Freitag, 3. April 2015

Die Einheit von Geist und Natur


Der große Meister Daisho[i] war ein Nachfolger von Daikan Enō und ein sogar am Hofe des damaligen chinesischen Kaisers äußerst geschätzter Meister. Einmal fragte ihn ein Mönch:

„Was ist der Geist der ewigen Buddhas?“

Daisho antwortete dem verblüfften Schüler:
„Zäune, Mauern, Ziegel und Kieselsteine.“

Diese berühmte Zen-Aussage zielt auf die ganz konkreten Dinge des damaligen täglichen Lebens in China und betont die nur scheinbar materielle Seite dieser Welt. Sie schneidet jede Spekulation und Illusion eines abgehobene Geistes ab, denn kaum einer würde wohl vermuten, dass der Geist der ewigen Buddhas dasselbe ist wie zum Beispiel die Kieselsteine. In eindringlicher Weise wird dadurch die Einheit von Buddha-Geist und Wirklichkeit der Dinge und Phänomene ausgedrückt. Und die Antwort Daishos bedeutet, dass wir uns den Geist der ewigen Buddhas nicht als etwas Immaterielles und nur Ideelles vorstellen sollen.

Ich muss gestehen, dass mir diese Aussage zunächst auch ziemlich unklar war, weil sie dem europäischen Denken in der Tat völlig entgegengesetzt ist. Wie kann der Geist dasselbe sein wie Ziegel und Kieselsteine? Dann machte ich jedoch eine Beobachtung und gewann folgende Erkenntnis: Bei einem Aufenthalt auf der Insel Lanzarote besuchte ich den zu einem Museum umgewandelten Wohnbereich des großen Künstlers César Manrique.

Einige natürliche Höhlen, die sich als große Blasen in der ehemals fließenden Lava gebildet hatten, sind Teil dieses "Wohnkomplexes". Nachdem ich die Höhlen verlassen hatte, saß ich noch eine Weile im Freien und sah zu meinen Füßen einen mit Kieselsteinen aufgeschütteten Platz. Plötzlich erinnerte ich mich an das obige Kōan und betrachtete die Kieselsteine daraufhin sehr viel genauer: Sie waren vom Meer in langen Zeitaltern rund und oval geschliffen und keinesfalls einheitlich oder langweilig. Mir fiel auf, dass sie so ausdrucksvoll und wunderbar geformt waren, als ob sie ein großer Künstler wie Manrique geschaffen hätte. Es schoss mir durch den Kopf:

Das Meer als Künstler der Kieselsteine? Ja, ohne Frage!

Dadurch sprengten die Steine gewissermaßen ihre materielle Begrenztheit und Nebensächlichkeit und fingen an, von der Schönheit und Vielfalt des Meeres und dieser Welt zu reden und sich ganz neu zu manifestieren. Das musste es sein, was Meister Daisho ausdrücken wollte: Der Geist der Buddhas und der Natur ist keine abstrakte Idee oder Gedankenwelt, sondern lebt genau im ganz Konkreten vor uns und mit uns. Wir müssen es nur erkennen, ganz offen sein.

Der Geist der ewigen Buddhas ist zum Beispiel auch in den unzähligen Bäumen und Hunderten von konkreten Pflanzen einschließlich der sogenannten Unkräuter. Diese buddhistische Wahrheit ist dasselbe wie die sich öffnenden Blütenblätter des Lotus, die wiederum vergleichbar sind mit der Entfaltung der Lehre und Praxis des Buddhismus.

Dass sich die Welt ereignet, seien Buddhas ewige Gesichter der Sonne und des Mondes und

„die Haut, das Fleisch, die Knochen und das Mark“

des ewigen Buddhas. Diese Aussage wird Bodhidharma bei der Dharma-Übertragung an seine Schülerin und drei Schüler zugeschrieben.[ii]

Von zentraler Bedeutung ist, dass die ewigen Buddhas praktizieren und sich nicht in philosophischen Spekulationen verlieren. Sie stehen fest mit beiden Beinen auf der Welt, handeln im Sinne der Bodhisattvas wie es die Situation erfordert, sind furchtlos, tatkräftig und von außergewöhnlicher Klarheit: Wirkliche Vorbilder, an denen es heute mangelt.




[i] Meister Daisho, auch Nan-yo Echu genannt, war Nachfolger von Daikan Enō; Daisho starb 775.
[ii] Kap. 43, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 154 ff.: „Die wahre Bedeutung der Blumen im Raum (Kuge)