Sonntag, 9. Dezember 2018

Der Wendepunkt in Buddhas Leben: Erwachen mit der Natur


(Aus dem Buch: "Begegnung mit dem wahren Drachen" von G. W. Nishijima, Übersetzung Yudo J. Seggelke)

Buddha erkannte (nach langer schmerzhafter Askese), dass Asketentum kein Weg zur Wahrheit war, sondern nur zum Tod. Er wusste auch, dass der Tod nicht die Freiheit war, nach der er suchte.
Diese Erkenntnis war ein grundsätzlicher Wendepunkt im Leben Gautama Buddhas. Bis dahin hatte er nach der Wahrheit wie nach einem Wunschtraum gestrebt. Dieser Traum hatte ihn dazu gebracht, alle möglichen Arten von extremen Übungen zu versuchen und große Schmerzen, Entbehrungen und Härten durchzustehen. Aber jetzt erkannte er, dass solche extremen Praktiken ihn niemals zum Frieden bringen konnten und ihm niemals Glück und eine ausgeglichene Lebensweise ermöglichen würden.

Daher verließ Gautama Buddha kurz entschlossen ohne Bedauern und ohne weitere Erklärung den Ort seiner asketischen Praxis und wanderte am Ufer eines kleinen Flusses entlang. Dort traf er ein Mädchen, das einen Krug mit Milch trug. Als das Mädchen die elende und abgemagerte Gestalt des ehemaligen Prinzen sah, wusste sie, dass er unbedingt Nahrung brauchte, um nicht zu sterben. Sie bot ihm ihre Milch an, er nahm sie an und trank sie langsam voller Dankbarkeit.

Bald kehrten auch die früheren Kräfte in seinen gequälten Körper zurück. Er fühlte sich zum ersten Mal seit Jahren entspannt und wohl. Er verstand auf eine direkte und einfache Weise die große Bedeutung von Essen und Trinken im Leben der Menschen. Er sah zum ersten Mal, dass ein gesunder Körper und ein friedlicher Geist kein Gegensatz sind. Er entschied sich, ein neues Leben zu beginnen: ein einfaches und maßvolles Leben mit einfachen und angemessenen Aktivitäten.

Er fand einen schönen Baum am Ufer eines Flusses und unter den schützenden Ästen bereitete er sich einen angenehmen Sitzplatz. Als er dort unter dem Baum saß, ließ er sich in der natürlichen Sitzhaltung mit gekreuzten Beinen nieder, die ihm seit seiner Zeit der asketischen Schulung vertraut war. Jetzt saß er jedoch ohne besonderes Ziel und ohne asketische Absicht. Er saß nur – ruhig und friedlich.

 In der Ruhe dieses friedlichen Zustandes konnte Gautama Buddha sehen, was wirklich um ihn herum war. Er sah Bäume, Steine und Blätter. Er hörte die Vögel singen. Er spürte das Schlagen seines Herzens und die Kühle des Schweißes auf seiner Stirn. Er sah und fühlte alles genauso, wie es war und dies war wirklich wunderbar.

Ganz früh am Morgen, als er unter dem Baum saß, sah er einen einsamen Stern, hell und strahlend am östlichen Himmel. In diesem Augenblick entdeckte er, dass das ganze Universum wunderbar und lebendig war. Jeder Stern, jeder Baum, jeder Grashalm hat gleichen Anteil an dieser Vollkommenheit, die das gesamte Universum umfasste.

Gautama Buddha wusste, dass diese Vollkommenheit die große und einfache Wahrheit ist, die er so viele Jahre lang gesucht hatte. Er wusste nun ohne jeden Zweifel und mit klarer Sicherheit, dass die Wahrheit in jedem Ding und jeder Sache gegenwärtig ist  an jedem Ort und in jedem Augenblick. Er wusste, dass der Weg der Wahrheit, der Weg des Wissens und der Erfahrung dieser Wahrheit darin besteht, direkt an der sich entfaltenden Wirklichkeit des Lebens teilzuhaben. Die Wahrheit besteht darin, sich selbst im einfachen Handeln, im Tun, zu verwirklichen, so z. B. mit ganzem Herzen und mit ganzem Geist zu sitzen. Das Sitzen, der reine und einfache Vorgang des Sitzens, in der alten Haltung der Meister, war für Gautama Buddha das Tor zum wunderbaren Universum, das Tor zur wirklichen Welt. Dies war die Wahrheit selbst.