Sonntag, 25. Januar 2015

Keine Unterscheidung von Vater und Kind im Jetzt



Es gibt viele verschiedene Wesen in der Welt, die jeweils ihr eigenes Leben haben; im Zitat aus dem Lotos-Sūtra werden sie als „meine Kinder“ bezeichnet. Dies verweist auf das Gleichnis des brennenden Hauses und auf die Beziehung Gautama Buddhas zu den Menschen; sie offenbaren und manifestieren sich mit ihrem Handeln und ihren Funktionen.

Der mitfühlende Vater gibt den Kindern laut Dōgen „ihren Körper, ihre Haare und ihre Haut“, sodass sie nicht verletzt werden und keinen Mangel leiden. Nishijima und Cross vermuten hier auch einen Bezug zur Lehre des Konfuzius, der die gute und loyale Beziehung von Kindern zu ihren Eltern besonders schätzte.[i]

Dōgen kommt dann auf den Augenblick zu sprechen und betont, dass eine Unterscheidung von Vater und Kind im Jetzt der Gegenwart nicht aussagekräftig ist, weil es hier um die Einheit untereinander und mit der dreifachen Welt geht. Damit übersteigt er die Aussage von Konfuzius.

„Dieser Zustand wurde empfangen, (aber) nicht gegeben, wurde erlangt, (aber) nicht mit Gewalt genommen.“

Die üblichen Unterscheidungen zwischen Geben und Nehmen, Gehen und Kommen, Maßangaben wie groß und klein oder Diskussionen über alt und jung seien für den gegenwärtigen Zustand nicht angemessen. Sie haben für das obige Gleichnis keine Bedeutung.

Aber Dōgen bittet uns, diese Aussagen nicht einfach hinzunehmen, zum Beispiel weil sie im Lotos-Sūtra stehen, sondern wir sollten ohne Hast gründlich darüber nachdenken. Der Zustand Buddhas, der im Gleichnis mit dem Vater gemeint ist, ist für alle Menschen durch den Buddhismus erreichbar, wenn sie vertrauensvoll und dauerhaft praktizieren und die buddhistische Lehre gründlich studieren.

Das Mitgefühl des Vaters ist letztlich allerdings für die Kinder gar nicht erforderlich, wenn diese sich nach ihrer wahren Natur selbst verwirklichen. Im Lotos-Sūtra ist allgemein von Kindern die Rede, ob sie sich nun ihrer wahren Natur bewusst sind oder nicht. Die Wirklichkeit des Buddha-Dharma ist nämlich unabhängig davon, ob sie uns bewusst ist, weil sie die Wirklichkeit als solche ist.

Dann zitiert Dōgen weiter aus dem Lotos-Sūtra, indem er schildert, dass die Buddhas ihren „Dharma-Körper“ so verwandeln, dass sie den Menschen wirkungsvoll helfen können.
Deshalb sind die Blüten und Früchte aller Dinge Buddhas eigener Besitz. Die Felsen und Steine, große und kleine, sind eigener Besitz Buddhas. Er verweilt friedlich in Wald und Feldern. Der Wald und die Felder sind schon frei.“

Damit spricht Dōgen die Natur in ihrer ganzen Schönheit und Kraft an: Nicht nur die Blumen und Bäume sind gemeint, sondern auch die Felsen, Kiesel usw. In einem anderen Kapitel erklärt er, dass die Natur den wahren Buddha-Dharma lehrt[ii] und bezeichnet sie als „nicht-empfindende Wesen“.




[i] Shobogenzo, Bd. 3, S. 45, Fußnote 12
[ii] Kap. 53, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S. 246 ff.: „Die Natur und die nicht-empfindenden Wesen lehren den Buddha-Dharma (Mujō seppō) und mein Buch: Umwelt-ZEN. Im Auge des Zen, Bd. 3, S. 151 ff.

