Montag, 8. Juni 2015

Die Täuschung von sich selbst


Dōgen zitiert folgende Aussage Sōkōs:

„Weil die Menschen es heute schätzen, über den Geist zu lehren und über die Natur Aussagen zu machen, und sie es zudem lieben, über das Tiefgründige und Feine zu diskutieren, erlangen sie die Wahrheit (nur) langsam. Wenn wir einfach die Dualität von Geist und Natur weggeworfen und sowohl das Tiefgründige als auch das Feine vergessen haben, dann erfahren wir wirklich den Zustand (der Wahrheit), sodass keine dualistischen Formen entstehen.“

Wenn man Sōkōs Ausführungen nicht genau liest, wirken sie durchaus eingängig. Aber stimmen sie mit dem Buddha-Dharma wirklich überein? Bevor ich Dōgens Interpretation untersuche, möchte ich einige eigene Anmerkungen vorwegschicken. In seinem zweiten Satz sagt Sōkō, dass wir die Dualität von Geist und Natur „einfach wegwerfen“ sollen.

Dies ist sicher leichter gesagt als getan. Gleiches gilt für seine Aufforderung, dass wir das Tiefgründige und Feine „einfach vergessen“ sollen. Wegwerfen und Vergessen sind mentale Willensentscheidungen und keine ganzheitlichen Erfahrungen, die der kritischen Reflexion über deren Realität standhalten.

Nach Nishijima Roshi bewegen sich die Aussagen Sōkōs in der Dimension der Ideen und des Idealismus, sie sind weder konkret noch in die buddhistische Praxis eingebunden. Allein mit der Lebensphilosophie des Idealismus ist es aber unmöglich, den Zustand der Wirklichkeit und Erleuchtung zu erlangen.

Aufschlussreich ist es auch, eine Verbindung zum Kapitel über die Verwirklichung des Lebens und des Universums herzustellen. Dort sagt Dōgen, dass es auf dem Buddha-Weg notwendig ist, sich selbst zu vergessen.[i] Das ist aber etwas ganz anderes, als bestimmte Objekte des Bewusstseins wie Dualität, Tiefgründiges und Feines zu vergessen.

Das Vergessen von uns selbst ist ein ganzheitlicher Ablösungsprozess von den bisherigen vorgefassten Meinungen, Selbsttäuschungen, Illusionen und Verdrängungen. Nach Dōgen ergibt sich dabei auf natürliche Weise und gewissermaßen als automatische Folge, dass der Dualismus bei der Verwirklichung der höchsten Lebensphilosophie überwunden wird, da er nur im Idealismus und Materialismus vorkommt.

Sōkō spricht aber vom Dualismus wie von einem Objekt des Bewusstseins. Er behauptet, dass wir den Dualismus einfach vergessen sollen und können, und damit sei das Problem des Dualismus gelöst. Durch diesen einfachen Entschluss zu vergessen, würden wir direkt in der Wirklichkeit und Wahrheit ankommen.

Das ist jedoch ein fataler Irrtum! Sōkōs „Patentrezept“ beruht auf schweren spirituellen, existentiellen und sogar psychologischen Fehlern. Etwas bewusst vergessen zu wollen, heißt ja im Kern, etwas bewusst zu verdrängen. Aber eine solche Verdrängung gelingt entweder überhaupt nicht oder hat die bekannten psychischen Probleme zur Folge.

Im ersten Teil des Zitates meint Sōkō etwas abfällig, dass es leider modisch sei, über den Geist und die Essenz des Buddhismus zu reden. Dies sei überhaupt nicht notwendig und sinnvoll, weil wir ja einfach den Dualismus wegwerfen sollen. Er vertritt sogar die Ansicht, dass es für den buddhistischen Weg und das Erreichen der Wahrheit schädlich sei, wenn wir über den Geist reden und das Wesentliche des Buddhismus erläutern und in Gesprächen vertiefen. Auch daran wird deutlich, dass Sōkō im krassen Gegensatz zu Dōgens Ausführungen steht.

Nach meinem Verständnis hat Sōkō den Geist und die Essenz des Buddha-Dharma falsch gelehrt und irreführend dargelegt. Das Ergebnis kann nur die Täuschung von sich selbst und anderen sein.




[i] Kap. 3, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 43 ff.: „Das verwirklichte Leben und Universum (Genjō-kōan)