Montag, 24. März 2008

Die Buddha-Augen

In diesem Kapitel Ganzei (Kap. 63) beschreibt Meister Dôgen in eindrucksvoller Klarheit das buddhistische Verständnis der Augen. Der Begriff Ganzei kommt im Shôbôgenzô recht häufig vor und hat einerseits die Bedeutung unserer körperlichen Augen, mit denen wir sehen und die für unser menschliches Leben selbstverständlich von größter Bedeutung sind.
Wir wissen heute, dass etwa die Hälfte unseres Gehirns mit den Augen zusammenarbeitet, dass also das Gesamtsystem Auge-Gehirn die Hälfte unserer Leistungen und Fähigkeiten des physischen Gehirns ausmacht. Sehr viele Funktionen dieses Gesamtsystems sind uns nicht bewusst und gehen automatisch vor sich. Das Gehirn leistet besonders viel, wenn wir uns selbst bewegen oder wenn sich gesehene Objekte verändern. Dann wird eine Reduzierung auf einen "statischen Zustand der Dinge" durchgeführt, während wir uns selbst und die äußeren Dinge fortlaufend verändern. Das Gehirn „berechnet“ aus der Wahrnehmung ein stehendes Bild, das wir scheinbar sehen, das aber in Wirklichkeit in unserer Vorstellung entsteht.
Viele Vorgänge bei der Wahrnehmung sind uns gar nicht bewusst, die wir im Laufe des Lebens gelernt haben. Dabei sind auch psychische Prozesse aktiv, z. B. wird aus der komplexen Vielfalt nach Wichtig und Unwichtig ausgewählt, es wird weiterhin nach Angenehm, Neutral oder Unangenehm bewertet, und es wird durch Vorurteile verzerrt und nach Interessen "verbogen". Selbstverständlich spielt die Gier nach Vorteil, Genuss, Macht und Profit beim gewöhnlichen nicht erwachten Sehen eine große Rolle.
Dôgen erläutert in diesem Kapitel andererseits, wie wir mit unseren Augen wirklichkeitsnäher und unverzerrt sehen können, wie also erwachte Augen sehen. Dies geht über die physischen Dimensionen hinaus. Gerade durch die Augen wird uns häufig das dualistische Sehen und Verstehen der Welt nahegelegt, so als ob die Dinge außerhalb und von uns getrennt vorhanden sind.
Der Buddhismus lehrt aber, dass eine solche dualistische Sichtweise zwar für manche Lebensbereiche und Situationen brauchbar ist, dass aber tiefer gehende psychische und spirituelle Bereiche damit nicht erreicht werden können. Die dualistische Wahrnehmung sowie die automatisch mitlaufenden Bewertungen und Gedanken können die Wirklichkeit niemals vollständig erfassen, sondern sind nur Ausschnitte und Teilwahrheiten. Wie Gautama Buddha lehrt, ist dies die Ursache für vieles Leiden in unserem Leben. Durch seine Lehre und Praxis können wir erwachen, also die erste und zweite Erleuchtung erlangen. Nach dem Buddha-Dharma entspricht die Trennung von Subjekt und Objekt nicht der Wirklichkeit sondern sie ist künstlich, angelernt und entspricht nicht unserem natürlichen Zustand und unserem wirklichen Handeln.
Wenn wir auf dem Weg des Buddha-Dharma erwachen, bedeutet dies nach Dogen, dass wir die „alten“ begrenzten Augen verlieren und die neuen erwachten bekommen. Dazu müssen wir emotionsgesteuerte Sichtweisen und Vorurteile und lieb gewordene "Denknester" auflösen und damit zu einer neuen Freiheit des Sehens, Handelns und Denkens kommen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass ein solches Erwachen nicht allein durch das Denken möglich ist, da gerade der Defekt der Trennung von Subjekt und Objekt im Denken und in der Wahrnehmung verankert ist. Wir können unsere Denknester nicht durch Denken auflösen, weil unsere Gedanken gerade durch die Denknester festgelegt und eingeengt sind.
Dôgen sagt in diesem kurzen, aber außerordentlich wichtigen Kapitel, dass wir einerseits die konkreten Dinge unserer Umwelt genau betrachten sollen, dass unser Sehen aber darüber hinaus gehen muss, wenn wir die buddhistische, umfassende Wirklichkeit erkennen wollen.
Dôgen zitiert seinen Meister Tendô Nyojô:
"Der Herbstwind ist rein und frisch und der Herbstmond klar und hell;
die Erde, die Berge und Flüsse leuchten klar im Auge;
Tendô sieht sie und sie begegnen sich neu und frisch;
sie laufen mit Stöcken rufend umher und prüfen mich, den Flickenmönch."