Montag, 19. Januar 2015

Die Wirklichkeit ist nur im Augenblick real




Dōgen unterstreicht, dass das ganze Universum hier und jetzt auch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst, er meint damit aber nicht die lineare mechanische Zeit, die wir denken, sondern die Sein-Zeit der Existenz.[i] Dazu zitiert er Shākyamuni Buddha aus dem Lotos-Sūtra:[ii]

„Die dreifache Welt jetzt
alles ist mein Besitz.
Und die Lebewesen in ihr
sind alle meine Kinder.“

Der Hinweis auf die Kinder stellt den Bezug zu dem berühmten Gleichnis im Lotos-Sūtra her, in dem die spielenden Kinder von ihrem Vater aus dem brennenden Haus gerettet werden, weil er sie schließlich überzeugen kann, das Haus zu verlassen und in die schön geschmückten Kutschen einzusteigen. Diese sind das Symbol für die Befreiung durch die Buddha-Lehre.

Das Gleichnis des Vaters steht für die Liebe Buddhas, der dafür sorgt, dass seine Kinder aus der brennenden und lodernden Welt der Extreme, Emotionen und Ideologien herausfinden. Damit ist aber keine Weltflucht gemeint, sondern das Erwachen zur wahren Wirklichkeit in dieser Welt, die Dōgen hier als die dreifache Welt bezeichnet.

„Die Wirklichkeit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft versperrt nicht das Hier und Jetzt. Die Wirklichkeit des Hier und Jetzt blockt (aber Unrealistisches) der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ab.“

Mit dem Hier und Jetzt sind die Sein-Zeit des Augenblicks und das Unmittelbare des hiesigen Ortes gemeint, also die existenzielle Erfahrung im Leben als direktes Handeln. In diese Gegenwart wirkt zwar die Vergangenheit durch das Gesetz von Ursache und Wirkung hinein, aber die Wirklichkeit ist nur im Augenblick real vorhanden – in ihrer ganzen unmittelbaren und intuitiven Fülle und ohne unterscheidendes Denken. Die existenzielle Sein-Zeit wird als wahre Wirklichkeit nicht durch die erinnerte Vergangenheit oder erwartete Zukunft behindert oder, wie es hier heißt, versperrt.

Dōgen legt großen Wert darauf, dass sowohl die Sein-Zeit im gegenwärtigen Augenblick wirklich existiert als auch das Gesetz von Ursache und Wirkung gilt, und zwar nicht zuletzt beim ethischem Handeln. Beides ist wirklich und keine ausgedachte oder beliebige Theorie, gerade nicht die Ethik.

Er arbeitet im Kapitel „Tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung“[iii] heraus, dass dieses Gesetz niemals vernachlässigt oder abgelehnt werden darf. Damit distanziert er sich eindeutig von einigen Strömungen im Zen-Buddhismus, die behaupten, dass ein Erleuchteter nicht mehr unter das Gesetz von Ursache und Wirkung falle und zum Beispiel im Krieg beliebig töten darf.

Das obige Zitat hat eine spannende, unsymmetrische Form: Die Wirklichkeit der Gegenwart wird durch die Vergangenheit nicht behindert, aber blockt ihrerseits die Vergangenheit. Was bedeutet das? Die Augenblicke der Gegenwart sind die einzig kraftvolle Wirklichkeit, sie werden nicht von der Vergangenheit, der nur erinnerten und gedachten, aber nicht wirklichen Gegenwart und der Zukunft determiniert. Insofern ist der Augenblick im Hier und Jetzt unabhängig und frei.

Der zweite Satz geht vom Augenblick der Gegenwart, also von der Wirklichkeit, aus und hat damit allein die Kraft der Realität. Dagegen sind Erinnerungen aus der Vergangenheit, das Nachdenken über die Gegenwart und die Erwartungen für die Zukunft lediglich Aktivitäten des menschlichen neuronalen Netzes, also des Gehirns. Sie haben nicht die Qualität und Durchschlagskraft der Wirklichkeit.





[i] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji) und mein Buch: Strahlende Zeit zum Handeln. Im Auge des Zen, Bd. 2, S. 15 ff.
[ii] Lotos-Sūtra, Kap. 1.198
[iii] Kap. 89, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S. 262 ff.: „Tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung (Shinjin-inga)

Samstag, 10. Januar 2015

Lernen: Befreiung aus dem Leiden der dreifachen Welt



Dōgen zitiert aus dem Lotos-Sūtra:

„Es gibt die Befreiung der dreifachen Welt, und es gibt die dreifache Welt, die hier und jetzt ist.“

Die dreifache Welt ist eine Einheit und wir müssen diese Wirklichkeit zu Grunde legen, um den buddhistischen Weg der Befreiung zu finden und zu gehen. Es gibt keine isolierten Geist, wie wir häufig umgangssprachlich sagen.

