(Nishijima Roshi)
Ich möchte nun den Buddhismus
vor dem Hintergrund der Entwicklung von Glaubenssystemen bis zum heutigen Tag
genauer untersuchen. Im Mittelalter war der spirituelle Glauben vorherrschend;
die Kraft des Materiellen war noch nicht in der Gesellschaft verankert: Die
Zeit des Materialismus und der Natur-wissenschaften hatte noch nicht begonnen. Aber
schon gegen Ende des 19. Jahr-hunderts fingen die Menschen an, ihr Vertrauen in
die höchste Kraft des Materialismus zu verlieren, und dies führte zur
gegenwärtigen Lage in der Welt, in der die Menschen aufrichtig nach
alternativen Möglichkeiten für ihr Leben suchen.
Nach meiner festen
Überzeugung ist in diesem Entwicklungsstrom unserer Geschichte und in der
jetzigen Zeit der Buddhismus mit seiner Grundlage des klaren Handelns, auch und
gerade in der Meditation, in ausgezeichneter Weise geeignet, ein ganz
wesentliches System in der Welterfahrung zu werden. Er ist ein sehr praktisches
philosophisches System, das alle anderen vereinen kann, ohne sie von sich
selbst zu entfremden.
Dies ist meine
Schlussfolgerung, nachdem ich viele Jahrzehnte lang das Shôbôgenzô studiert habe. Denn was Meister Dôgen über das Handeln
aufgrund der Lehren Gautama Buddhas sagt, zeigt, dass die buddhistische Weise
der Welterfahrung, die auf das Handeln zentriert ist, dazu bestimmt ist, eine
zentrale Lebensphilosophie für die Welt zu werden.
An dem jetzigen Zeitpunkt
der Entwicklung kann die Menschheit nicht länger an die mittelalterlichen
spirituellen Systeme glauben und ebenso wenig die Vorherrschaft der
Naturwissenschaft akzeptieren, wenn es um die dringenden Antworten geht. Die
Menschen suchen nach etwas, das weder erlernter Glauben noch materialistische
Naivität ist und auf das sie sich wirklich in ihrem Leben verlassen können. In
dieser Situation kann der Buddhismus den Menschen das geben, was sie dringend
suchen.
Aber was bedeutet
menschliches Handeln genau? Diese Frage ist von zentraler Bedeutung. Im Shôbôgenzô findet man viele Erklärungen
über die wahre Natur des Handelns, zum Beispiel im Kapitel Shoaku Makusa oder „Erzeugt nichts Falsches“[i]: Ein
berühmter chinesischer Dichter, Haku-Raku-Tem
(Künstlername Haku Kyo-i), unterhielt
sich mit seinem Meister Choka Dorin. Haku-Raku-Tem
war auch als Politiker bekannt und ein begeisterter Schüler des Buddhismus.
Als er für verschiedene
Distrikte in China zum Gouverneur ernannt worden war, wurde er Schüler von
Meister Choka Dorin. Eines Tages fragte er seinen Meister: „Was ist die große
Absicht des Buddha-Dharma?“ Meister Choka antwortete: „Nichts Falsches zu
begehen. Die vielen Arten des Rechten zu praktizieren.“ Haku-Raku-Tem hatte wohl
gehofft, dass sein Meister ihm eine gelehrte und philosophisch tiefgründige
Antwort geben würde, die ihn intellektuell zufriedenstellte. Aber Meister Choka
antwortete ihm einfach, nichts Falsches zu tun und die vielen Arten des Rechten
zu praktizieren.
Haku-Raku-Tem war sehr
enttäuscht über diese simple und direkte Antwort auf seine tiefgründige Frage
und sagte zu seinem Meister: „Wenn dies so ist, kann sogar ein Kind von drei
Jahren so etwas sagen.“ Damit offenbarte er, dass er dachte, der Buddhismus sei
ein viel komplizierteres Lehrgebäude und anspruchsvolles philosophisches
Streben. Er
müsse mehr beinhalten als einfache Aussagen über das Verhalten in unserem
täglichen Leben. Meister Choka erwiderte daraufhin: „Ein Kind von drei Jahren
kann die Wahrheit sagen. Aber selbst ein alter erfahrener Mann von 80 Jahren
kann sie nicht praktizieren.“ Denn der entscheidende Punkt dabei ist, dass es
tatsächlich sehr schwierig ist, diese einfache Ermahnung, das Richtige zu tun,
in der Praxis umzusetzen. Auch ein alter Mann kann damit Schwierigkeiten haben.
Chokas
Antwort ist eine sehr gute Beschreibung der wirklichen Situation in unserem
Leben. Die Tatsache, dass ein drei Jahre altes Kind etwas sagen kann, was aber
nicht einmal von einem 80 Jahre alten Mann in die Praxis umgesetzt werden kann,
zeigt uns klar die enorme Kluft zwischen dem, was wir denken und sagen, und
dem, was tatsächlich getan werden kann. Theorie und Handeln existieren in
vollständig verschiedenen Welten, sie liegen weit auseinander!
[i] Kap. 10, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 100 ff.:
„Erzeugt kein Unrecht und erlangt die Freiheit! (Shoaku makusa)“