Gegenwärtig
trainiere ich häufiger Bogenschießen: Ein großartiges Beispiel für die buddhistische
Praxis, das Wunder des Augenblicks, das eigene Gleichgewicht, sowie Veränderung
und Dynamik. Also Einüben in der Kunst des Zen als Weg des Bogens, des traditionell
mit höchstem Können verleimte Bambus aus Japan. Es gibt dabei vier wichtige Zustände:
Man
hat sich aufgestellt, hält den Bogen in einer Hand, hat den Pfeil in die Sehne
eingenockt, schaut auf das Ziel und hält Bogen, Sehne und Pfeil in einer
leichter Vorspannung.
Der
Bogen ist angehoben, gespannt, in Spannung und Dehnung des Rückens und der Armen.
Dies wird auch als Ankern bezeichnet
Das
Wunder des Augenblicks, Gleichgewicht in höchster Spannung: Der Pfeil löst sich
und schlägt in die Zielscheibe ein.
Man
steht entspannt, bleibt ruhig und „hält nach“.
Das
ist sicher eine Beschreibung wichtiger Zustände. Aber was fehlt? Haben wir mit
diesen Zuständen den Prozess, den
Flow, die Veränderung und Dynamik und das wahre eigene Erleben wirklich voll
erfasst und beschrieben? Sicher nicht. Denn zwischen den Zuständen ereignen
sich ja gerade Veränderungen und
Wandlungen von Körper, Geist und Psyche. Diese darf man nicht verbergen und
weggelassen. Die Magie des Augenblicks ist damit unlösbar verbunden!
Menschen
sind keine Zustände von Gegenständen und Sachen. Von entscheidender Bedeutung
sind gerade der Bewegungsablauf und
fortlaufender Prozess. Sie bauen die für den Schuss notwendige Spannung auf,
bei gleichzeitiger ruhiger Konzentration und Achtsamkeit. Es geht weiter zum
entscheidenden Augenblick, zum Ereignis, auf den alles ankommt, der Schuss, die Magie des Augenblicks. Dann
kommt das Loslassen des Pfeils, das Release: Wow, das ist es !
Die
Bewegung zum Lösen des Pfeils muss im Augenblick der höchsten Spannung, ruhig
und zügig erfolgen. Jede Verkrampfung sei es aus Angst, das Ziel zu verfehlen,
oder sei es aus Überheblichkeit einer falschen Sicherheit und damit ohne klare
Achtsamkeit, sind falsch und führen in der Wirkung gerade zu schlechten
Schüssen.
Das
Ziel kann mit einem verkrampften Geist gerade nicht "wie von selbst" getroffen werden: Wir treffen das Ziel in der Harmonie von
Körper, Psyche und Geist, diese Harmonie ereignet sich im Augenblick im Augenblick. Danach fliegt der Pfeil auf seiner Bahn zum Ziel. Fliege ich dann mit dem Pfeil zum Ziel? Was ist das Ich im harmonischen klaren Augenblick? Man beobachtet diesen Flug, der umso besser zum Ziel
führt, wenn bei ihm in klarer Aufmerksamkeit kein falscher Ehrgeiz zu
Verkrampfungen führt. Dann würde das kleine
Ich mächtig stören und sich bei jedem "Fehlschuss" ärgern! Dann ist die Magie weg. Aber ganz im Gegenteil, gelungene Schüsse
geben Freude, Lockerheit und geradezu eine spirituelle Klarheit des Hier und Jetzt. Genau darin
liegt auch die Bedeutung des intuitiven und spirituellen Bogenschießens. Gute
Augenblicke und Schüsse setzen sich durch den Tag als freudiges länger
anhaltendes Ereignis weiter fort.
Den
gesamten Ablauf des Bogenschießens können wir wie bei Buddha, Nagarjuna und
Dogen als Prozess verstehen, der die drei Phasen hat: Entstehen, Andauern und
Vergehen. Dabei hat Entstehen einen bestimmten Vorlauf und zur Ruhe-Kommen einen Nachlauf. Und alles hängt als lebender Prozess zusammen. Aber das
Beste: Gelungene Schüsse, die Magie des Augenblicks, erzeugen eine fast
unbegreifliche Freude, die noch länger anhält, manchmal einen halben oder
ganzen Tag. Und sie lösen miese Stimmungen, Frustrationen und Enttäuschungen
durch Dritte auf.