Dôgen erklärt dazu:
"Den Flickenmönch zu prüfen bedeutet festzustellen, ob Tendô Nyojô ein ewiger Buddha ist. Das Wesentliche ist hier, dass (die Erde, die Berge und die Flüsse) mit Stöcken und Katsu-Schreien umher rennen und dies nennt man, sie in jeden Augenblick neu und frisch zu sehen. Dies ist das kraftvolle Wirken des Buddha-Auges.“

In der ersten Zeile geht es um die Wahrnehmung des Herbstwindes und des Mondes im Herbst. Diese Jahreszeit ist in China und Japan besonders hoch geschätzt, weil die Hitze und Schwüle des Sommers dann vorbei sind, die Nächte wieder kühl und klar werden und die Chrysanthemen blühen. Das Laub färbt sich dann mit vielfältigen wunderbaren Farben. Das Gedicht von Tendô Nyojô geht also über eine durch äußerliche Form gebundene Beschreibung hinaus und vermittelt große poetische Kraft.

Dôgen spricht dann von der Begegnung der klaren Erde, Berge und Flüsse mit dem Meister. Dabei wird deutlich, dass eine Trennung in ein Subjekt, das sieht und die Natur, die gesehen wird, unsinnig oder zumindest eindimensional ist. In der letzten Zeile wird auf das Erwachen des Meisters hingewiesen, die von der Natur geprüft und getestet wird. Damit wird gesagt, dass die Natur in besonderer Weise unseren psychischen und geistigen Zustand an uns selbst zurückmelden kann und, wie es in einem anderen Kapitel heißt, den Buddha-Dharma lehrt. Wer nach Dôgen in Wechselwirkung mit der Natur das große Erwachen erfährt, z. B. durch blühende Pfirsichbäume im Frühling oder den Wind und den Mond im Herbst, ist besonders sicher im Gleichgewicht verankert und „fällt nicht zurück“.
Die Klarheit und Frische des Herbstwindes erfahren und erleben wir im Augenblick, wenn wir offen für die Natur sind und nicht durch Gedanken und Emotionen besetzt sind. Wir alle kennen das tiefe Gefühl der Einheit mit der Natur und die heilende Kraft, die von solchen Augenblicken ausgeht. Dann kann man in der Tat nicht mehr zwischen außen und innen unterscheiden, sondern erfährt den einzigartigen Augenblick der Einheit und des Göttlichen. Dôgen sagt weiter:

"Ein solcher Flickenmönch liebt weder das große Erwachen noch das Nicht-Erwachen, sondern er ist selbst das Buddha-Auge."

Dann sind Begriffe wie Erwachen oder Nicht-Erwachen überflüssig und man benötigt sie überhaupt nicht mehr, denn es geht um das direkte Erfahren und Erleben. Man kann dafür zwar Bezeichnungen erfinden und verwenden und diese sind durchaus nützlich für die Kommunikation und die Lehre des Buddha-Dharma, aber sie sind nicht die Wirklichkeit selbst. Sie sind wie der Finger, der auf den Mond zeigt, und dies ist nicht die Wirklichkeit des Mondes.
Dôgen erläutert dann, dass Bezeichnungen wie Groß und Klein für die Buddha-Augen ungeeignet sind, sodass es z. B. nicht sinnvoll sei zu sagen, dass der Körper groß und die Augen klein sind. Die physische, materielle Dimension des Auges ist für die hier gemeinten Buddha-Augen wenig geeignet.

Dôgen zitiert dann ein Koan-Gespräch zwischen dem jungen Meister Tôzan und dem älteren Meister Ungan, das zunächst schwer verständlich erscheint: Meister Tôzan sagte:

"Ich bitte euch um das Auge, Meister."
Dieser antwortete: "Wem hast du deines gegeben?"
Der junge Tôzan sagte: "Ich habe keines."
Der ältere Meister Ungan sagte dann weiter:

"Du hast (bereits) das (Buddha) Auge, wohin blickst du?"
Der junge Tôzan beantwortete diese Frage nicht. Stattdessen sagte der ältere Ungan:

"Das Auge zu erbitten ist selbst schon das Auge oder trifft dies nicht zu?" Tozan antwortete darauf: "Es ist nicht das Auge."