Nishijima und Cross[i] erläutern, dass Dōgen damit das Gleichnis des brennenden Hauses aus dem Lotos-Sūtra anspricht, das davon handelt, dass ein tatkräftiger Vater seinen Kindern, die in einem brennenden Haus spielen, dabei hilft, der großen Gefahr des Feuertodes entfliehen zu können. Die Kinder hatten sich im isolierten Geist ihres Spielens verloren und die gefährliche Wirklichkeit des Brandes gar nicht bemerkt. Dies ist das Gleichnis für die Befreiung aus dem Leiden der dreifachen Welt mithilfe von Gautama Buddha.[ii]

Wenn die Wirklichkeit der dreifachen Welt, in der Ideen, sinnliche Wahrnehmung und Handeln zu einer Einheit verschmolzen sind, nicht konkret erkannt und erfahren wird, können philosophische und theoretische Abstraktionen niemals die Befreiung von den Leiden der Welt ergeben. Unser bewusstes Denken ist nur ein sehr kleiner Teil unserer großen praktisch unbegrenzten Gehirnkapazität, dazu gehört z. B die intuitive Klugheit des Sehens, des Hörens, der Motorik, der Gefühle, der Ethik usw, wie uns auch die gesicherte moderne Gehirnforschung lehrt. Dies alles ist der einheitliche Geist.

Dōgen betont, dass das obige Zitat aus dem Lotos-Sūtra von ganz zentraler Bedeutung ist und einen fundamentalen Wahrheitsgehalt besitzt. Es beschreibt die unauflösbare Verknüpfung der drei Bereiche, die oft fälschlich getrennt werden, was dazu führt, dass es keinen einheitlichen Geist mehr gibt und alles zersplittert, verwirrend und ohne befreienden Ausgang ist. In der heutigen Zeit muss dabei die Fragmentierung des Geistes und das total falsche Ziel des Multitasking genannt werden: das führt nach M. Spitzer zur digitalen Demenz!

Wenn es bei Dōgen heißt, dass die dreifache Welt als Objekt gesehen wird, so bedeutet dies gleichzeitig, dass das handelnde Subjekt die „dreifache Welt“ als Objekt sieht. Beides ist aber eine Einheit, und durch das Sehen als Handeln wird die Welt realisiert.[iii] Eine Trennung von Subjekt und Objekt wird damit grundsätzlich ad absurdum geführt, weil eine wechselseitige, unauflösbare Verbindung besteht. Lernendes Handeln und Sehen können nicht sinnvoll getrennt werden. Und Lernen ist die zentrale Botschaft des Buddhismus.

Die dreifache Welt zu sehen, bedeutet sie zu verwirklichen, wie Dōgen im Kapitel „Das verwirklichte Leben und Universum“ tiefgründig darstellt. Das heißt, dass Sehen gleichzeitig wirkliches, unverstelltes Handeln ist und nicht in der materialistischen Lebensphilosophie hängen bleibt, in der es nur um die sinnliche Wahrnehmung der äußeren Form oder Materie geht. Ein Leben nach dieser Maxime höhlt sich selbst aus und verliert seinen Sinn.

„In der Lage zu sein, dass die dreifache Welt den Geist (zur Wahrheit) erweckt, Schulungen durchzuführen, die Bodhi-Wahrheit (zu verwirklichen) und Nirvāna (zu erfahren), ist genau der Zustand, in dem alles mein Besitz ist.“

In diesen hoch verdichteten Aussagen Dōgens über die dreifache Welt und den mit ihr identischen Geist geht es nicht um theoretisches Erkennen allein, sondern die Übungspraxis und die Verwirklichung der Bodhi-Wahrheit sind ebenso maßgeblich. Dann erfahren wir das Nirvāna des Hier und Jetzt genau in dieser dreifachen Welt. Dies ist der befreite und erwachte Zustand, in dem alles in der dreifachen Welt mein Besitz ist, also mit mir identisch ist. Wo gibt es da noch die Trennung von Subjekt und Objekt?




[i] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 3, S. 44, Fußnote 5
[ii] vgl. auch Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 44, Fußnote 6
[iii] Kap. 3, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 43 ff.: „Das verwirklichte Leben und Universum (Genjō-kōan) und mein Buch: ZEN ohne Mythos und Ideologie. Im Auge des Zen, Bd. 1, S. 15 ff.