Es
wird klar, dass der fortlaufende Prozess sich jeweils aus sich selbst entwickelt,
sich mit der Übung immer mehr verfeinert und immer weniger willentlich gesteuert werden muss. Das trainiert die
über den Verstand hinausgehende Intuition.
Bis
es wie bei Herrigel heißt: „Es hat geschossen“. Das Entscheidende ist der Augenblick
und der dynamische Ablauf, also der Prozess von Mensch, Bogen, Sehne, Pfeil,
Ziel usw.. Nach dem Ablauf dieser Dreiheit Entstehen, Dasein und Vergehen, die
beim japanischen Bogenschießen zwischen 6 und 20 Sekunden dauert, kann ein
neuer Prozess für einen zweiten Schuss ablaufen.
Diesen Ablauf können wir als Dharma der Dynamik auffassen, da er die drei Phasen
Entstehen, Andauern und Vergehen umfasst. Der große indische Meister Nagarjuna beschreibt dieses Phänomen
im siebten Kapitel des Mittleren Weges, MMK, das leider häufig missverstanden wird. Beim
Bogenschießen wird klar: Entstehen, Dasein, Augenblick und Vergehen können
nicht getrennt werden, sie wirken aufeinander. Oder ganzheitlich: Gemeinsames vernetztes
Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada).
Ich
finde es erstaunlich, dass Buddha, Nagarjuna und Dogen jeder auf seine Weise
diese grundlegenden Regeln des Lebens und seiner Entwicklungen so klar erkannt
und präzise analysiert haben.
Philosophische Anmerkung zum griechischen Denken: Heidegger hat sich wohl in seinen späten Jahren mit Zen und Tao beschäftigt und nach Reinhard May in seine Philosophie integriert: "Heideggers verborgenen Quellen". Für Heidegger ergibt sich m. E. das Ereignis als Zeit und Sein, also die Ganzheit von Sein-Ereignis-Zeit. Das Sein ist bei ihm nach meiner Einschätzung nicht wie meist in der klassischen westlichen Philosophie von der Zeit unabhängig, also ewig und unveränderlich. Im Gegenteil: Es gibt dann Sein in der Gegenwart und damit im Augenblick der Zeit. Die traditionelle Metaphysik des Seins, aus dem Seienden entwickelt, könne man nach Heidegger auf sich beruhen lassen, (Vortrag "Zeit und Sein" 1962). Und weiter zu seinem zentralen Begriff des Ereignisses: "Mit dem Ereignis wird überhaupt nicht mehr griechisch gedacht (May, S. 63).
Heidegger sagt m. E. nichts anderes, als dass er die bisherige Philosophie auf der Basis des griechischen Denkens mit der Bedeutung des Ereignisses weitgehend verlassen habe. Er fügt hinzu, nach May allerdings verschlüsselt formuliert, dass er im Kontakt mit der ostasiatischer Philosophie des Tao und Zen neu ansetzt und diese in seine Philosophie integriert, vermutlich weil er sie für ergiebig und zukunftsweisend hält. Das finde ich wirklich spannend: Und zwar auch und gerade für die zentrale philosophische Frage nach dem Sein.
Er nennt seinen eigenen Denkweg die "tiefverborgenen Verwandschaft" (mit Tao und Zen).
Buddha und Nagarjuna könnten dem m. E. weitgehend zustimmen und Dogen würde zudem das Handeln im Augenblick betonen. Die westliche Philosophie könnte nach Derridá auch so aus ihrer Euro-Zentrierung herauskommen. Eine solche Wechselwirkung ist auch das Ziel meiner eigenen Arbeit: Die östliche Philosophie hält große Schätze für die eigene Befreiung und Emanzipation bereit, praktisch und theoretisch.