Dōgen zitiert folgende
Aussage Sōkōs:
„Weil die Menschen es heute schätzen,
über den Geist zu lehren und über die Natur Aussagen zu machen, und sie es
zudem lieben, über das Tiefgründige und Feine zu diskutieren, erlangen sie die
Wahrheit (nur) langsam. Wenn wir einfach die Dualität von Geist und Natur
weggeworfen und sowohl das Tiefgründige als auch das Feine vergessen haben,
dann erfahren wir wirklich den Zustand (der Wahrheit), sodass keine
dualistischen Formen entstehen.“
Wenn man Sōkōs Ausführungen
nicht genau liest, wirken sie durchaus eingängig. Aber stimmen sie mit dem Buddha-Dharma wirklich überein? Bevor
ich Dōgens Interpretation untersuche, möchte ich einige eigene Anmerkungen
vorwegschicken. In seinem zweiten Satz sagt Sōkō, dass wir die Dualität von
Geist und Natur „einfach wegwerfen“
sollen.
Dies ist sicher leichter
gesagt als getan. Gleiches gilt für seine Aufforderung, dass wir das
Tiefgründige und Feine „einfach vergessen“
sollen. Wegwerfen und Vergessen sind mentale Willensentscheidungen und keine
ganzheitlichen Erfahrungen, die der kritischen Reflexion über deren Realität
standhalten.
Nach Nishijima Roshi bewegen sich die Aussagen Sōkōs in der Dimension
der Ideen und des Idealismus, sie
sind weder konkret noch in die buddhistische Praxis eingebunden. Allein mit der
Lebensphilosophie des Idealismus ist es aber unmöglich, den Zustand der
Wirklichkeit und Erleuchtung zu erlangen.
Aufschlussreich ist es auch,
eine Verbindung zum Kapitel über die Verwirklichung des Lebens und des
Universums herzustellen. Dort sagt Dōgen, dass es auf dem Buddha-Weg notwendig
ist, sich selbst zu vergessen.[i] Das
ist aber etwas ganz anderes, als bestimmte Objekte
des Bewusstseins wie Dualität, Tiefgründiges und Feines zu vergessen.
Das Vergessen von uns selbst
ist ein ganzheitlicher Ablösungsprozess von den bisherigen vorgefassten Meinungen, Selbsttäuschungen, Illusionen und Verdrängungen.
Nach Dōgen ergibt sich dabei auf natürliche Weise und gewissermaßen als
automatische Folge, dass der Dualismus bei der Verwirklichung der höchsten
Lebensphilosophie überwunden wird, da er nur im Idealismus und Materialismus
vorkommt.
Sōkō spricht aber vom
Dualismus wie von einem Objekt des
Bewusstseins. Er behauptet, dass wir den Dualismus einfach vergessen sollen
und können, und damit sei das Problem des Dualismus gelöst. Durch diesen einfachen Entschluss zu vergessen,
würden wir direkt in der Wirklichkeit und Wahrheit ankommen.
Das ist jedoch ein fataler
Irrtum! Sōkōs „Patentrezept“ beruht auf schweren spirituellen, existentiellen
und sogar psychologischen Fehlern.
Etwas bewusst vergessen zu wollen, heißt ja im Kern, etwas bewusst zu
verdrängen. Aber eine solche Verdrängung gelingt entweder überhaupt nicht oder
hat die bekannten psychischen Probleme zur Folge.
Im ersten Teil des Zitates
meint Sōkō etwas abfällig, dass es leider modisch sei, über den Geist und die
Essenz des Buddhismus zu reden. Dies sei überhaupt nicht notwendig und
sinnvoll, weil wir ja einfach den Dualismus wegwerfen sollen. Er vertritt sogar
die Ansicht, dass es für den buddhistischen Weg und das Erreichen der Wahrheit
schädlich sei, wenn wir über den Geist reden und das Wesentliche des Buddhismus
erläutern und in Gesprächen vertiefen. Auch daran wird deutlich, dass Sōkō im
krassen Gegensatz zu Dōgens Ausführungen steht.
Nach meinem Verständnis hat
Sōkō den Geist und die Essenz des Buddha-Dharma falsch gelehrt und irreführend
dargelegt. Das Ergebnis kann nur die Täuschung von sich selbst und anderen
sein.
[i] Kap. 3, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 43 ff.: „Das
verwirklichte Leben und Universum
(Genjō-kōan)“