Häufig
wurde das Lotos-Sūtra als romantisches und wirklichkeitsfremdes Märchen verstanden,
sozusagen als Volksbuddhismus voller Wunder und übernatürlicher Wesen und
Kräfte, die man anrufen kann und die uns helfen. Das ist viel zu mager und
verdünnt. Denn das Lotos-Sūtra ist auch große Poesie.
Nach
einer Überlieferung, die auf Daikan Enō (Huineng) zurückgeht, beschreibt das
Lotos-Sūtra in genialer Weise seine eigene erleuchtete
Version von Bewegung und Weiterentwicklung der höchsten dem Menschen
zugänglichen Wahrheit. Er sagt, dass wir die Dharma-Blume der Welt und des
Lebens selbst drehen und bewegen, wenn wir die wahre Freiheit erlangt haben. Wer
sollte denn die Welt heilsam bewegen, wenn wir es nicht tun? Dōgen wählt dabei auch
die Sprache des Dichters, um diesen höchsten Zustand des Menschen zu
beschreiben, denn mit spitzfindiger Intellektualität ist dies nicht möglich. Der
Zen ist nicht paradox und in sich widersprüchlich, denn er überschreitet
einfach die Alltags-Logik vieler Menschen.
Beim
Drehen der Dharma-Blume unterscheidet Dogen, ob sich ein Mensch in Täuschung
befindet oder nicht. Diese Bewegung und Drehung der Dharma-Wahrheit kann man
wissenschaftlich als selbstverstärkende Dynamik verstehen, die sich – einmal
angestoßen – zu unserem erwachten Leben in der Wirklichkeit der Welt bewegt.
Dadurch werden alte und neue Hemmnisse immer einfacher weg geräumt.
„Wenn Menschen Durst haben und Wasser suchen, graben
sie zum Beispiel auf einer Ebene, die trocken und ausgedörrt erscheint. Wenn
sie Ausdauer haben und tiefer kommen, entdecken sie feuchte Erde und wissen,
dass sie auf dem richtigen Wege sind. Dann ist das Wasser nicht mehr weit. Wer
dann ausdauernd weiter gräbt, stößt tatsächlich auf das Grundwasser.“
Dōgen
gibt dann das Gedicht wieder, das Hui Neng dem Mönch Hōtatsu nach dessen
Erwachen vortrug. Es nennt kurz und prägnant die Eckpunkte des Buddhismus, die
dem Lotos-Sūtra eine ganz neue Tiefenschärfe geben:
„Wenn der Geist in Täuschung ist, dreht sich die Blume des
Dharma (ohne dich).
Wenn der Geist in der Verwirklichung ist, drehst du die
Blume des Dharma."
Wenn wir nicht Klarheit von uns selbst haben, wird das Lotos-Sūtra wegen seiner
tiefgründigen Bedeutungen sogar unser Feind werden, ganz gleich, wie häufig wir
es rezitieren. Also selber drehen!
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