Trinkwasser mit Schöpflöffel im Kloster
In diesem Kapitel (Kannon) erläutert Meister Dôgen in schlichter Klarheit die natürliche Selbstverständlichkeit der Buddha-Lehre, dass man mit anderen Leidenden mitfühlt, ihnen selbstverständlich und ohne große Umstände hilft und durch gemeinsames Handeln in gemeinsamer Wechselwirkung neue Impulse in Gang bringt. Das Bodhisattva-Ideal ist ein Kernbereich des Mahâyâna-Buddhismus, der die tätige Hilfe für andere in den Mittelpunkt stellt und das egoistische Streben nach dem eigenen Vorteil und sogar der eigenen „genießerischen“ Erleuchtung verwirft.
Diese Lehre des Bodhisattva
des großen Mitgefühls, der in Sanskrit auch Avalokiteshvara heißt, wird anhand eines bekannten Gesprächs zweier
großer Meister erläutert.
Der alte Meister Ungan
fragte: „Was tut der Bodhisattva des
großen Mitgefühls, wenn er seine unzählbaren vielen Hände und Augen gebraucht?“
Der jüngere Meister Dôgo antwortete darauf: „Er
ist wie ein Mensch, der nachts die Hand nach hinten ausstreckt und nach seinem
Kissen greift.“
Meister Ungan
bestätigte dies: „Ich verstehe, ich
verstehe“, und er fügte hinzu: „Seine
Hände und Augen sind sein ganzheitlicher und universeller Körper.“
Er schlägt dann seine eigene Formulierung vor: „Seine Hände und Augen durchdringen seinen
ganzen Körper.“. Sie sind also in harmonischer Wechselwirkung mit allen
Bereichen der Menschen.
Dôgen rühmt dieses Gespräch sehr und zieht es vielen
anderen tradierten Aussagen und Zitaten zum Bodhisattva-Handeln vor. Nach
seinem Verständnis trifft es mit großer Klarheit und Genauigkeit den
wesentlichen Kern dessen, was mit dem Bodhisattva-Handeln
des großen Mitgefühls im Buddhismus gemeint ist. Meister Ungan spricht von unzählbar vielen Händen des Handelns und unzählbaren
Augen des Sehens und nicht von einer begrenzten Anzahl wie etwa zwölf oder auch
1000. Mit Zahlen lässt sich nach Dôgen
das Zentrale des Bodhisattva-Handelns ohnehin nicht beschreiben. Das wäre eher
gefährlich und dinghaft. Der Bodhisattva
besitzt nicht nur unzählbare Hände und Augen, die er gebraucht, sondern er
hilft in intellektuell nicht erfassbarer Vielfalt je nach der konkreten Situation.
Diese kreative Wandlungsfähigkeit beim Helfen richtet
sich nach den Besonderheiten dessen, dem geholfen wird, sodass ein Bodhisattva sich wirkungsvoll an die
jeweiligen Menschen und Notwendigkeiten anpasst. Er handelt dabei unauffällig,
fast so, dass die Hilfe dem Betreffenden gar nicht bewusst wird.
Meister
Dôgo macht im obigen Gespräch eine
erstaunliche Aussage: Der Bodhisattva
des großen Mitgefühls handelt wie ein Mensch, „der nachts die Hand nach hinten ausstreckt und nach seinem Kissen
greift“. Was soll diese ganz ungewöhnliche Formulierung bedeuten? Ist für
gutes Handeln und Karma nicht das voll bewusste Handeln maßgeblich?
Nach
meinem Verständnis will uns Meister Dôgen
die Selbstverständlichkeit des
Handelns aus Mitgefühl deutlich machen: Es ist nicht von einer bewussten,
vielleicht sogar „edlen Absicht“ oder Selbstüberwindung die Rede, sondern von
einer natürlichen Bewegung der Hand, die fast wie im Halbschlaf nach hinten
greift, um das Kopfkissen zu erfassen und zurechtzurücken. Dies ist eine treffende
Formulierung für die Selbstverständlichkeit, mit der die Hilfsbedürftigkeit unmittelbar
erkannt und ohne Verzögerung, ohne berechnende Überlegung und ohne
selbstsüchtige Absicht in die Tat umgesetzt wird.
Diese
Szene zeigt auch, dass es gar keine Zuschauer gibt, die vielleicht von der
Hilfeleistung beeindruckt sind oder Beifall klatschen. Es wird selbstverständlich
geholfen, ganz im Einklang mit dem Gesetz des Lebens und der Harmonie des
Universums. Zu helfen ist natürlich und es gibt dabei kein Zögern, keine
Hemmnisse und keine absichtsvolle Berechnung: Das Kissen wird geordnet.