigene gründliche Denken sei maßgeblich auf dem Weg des Buddha-Dharma. Dies ist aber nicht richtig. Dôgen stellt in jedem Kapitel des Shôbôgenzô eine Vielzahl von Fragen und will uns damit anregen, dass wir aktiv und gründlich selbst nachdenken und erforschen, was mit den buddhistischen Texten gemeint ist und wie dies mit den eigenen Erfahrungen und dem eigenen Erleben zusammenhängt. Dôgen erweitert auch die enge individualistische Vorstellung des Ich und sagt:

"Deshalb sind die ganze Welt des Selbst, die Welt, die euch umgibt, wie auch dieses und jenes Einzelding alle gleichermaßen das Bemühen und die Anstrengung, Buddha zu sehen und ihm zu begegnen".

Es wird ein großer alter Meister zu diesem Thema zitiert:

"Wenn ihr die vielfältigen konkreten Formen als Nicht-Form anseht, könnt ihr dem Tathagata nicht begegnen".

Mit dieser Aussage ist zweifellos gemeint, dass man auch die konkreten Formen, Farben undGerüche der Welt einbeziehen muss, und dass bei dem Leugnen oder Weg-Diskutieren der Welt der vielfältigen Formen sich der Buddha-Dharma nicht öffnet und man dem Tathagata nicht begegnen kann. Hierin kommt zum Ausdruck, dass der Buddhismus im Kern ein intuitiv erweiterter Realismus ist, wie Nishijima Roshi häufig betont. Eine Offenbarung durch die Schriften des als formlos gedachten Tathagata ist unzureichend und führt in eine Sackgasse. Ohne Zazen, praktisches Handeln, soziales Verhalten und Verwirklichung des Bodhisattva-Ideals kann es also keinen Zugang zum Buddhismus geben. Die Welt, so wie sie ist, ist auch wesentlich Form, und der Geist ist „Buddha hier und jetzt“, also hier an diesem Ort und jetzt in diesem Augenblick. Ideen und Vorstellungen sind dabei durchaus bedeutend und können als Teil der umfassenden Wahrheit verstanden werden. Sie sind allein jedoch nicht in der Lage, zum Kern des Buddhismus vorzudringen.

Wie Dôgen an anderer Stelle ausführt, kann man zwar das Bild eines Reiskuchens nicht essen und es stillt auch nicht den Hunger, aber Bilder und Ideen haben auch eine hohe Bedeutung und einen großen Wert auf dem Weg des Buddha-Dharma. Auf der höchsten buddhistischen Stufe oder der vierten Lebensphilosophie verschmelzen demnach Formen und Nicht-Formen und so heißt es auch im Herz-Sûtra: "Form ist Leere und Leere ist Form". Dies geht über eine reine Verstandestätigkeit hinaus und daher sagte der große Meister Daikan Enô auf die Frage eines Mönchs wie er selbst den Buddhismus verstehen würde:

"Ich verstehe den Buddha-Dharma nicht."

Er will damit sagen, dass schon die Frage, ob man den Buddha-Dharma mit dem Verstand verstehen kann, am Wesentlichen vorbei geht und den Kern gar nicht treffen kann. Zunächst ist eine Entscheidung mit dem Bodhi-Geist notwendig, den Weg des Buddha-Dharma zu gehen und sich dann das Weitere durch Praxis, Studium und das Lernen mit einem wahren Meister ereignet. Vor allem ereignet sich in der Zazen-Praxis die erste Erleuchtung. Ohne einem wahren Lehrer zu folgen, sagt Dôgen, kann man dem Buddha kaum begegnen.
Dôgen zitiert dann Shakyamuni Buddha:

"Tief in das Gleichgewicht des Samadhi eingehend begegnen wir den Buddhas der zehn Richtungen".

