Dōgen unterstreicht, dass das ganze Universum hier und jetzt auch die
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst, er meint damit aber nicht die
lineare mechanische Zeit, die wir denken, sondern die Sein-Zeit der Existenz.[i] Dazu
zitiert er Shākyamuni Buddha aus dem
Lotos-Sūtra:[ii]
„Die
dreifache Welt jetzt
alles ist
mein Besitz.
Und die
Lebewesen in ihr
sind alle
meine Kinder.“
Der Hinweis auf die Kinder stellt den Bezug zu dem berühmten Gleichnis
im Lotos-Sūtra her, in dem die
spielenden Kinder von ihrem Vater aus dem brennenden Haus gerettet werden, weil
er sie schließlich überzeugen kann, das Haus zu verlassen und in die schön
geschmückten Kutschen einzusteigen. Diese sind das Symbol für die Befreiung durch die Buddha-Lehre.
Das Gleichnis des Vaters steht für die Liebe Buddhas, der dafür sorgt,
dass seine Kinder aus der brennenden und lodernden Welt der Extreme, Emotionen
und Ideologien herausfinden. Damit ist aber keine Weltflucht gemeint, sondern
das Erwachen zur wahren Wirklichkeit in dieser Welt, die Dōgen hier als die
dreifache Welt bezeichnet.
„Die Wirklichkeit der Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft versperrt nicht das Hier und
Jetzt. Die Wirklichkeit des Hier
und Jetzt blockt (aber Unrealistisches) der Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft ab.“
Mit
dem Hier und Jetzt sind die Sein-Zeit des
Augenblicks und das Unmittelbare
des hiesigen Ortes gemeint, also die existenzielle Erfahrung im Leben als direktes Handeln. In diese Gegenwart
wirkt zwar die Vergangenheit durch das Gesetz von Ursache und Wirkung hinein,
aber die Wirklichkeit ist nur im Augenblick real vorhanden – in ihrer ganzen
unmittelbaren und intuitiven Fülle und ohne unterscheidendes Denken. Die
existenzielle Sein-Zeit wird als wahre
Wirklichkeit nicht durch die erinnerte Vergangenheit oder erwartete Zukunft
behindert oder, wie es hier heißt, versperrt.
Dōgen
legt großen Wert darauf, dass sowohl die Sein-Zeit im gegenwärtigen Augenblick wirklich existiert als auch das Gesetz
von Ursache und Wirkung gilt, und zwar nicht zuletzt beim ethischem Handeln.
Beides ist wirklich und keine ausgedachte oder beliebige Theorie, gerade nicht
die Ethik.
Er
arbeitet im Kapitel „Tiefes Vertrauen
in das Gesetz von Ursache und Wirkung“[iii]
heraus, dass dieses Gesetz niemals vernachlässigt oder abgelehnt werden darf.
Damit distanziert er sich eindeutig von einigen Strömungen im Zen-Buddhismus,
die behaupten, dass ein Erleuchteter nicht mehr unter das Gesetz von Ursache
und Wirkung falle und zum Beispiel im Krieg beliebig töten darf.
Das obige Zitat hat eine
spannende, unsymmetrische Form: Die Wirklichkeit der Gegenwart wird durch die
Vergangenheit nicht behindert, aber blockt ihrerseits die Vergangenheit. Was
bedeutet das? Die Augenblicke der Gegenwart sind die einzig kraftvolle
Wirklichkeit, sie werden nicht von der Vergangenheit, der nur erinnerten und gedachten,
aber nicht wirklichen Gegenwart und der Zukunft determiniert. Insofern ist der
Augenblick im Hier und Jetzt unabhängig und frei.
Der zweite Satz geht vom
Augenblick der Gegenwart, also von der Wirklichkeit, aus und hat damit allein
die Kraft der Realität. Dagegen sind Erinnerungen aus der Vergangenheit, das
Nachdenken über die Gegenwart und die Erwartungen für die Zukunft lediglich Aktivitäten
des menschlichen neuronalen Netzes, also des Gehirns. Sie haben nicht die
Qualität und Durchschlagskraft der Wirklichkeit.
[i] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die
Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“ und mein Buch:
Strahlende Zeit zum Handeln. Im Auge des Zen, Bd. 2, S. 15 ff.
[ii] Lotos-Sūtra, Kap. 1.198
[iii] Kap. 89, ZEN
Schatzkammer, Bd. 3, S. 262 ff.: „Tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache
und Wirkung (Shinjin-inga)“