Wir wollen nun versuchen, dieses schwierige Koan zu entschlüsseln. Zu Beginn bittet der junge Tôzan "um das Auge" Dies bedeutet, dass er die Belehrung für das Erwachen oder zum Buddha-Dharma erbittet. Sein Lehrer, Meister Ungan fragt ihn daraufhin, wem er sein Auge gegeben habe. Dies hört sich so an, als ob das erwachte Auge ein Objekt sein kann, das man jemanden anderen gibt, aber dies ist nicht richtig, denn bei dem Buddha-Auge gibt es keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt.

Deswegen sagt der junge Meister Tôzan auch: "Ich habe keines." Dies kann ähnlich verstanden werden wie die Frage, ob man die Buddha-Natur hat oder nicht. Eine solche Frage kann aber so nicht beantwortet werden, denn die Aussage würde auf der materiellen Ebene der Objekte bleiben und kann die vierte Lebensphilosophie des Erwachens nicht beschreiben. Dôgen sagt hierzu:

"Wenn Tôzan sagt, er habe kein (Auge), so ist das Wesentliche dabei, dass das Nicht-Haben in seinen Worten besagt, dass er das (wahre) Auge hat und damit in irgendeine Richtung blickt."

Er bittet uns dann, dass wir uns intensiv mit diesem Dialog beschäftigen und nicht voreilig denken, wir hätten alles verstanden. Er fragt uns auch was es bedeutet, wenn man mit erwachten Augen in eine Richtung blickt.
In dem obigen Koan-Gespräch antwortet Tôzan dann nicht und will sicher damit andeuten, dass man dabei mit Worten das Wesentliche nicht beschreiben kann. Dôgen sagt hierzu:
"Das heißt nicht, dass er verwirrt gewesen wäre, sondern sein Schweigen zeigt die Qualität seines karmischen Bewusstseins, das unabhängig und selbstständig war."
Obgleich Tôzan noch der Schüler von dem Ungan war, hatte er schon eine große Eigenständigkeit im Buddha-Dharma erlangt und wollte offensichtlich durch Worte nicht vom Wesentlichen ablenken.

Ungan belehrte seinen Schüler jedoch: "Das Auge zu erbitten ist schon selbst das Auge oder trifft dies nicht zu?"
Dôgen sagt hierzu:
"Hier blitzt das Buddha-Auge plötzlich auf, dieses kraftvolle lebendige Auge, das (die gewöhnliche Art zu sehen) zerspringen lässt."

Die letzte Aussage von Meister Tôzan: "Es ist nicht das Auge", wird von Dôgen als das wahre Buddha-Auge bezeichnet, "das sich mit lauter Stimme selbst bekundet".
Wenn wir die gewöhnlichen Augen nicht mehr haben und im Buddha-Dharma vorangeschritten sind, dann begegnen wir nach Dôgen "dem kraftvollen Buddha-Auge, das sich selbst offenbart."
Dôgen sagt am Ende seines Kommentars zu diesem Koangespräch:

"Letztlich erfahrt und erforscht ihr das Höchste, wenn ihr direkt in das Buddha-Auge hineinspringt. Dies bedeutet, dass ihr den Bodhi-Geist erweckt, euch schult und die große Wahrheit erfahrt. Dieses Buddha-Auge war von Anfang weder subjektiv noch objektiv. Da es nirgends auch nur das geringste Hindernis gibt, gibt es auch hierbei überhaupt kein Hindernis."

Damit sagt er, dass Vorurteile und fest gefügte Meinungen genau so wie emotionale Anziehung oder Ablehnung auf dem Weg des Buddha-Dharma und vor allem bei der buddhistischen Praxis aufgelöst und überwunden werden. Erst dann kann man mit seinen Augen die Wirklichkeit sehen, die über äußere Formen und das Materielle hinausgeht.

Denn die Buddha-Wahrheit ist nicht etwas Ausgedachtes, sondern ist wirklich, während das mit den gewöhnlichen Augen Gesehene nur ein Teil der Wirklichkeit ist oder sogar ein Fantasiegebilde oder eine Vorspiegelung ist oder sein kann. Dies gilt z. B. für eine Fata Morgana in der Hitze der Wüste, die uns Wasser und eine Oase vorgaukelt, die es gar nicht gibt. Wenn man einer Fata Morgana entgegengeht und ihr näher kommt, löst sie sich auf, weil uns die Augen getäuscht haben. Dies kann man durchaus mit der heutigen medialen Scheinwelt von Film und Fernsehen vergleichen, die meist keinen Wirklichkeitswert haben und noch nicht einmal dem Finger gleichen, der auf die Wahrheit des Mondes zeigt. Denn oft geht es um die Gier der Akteure nach Ruhm und Profit und dabei verlieren die Zuschauer wertvolle Zeit ihres Lebens. Ihr Bewusstsein wird dann von Scheinwirklichkeiten und Scheinbildern besetzt.

