Montag, 19. Januar 2015

Die Wirklichkeit ist nur im Augenblick real




Dōgen unterstreicht, dass das ganze Universum hier und jetzt auch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst, er meint damit aber nicht die lineare mechanische Zeit, die wir denken, sondern die Sein-Zeit der Existenz.[i] Dazu zitiert er Shākyamuni Buddha aus dem Lotos-Sūtra:[ii]

„Die dreifache Welt jetzt
alles ist mein Besitz.
Und die Lebewesen in ihr
sind alle meine Kinder.“

Der Hinweis auf die Kinder stellt den Bezug zu dem berühmten Gleichnis im Lotos-Sūtra her, in dem die spielenden Kinder von ihrem Vater aus dem brennenden Haus gerettet werden, weil er sie schließlich überzeugen kann, das Haus zu verlassen und in die schön geschmückten Kutschen einzusteigen. Diese sind das Symbol für die Befreiung durch die Buddha-Lehre.

Das Gleichnis des Vaters steht für die Liebe Buddhas, der dafür sorgt, dass seine Kinder aus der brennenden und lodernden Welt der Extreme, Emotionen und Ideologien herausfinden. Damit ist aber keine Weltflucht gemeint, sondern das Erwachen zur wahren Wirklichkeit in dieser Welt, die Dōgen hier als die dreifache Welt bezeichnet.

„Die Wirklichkeit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft versperrt nicht das Hier und Jetzt. Die Wirklichkeit des Hier und Jetzt blockt (aber Unrealistisches) der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ab.“

Mit dem Hier und Jetzt sind die Sein-Zeit des Augenblicks und das Unmittelbare des hiesigen Ortes gemeint, also die existenzielle Erfahrung im Leben als direktes Handeln. In diese Gegenwart wirkt zwar die Vergangenheit durch das Gesetz von Ursache und Wirkung hinein, aber die Wirklichkeit ist nur im Augenblick real vorhanden – in ihrer ganzen unmittelbaren und intuitiven Fülle und ohne unterscheidendes Denken. Die existenzielle Sein-Zeit wird als wahre Wirklichkeit nicht durch die erinnerte Vergangenheit oder erwartete Zukunft behindert oder, wie es hier heißt, versperrt.

Dōgen legt großen Wert darauf, dass sowohl die Sein-Zeit im gegenwärtigen Augenblick wirklich existiert als auch das Gesetz von Ursache und Wirkung gilt, und zwar nicht zuletzt beim ethischem Handeln. Beides ist wirklich und keine ausgedachte oder beliebige Theorie, gerade nicht die Ethik.

Er arbeitet im Kapitel „Tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung“[iii] heraus, dass dieses Gesetz niemals vernachlässigt oder abgelehnt werden darf. Damit distanziert er sich eindeutig von einigen Strömungen im Zen-Buddhismus, die behaupten, dass ein Erleuchteter nicht mehr unter das Gesetz von Ursache und Wirkung falle und zum Beispiel im Krieg beliebig töten darf.

Das obige Zitat hat eine spannende, unsymmetrische Form: Die Wirklichkeit der Gegenwart wird durch die Vergangenheit nicht behindert, aber blockt ihrerseits die Vergangenheit. Was bedeutet das? Die Augenblicke der Gegenwart sind die einzig kraftvolle Wirklichkeit, sie werden nicht von der Vergangenheit, der nur erinnerten und gedachten, aber nicht wirklichen Gegenwart und der Zukunft determiniert. Insofern ist der Augenblick im Hier und Jetzt unabhängig und frei.

Der zweite Satz geht vom Augenblick der Gegenwart, also von der Wirklichkeit, aus und hat damit allein die Kraft der Realität. Dagegen sind Erinnerungen aus der Vergangenheit, das Nachdenken über die Gegenwart und die Erwartungen für die Zukunft lediglich Aktivitäten des menschlichen neuronalen Netzes, also des Gehirns. Sie haben nicht die Qualität und Durchschlagskraft der Wirklichkeit.





[i] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji) und mein Buch: Strahlende Zeit zum Handeln. Im Auge des Zen, Bd. 2, S. 15 ff.
[ii] Lotos-Sūtra, Kap. 1.198
[iii] Kap. 89, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S. 262 ff.: „Tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung (Shinjin-inga)