Samstag, 30. April 2016

Buddhismus als wesentliches System in der Welt-Erfahrung

(Nishijima Roshi)


Ich möchte nun den Buddhismus vor dem Hintergrund der Entwicklung von Glaubenssystemen bis zum heutigen Tag genauer untersuchen. Im Mittelalter war der spirituelle Glauben vorherrschend; die Kraft des Materiellen war noch nicht in der Gesellschaft verankert: Die Zeit des Materialismus und der Natur-wissenschaften hatte noch nicht begonnen. Aber schon gegen Ende des 19. Jahr-hunderts fingen die Menschen an, ihr Vertrauen in die höchste Kraft des Materialismus zu verlieren, und dies führte zur gegenwärtigen Lage in der Welt, in der die Menschen aufrichtig nach alternativen Möglichkeiten für ihr Leben suchen.

Nach meiner festen Überzeugung ist in diesem Entwicklungsstrom unserer Geschichte und in der jetzigen Zeit der Buddhismus mit seiner Grundlage des klaren Handelns, auch und gerade in der Meditation, in ausgezeichneter Weise geeignet, ein ganz wesentliches System in der Welterfahrung zu werden. Er ist ein sehr praktisches philosophisches System, das alle anderen vereinen kann, ohne sie von sich selbst zu entfremden.

Dies ist meine Schlussfolgerung, nachdem ich viele Jahrzehnte lang das Shôbôgenzô studiert habe. Denn was Meister Dôgen über das Handeln aufgrund der Lehren Gautama Buddhas sagt, zeigt, dass die buddhistische Weise der Welterfahrung, die auf das Handeln zentriert ist, dazu bestimmt ist, eine zentrale Lebensphilosophie für die Welt zu werden.

An dem jetzigen Zeitpunkt der Entwicklung kann die Menschheit nicht länger an die mittelalterlichen spirituellen Systeme glauben und ebenso wenig die Vorherrschaft der Naturwissenschaft akzeptieren, wenn es um die dringenden Antworten geht. Die Menschen suchen nach etwas, das weder erlernter Glauben noch materialistische Naivität ist und auf das sie sich wirklich in ihrem Leben verlassen können. In dieser Situation kann der Buddhismus den Menschen das geben, was sie dringend suchen.

Aber was bedeutet menschliches Handeln genau? Diese Frage ist von zentraler Bedeutung. Im Shôbôgenzô findet man viele Erklärungen über die wahre Natur des Handelns, zum Beispiel im Kapitel Shoaku Makusa oder „Erzeugt nichts Falsches“[i]: Ein berühmter chinesischer Dichter, Haku-Raku-Tem (Künstlername Haku Kyo-i), unterhielt sich mit seinem Meister Choka Dorin. Haku-Raku-Tem war auch als Politiker bekannt und ein begeisterter Schüler des Buddhismus.

Als er für verschiedene Distrikte in China zum Gouverneur ernannt worden war, wurde er Schüler von Meister Choka Dorin. Eines Tages fragte er seinen Meister: „Was ist die große Absicht des Buddha-Dharma?“ Meister Choka antwortete: „Nichts Falsches zu begehen. Die vielen Arten des Rechten zu praktizieren.“ Haku-Raku-Tem hatte wohl gehofft, dass sein Meister ihm eine gelehrte und philosophisch tiefgründige Antwort geben würde, die ihn intellektuell zufriedenstellte. Aber Meister Choka antwortete ihm einfach, nichts Falsches zu tun und die vielen Arten des Rechten zu praktizieren.

Haku-Raku-Tem war sehr enttäuscht über diese simple und direkte Antwort auf seine tiefgründige Frage und sagte zu seinem Meister: „Wenn dies so ist, kann sogar ein Kind von drei Jahren so etwas sagen.“ Damit offenbarte er, dass er dachte, der Buddhismus sei ein viel komplizierteres Lehrgebäude und anspruchsvolles philosophisches Streben. Er müsse mehr beinhalten als einfache Aussagen über das Verhalten in unserem täglichen Leben. Meister Choka erwiderte daraufhin: „Ein Kind von drei Jahren kann die Wahrheit sagen. Aber selbst ein alter erfahrener Mann von 80 Jahren kann sie nicht praktizieren.“ Denn der entscheidende Punkt dabei ist, dass es tatsächlich sehr schwierig ist, diese einfache Ermahnung, das Richtige zu tun, in der Praxis umzusetzen. Auch ein alter Mann kann damit Schwierigkeiten haben.

Chokas Antwort ist eine sehr gute Beschreibung der wirklichen Situation in unserem Leben. Die Tatsache, dass ein drei Jahre altes Kind etwas sagen kann, was aber nicht einmal von einem 80 Jahre alten Mann in die Praxis umgesetzt werden kann, zeigt uns klar die enorme Kluft zwischen dem, was wir denken und sagen, und dem, was tatsächlich getan werden kann. Theorie und Handeln existieren in vollständig verschiedenen Welten, sie liegen weit auseinander!






[i] Kap. 10, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 100 ff.: „Erzeugt kein Unrecht und erlangt die Freiheit! (Shoaku makusa)“