Dôgen spricht von seinem eigenen Meister Tendô Nyojô, der seine Schüler durch "Bodhidharmas Auge" zu (wirklichen) Menschen gemacht habe. Die Abbildungen des indischen Meisters Bodhidharma zeigen ihn meist mit sehr großen Augäpfeln, was sicher wiedergibt, dass seine Augen größer als die der Chinesen waren. Darüber hinaus soll dies sicher bedeuten, dass er die Buddha-Augen besaß, weil er erwacht war. Dôgen sagt, dass "jeder Mensch (beim Zazen) mit den Buddha-Augen sitzt“.

Der von ihm verwendete japanische Ausdruck enthält das Wort taza und bildet damit die Brücke zu der wahren Zazen-Praxis Shikantaza, also "einfach nur sitzen". Dies bedeutet im Rahmen dieses Kapitels, mit Buddha-Augen zu sitzen. Dôgen sagt hierzu:

"Dies ist nichts anderes als das kraftvolle Handeln, das die Menschen in der Zazen-Halle schult."
Dann wird noch einmal sein eigener Meister zitiert:
"Ja, das Meer ist trocken bis zum tiefsten Grund und die Wellen schlagen hoch bis zum Himmel."
Damit ist nach Nishijima Roshi gemeint, dass man sich von unerwarteten oder sogar katastrophalen Situationen der Natur nicht beirren lässt, wenn man die Buddha-Augen hat und Zazen praktiziert. Man wird nicht aus dem Gleichgewicht geworfen, wenn das Meer austrocknet und die Wellen zum Himmel schlagen. Davon sollen wir uns daher nicht beirren lassen. Solche äußeren Sensationen haben nichts mit dem Wesentlichen des Buddha-Dharma und den Buddha-Augen zu tun. Derartige Naturkatastrophen und Sensationen sind leider häufig Inhalt unserer Nachrichten im Fernsehen und Radio. Es werden ein paar beeindruckende Bilder von Überschwemmungen, Stürmen, Vulkanausbrüchen und Schneeverwehungen gezeigt, aber dies sind nach Dôgen überhaupt keine wesentlichen Informationen. Sie beirren uns nur und haben keinen Informationswert.

Dôgen zitiert dann seinen eigenen Meister, den ewigen Buddha, mit folgendem Gedicht:

"Gautama verliert seine (bisherigen) Augen
nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee
jetzt sind alle Orte beschwerlich und voller Dornen
und doch lachen die tanzenden Blüten im Frühlingswind."

Dieses Gedicht wurde von Dôgen auch an anderer Stelle im Shôbôgenzô zitiert. Es wird gesagt, dass Gautama Buddha seine alten gewöhnlichen Augen durch das Erwachen verloren hatte und die Welt und Wirklichkeit mit ganz neuen Augen sah, die über die herkömmliche sinnliche Wahrnehmung hinausgehen. Aber die Welt besteht dann nicht nur aus schönen Blüten, wie hier des Pflaumenbaums, sondern sie hat auch Dornen und Beschwerlichkeiten. Diese werfen uns aber nicht um, wenn wir im Gleichgewicht sind und die Buddha-Augen erlangt haben.
Es folgen dann noch weitere Gedichte von Tendô Nyojô:

"Die Sonne im Süden entfernt sich langsam
das Licht der Klarheit strahlt in den Augen
der Atem strömt durch die Nasenlöcher."

Mit dem Atem und den Nasenlöchern ist das pulsierende wahre Leben gemeint.
Die beiden letzten Zeilen des folgenden Gedichtes lauten:

"Ich habe alles gegeben und lache aus vollem Herzen
und überlasse alles dem Belieben des Frühlingswindes."

Dôgen sagt abschließend, dass sich die Kraft und Lebendigkeit des Buddha-Auges je im konkreten Augenblick verwirklicht, dass dies auch die Augen des wirklichen Fliegenwedels der Meister sind. Sie "springen heraus" in den Augenblick und wir geben alles und dies ist der erste Tag. Dôgen sagt damit nichts anderes, als dass wir jeden Augenblick frisch und neu erfahren und erleben können und dass dies die Kraft der Buddha-Augen ist.