Donnerstag, 4. Juni 2015

Die spirituelle Einheit der großen Meister im Augenblick


Dōgen zählt mehrere Beispiele aus der buddhistischen Überlieferung auf, die veranschaulichen, wann und wie der Geist gelehrt und die Natur-Essenz dargelegt wird:

eine Blume in den Händen zu halten,
ein Zeichen mit den Augen zu geben,
ein Gesicht, in dem ein Lächeln erscheint,
Niederwerfungen zu machen und
bei der Dharma-Übertragung auf seinem Platz zu stehen.



Diese Beispiele sprechen die Dharma-Übertragung von Gautama Buddha auf Mahākāshyapa und von Bodhidharma auf Meister Eka an. In diesen besonderen Augenblicken werden keine Worte verwendet, denn die spirituelle Interaktion vollzieht sich durch Handeln in vollständiger Übereinstimmung der Menschen.

Auch in den anderen Beispielen aus der Zen-Geschichte, die Dōgen noch aufführt, haben die Meister vor allem durch Handeln und Gesten den umfassenden Geist gelehrt und die Essenz des Buddhismus dargelegt.

Diese Zustände des Geistes präzisiert Dōgen, indem er die Augenblicke der Wirklichkeit anspricht sowie die Einheit von Geist und konkreten Dingen und Phänomenen betont:

„(Es sind Augenblicke,) wenn die Wahrheit verwirklicht wird, dass das Entstehen des Geistes (gleichzeitig) das Entstehen der vielfältigen wirklichen Dharmas (Dinge und Phänomene) ist. Außerdem wird die Wahrheit verwirklicht, dass das Vergehen des Geistes das Vergehen der vielfältigen wirklichen Dharmas ist. In diesen Augenblicken wird der Geist gelehrt, und in diesen Augenblicken wird die Natur dargelegt.“

Damit unterstreicht er die Einheit von Geist und konkreten Dingen und Phänomenen, die sich genau in den Augenblicken verwirklichen, die kommen und gehen, entstehen und vergehen. Demgegenüber behaupten diejenigen Menschen, die den Buddha-Dharma nicht kennen, dass der Geist unabhängig von den konkreten Dingen und Phänomenen wie den Zäunen, Hecken, Ziegeln und Kieselsteinen und überhaupt der Natur sei. Sie lehren nicht den Geist und legen nicht die Essenz dar, sondern sie reden nur über den Geist.

Sie sind fest davon überzeugt, dass kluges, intellektuelles Reden das Wesentliche sei und dass sich dabei der Geist und die Natur manifestieren würden. Dōgen distanziert sich von dieser Sichtweise, weil Lehre und praktisches Handeln beim Geist und bei der Natur im Augenblick immer identisch sind und es keinen von dieser umfassenden Wirklichkeit losgelösten, denkenden oder redenden Geist gibt. Dem Irrtum eines unabhängigen Geistes unterliegen diese Menschen laut Dōgen hauptsächlich deshalb,

weil sie nicht kritisch darüber nachdenken, ob sie die große Wahrheit durchdrungen haben oder nicht.“

Dann berichtet er von einem gewissen Meister Sōkō, der gleichzeitig mit dem großen Meister Wanshi im 12. Jahrhundert lebte. Er kritisiert Sōkōs oberflächliches und nicht authentisches Verständnis des Geistes und der Wirklichkeit, das er leider auch als Buddha-Lehre im damaligen China verbreitet habe.

Sōkōs Aussagen wirken zunächst recht glaubhaft und stimmen scheinbar mit der wahren buddhistischen Lehre und Praxis überein. Bei genauerer Untersuchung stellen wir jedoch fest, dass es sich um theoretische und intellektuelle Aussagen, um nicht zu sagen Behauptungen, handelt, die keine Einheit von Lehre, Praxis und Zazen beinhalten.

In einem anderen Kapitel[i] schildert Dōgen die Geschichte von Sōkō detaillierter und stellt fest, dass dieser den wahren Dharma nicht erlangt und keinen Zugang zu einem wahren Meister gefunden hat. Sōkō war auch einer der Initiatoren und Gründer einer bestimmten Richtung des Kōan-Zen, die Dōgen nicht immer schätzte. Der dabei versprochene schnelle Weg zur Erleuchtung erweist sich meist als Sackgasse. Ich folge Dōgen, wenn er betont, dass seine und Wanshis Praxis des Zazen in der Einheit mit der authentischen Lehre weniger Gefahren birgt, vom wahren buddhistischen Weg abzuirren.






[i] Kap. 75, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S. 134 ff.: „Der Samâdhi als Erfahrung des Selbst (Jishō-zanmai)