Mit Samadhi ist aus ostasiatischer Sicht die Zazen-Praxis gemeint, die von Shakyamuni Buddha als wesentliche Grundlage des Buddhismus eingeführt wurde und die ursprünglich aus dem Yoga und der vor-indoeuropäischen Quellen in Indien zur Zeit Buddhas lebendiger Brauch war.
Im Folgenden beschäftigt sich Dôgen hauptsächlich mit dem Lotus-Sûtra, in dem es heißt, dass man dem Buddha unmittelbar begegnet, wenn man dieses Sûtra bewahrt, es liest und rezitiert, sich richtig daran erinnert und es praktiziert. Das Lotus-Sûtra ist das Tor für die umfassende Lehre und Praxis des Buddha-Dharma, aber es darf bei der Lehre und Theorie nicht stehen bleiben, sondern muss in das Handeln des Hier und Jetzt eingehen. Eingebettet in den Gesamtzusammenhang kann es manchmal auf dem Buddhaweg sinnvoll sein, aktiv zu handeln und manchmal etwas geschehen zu lassen, sich also dem Ablauf der Dinge harmonisch anzupassen und die Zusammenhänge so zu nehmen, wie sie sind. Dabei darf die Moral und Ethik jedoch nicht vernachlässigt werden, denn diese ist ein selbstverständlicher Teil des buddhistischen Ganzen.
Dôgen zitiert weiter Shakyamuni Buddha, der davon spricht, dass man "diese Lehre verstehen und ihr tief im Herzen vertrauen" muss. Dann werde man Buddha begegnen. Er sagt dazu wörtlich:

"Wer könnte Buddhas Worten der wirklichen Wahrheit nicht vertrauen und sie nicht verstehen? Es ist eine glückliche Fügung, diesem Sûtra zu begegnen, dem ihr vertrauen und das ihr verstehen solltet. Ihr habt euch danach gesehnt, in dieser Welt der Menschen geboren zu werden und tief im Herzen auf diese Blume des Dharma und auf die unendliche Lebensdauer (des Tathagata) zu vertrauen und sie zu verstehen".

Damit spricht Dôgen Bereiche des Buddhismus an, die ich als "real-mystisch" bezeichnen möchte, das heißt also, ein Einheitsgefühl und ein Einheitsschauen, das den europäischen Mystikern ähnlich ist und zwar in der eigentlichen positiven Bedeutung des Wortes „Mystik“. Dort ist die Trennung von Mensch und Gott aufgehoben, sodass sich der eigentliche Bereich des Religiösen aus meiner Sicht eröffnen kann. Dôgen sagt hierzu:

"Dieses Vertrauen und Verstehen ist die Begegnung mit Buddha".

Er zitiert noch einmal Shakyamuni Buddha:

"Alle Wesen, die die Tugend üben, die sanft, bescheiden und aufrichtig sind, werden meinen Körper sehen, so wie ich hier bin und den Dharma lehre".

Damit wird ein ganz wichtiger Teil des Buddhismus angesprochen, nämlich eine einfache, bescheidene und aufrichtige Lebensweise und Geisteshaltung. Rechthaberei, Dogmatismus, spitzfindige Argumente passen nicht zum Buddhismus. Bescheidenheit heißt allerdings keinesfalls, dass man sich immer unterordnet und nicht eingreift, wenn Unrecht und Überheblichkeit vorherrschen. Vieles kann auch ohne Worte allein durch Handeln und Verhalten zum Ausdruck gebracht werden und damit scheinbare Gegensätze abmildern und Kampfbereitschaft aushebeln. Buddhismus besteht also gerade nicht aus Angriff und Verteidigung, die wohl in den Urzeiten der Menschheit zum Überleben in einer gefährlichen Umwelt notwendig waren. Dôgen zitiert dann seinen eigenen Meister Tendo Nyojo mit dem berühmten Satz:

"Der Frühling ist in den Pflaumenzweigen, bedeckt von der Kälte des Schnees".

Er meint damit, dass ein blühender Pflaumenzweig im Frühjahr einem anderen blühenden Pflaumenzweig begegnet und dass diese Begegnung dasselbe ist wie die Begegnung mit Gautama Buddha, denn die Pflaumenblüten sind rein und klar. Dôgen schließt dieses Kapitel mit dem Satz:

"Es ist höchst erhaben und großartig, Buddha in diesem Leben wirklich zu begegnen".