Sonntag, 4. Januar 2015

Der Geist der Wirklichkeit hilft uns




Unser Geist kann nicht außerhalb der dreifachen Welt sein, die die ganze Welt ist, deshalb sagt Dōgen ganz konkret:

„Innerhalb, außerhalb, in der Mitte, am Anfang und am Ende ist alles die dreifache Welt.“

Da nach dieser Formulierung auch „außerhalb“ zur dreifachen Welt gehört, gibt es nach der Geometrie überhaupt nichts, was darüber hinaus irgendwo sein könnte. Die dreifache Welt als umfassende Wirklichkeit ist genau so, wie wir sie sehen. Eine davon abweichende Sichtweise kann nur eine falsche Sicht sein, und sie basiert auf irrealen Illusionen, Vorstellungen oder falschen Hoffnungen. Wenn wir innerhalb der wirklichen Welt leben, können wir uns dauerhaft von Sichtweisen und Meinungen über andere angebliche Wirklichkeiten befreien und die Welt direkt, unmittelbar und unverzerrt sehen.

Das ist eine radikale Aufforderung, die Wirklichkeit hier und jetzt von Illusionen und Träumen zu unterscheiden, auch wenn sie noch so verlockend sind, uns aber genau so wenig in pessimistischen Befürchtungen und Ängsten zu verlieren!

Hierbei kommt den Augen und dem Sehen als Wahrnehmung eine besonders große Bedeutung zu. Wir wissen heute, dass etwa ein Drittel des Gehirns zum Sehen gehört, also großartige Kapazitäten enthält: Wir sollten sie nutzen. Außerdem sind die mit den Sinnen verbundenen Glücksgefühle, die durch unsere Sinnesorgane und deren Reizung erzeugt werden, ein wichtiger Teil dieser Lebensdimension der Formen und Farben. Und Freude und Lernen gehören zusammen.

Aber es darf nicht zur Abhängigkeit von den Sinnesobjekten kommen, die durch die Gier gesteuert wird. Der im Buddhismus hoch geschätzte Mittlere Weg der Selbststeuerung als Möglichkeit, das Leiden und die Katastrophen in unserem Leben entweder ganz zu vermeiden oder in der Wirkung wesentlich abzumildern, besteht gerade darin, dass man sich nicht den extremen sinnlichen Leidenschaften hingibt. Genauso müssen wir vermeiden, dass wir bei Ideen, Vorstellungen und Idealen zu extremen und vor allem zu gewaltsamen Bewertungen neigen und entsprechend unkontrolliert handeln. Dann verlieren wir uns in Ideologien, die großen Schaden anrichten könne, wie wir täglich erfahren.

Die Wirklichkeit der drei Welten sehen wir laut Dōgen „einerseits durch das alte Nest der Gewohnheiten und andererseits in jedem Augenblick frisch und neu“.

Im alten China wurde der Begriff „Nest“ für gedankliche Verstrickungen und festgefahrene Vorstellungen verwendet, die nicht zuletzt durch Ideologien und Vorurteile bestimmt sind: kein schlechter Begriff. Es ist ein erklärtes Ziel des Buddha-Weges, sich aus diesen Nestern zu befreien, die Verstrickungen zu lösen und daraus zu erwachen.
Dōgen wiederholt dann die scheinbar einfache Aussage „Diese dreifache Welt ist genau so, wie sie gesehen wird“ und lehnt komplizierte philosophische Theorien ab, die damals intellektuell diskutiert wurden, den direkten Blick auf die Wirklichkeit jedoch verschleierten. Sie drehten sich zum Beispiel um die Begriffe „ursprüngliche Existenz“ oder „gegenwärtige Existenz“. Dasselbe gilt für Vorstellungen über eine wundersame, „neue Erleuchtung“. Auch vordergründige Kausal-Erklärungen, dass die dreifache Welt aus behaupteten Ursachen und Bedingungen entstehe, führen laut Dōgen nicht weiter, denn sie sei jenseits von Theorien über Anfang, Mitte oder Ende. Dabei ist Dōgen sicher kein Feind des sinnvollen Denkens, ganz im Gegenteil.