Freitag, 27. März 2015

Höchste Erleuchtung: Ewiges Tal und kühle Quelle


Bei einem Gespräch der beiden großen Meister, Jōshū[i] und Seppō[ii],geht es um ein klares gegenseitiges intuitives Erkennen, das nicht von Äußerlichkeiten oder vom Rang abhängt. Dann kommen auch wortreiche Argumentationen zum Stillstand, die eher verhindern, dass die Klarheit des Buddha-Dharma erlebt wird.
Es gibt dazu eine treffende Kōan-Geschichte[iii], sie lässt sich wie folgt zusammenfassen: Meister Seppō wurde von einem Mönch gefragt:

„Was ist es, wenn wir in einem ewigen Tal oder einer kühlen Quelle sind?“

Seppō gab die verblüffende Antwort:
„Selbst wenn wir unsere Augen weit öffnen, können wir den Grund nicht sehen.“

Der Mönch fragte weiter:
Was ähnelt dem, wenn wir es trinken?“

Und Seppō antwortete:
„Wasser wird nicht in den Mund hineinkommen.“

Nishijima Roshi erläutert, dass das ewige Tal und die kühle Quelle den höchsten Stand der Erleuchtung im Buddhismus bedeuten. Ein solcher Zustand sei von außen mit den Augen aber nicht erkennbar; das meint Meister Seppō, wenn er sagt, dass man den Grund mit den Augen nicht sehen könne. Der Mönch stellt dann die Frage, ob man es trinken kann. Aber die sinnliche Wahrnehmung allein ist ungeeignet, um den höchsten Zustand im Buddhismus zu erkennen. Das gilt sowohl für das Sehen als auch das Hören und das Spüren des Wassers im Mund.

Die Kōan-Geschichte geht aber noch weiter: Meister Jōshū wurde von einem Mönch genau das Gleiche gefragt wie Meister Seppō. Jōshū antwortete jedoch wesentlich kürzer und drastischer:
„Es ist schmerzhaft!“

Auf die weitere Frage des Mönchs, was passiert, wenn man es trinken würde, erwiderte er ebenso deutlich:
Wir werden sterben.“

Seppō war von dieser Aussage Jōshūs sehr beeindruckt und nannte ihn einen ewigen Buddha. Warum? Nishijima Roshi erklärt, dass Jōshū sehr viel konkreter und realistischer geantwortet hat als Seppō, dessen Antwort einen gewissen Grad der Abstraktion aufweist. Jōshū wollte mit seinen Worten darauf hinweisen, dass wir uns beim höchsten Zustand der Erleuchtung keinen Illusionen und Träumereien hingeben dürfen, denn nicht alle Lebensprobleme sind mit der Erleuchtung auf einen Schlag beseitigt.

Der höchste Zustand bedeutet die Wirklichkeit selbst, die allerdings nicht immer angenehm und lieblich ist. Auch körperliche Qualen wie etwa eine schwere Krankheit können einen erleuchteten Menschen treffen.

Jōshūs Aussage, dass wir sterben würden, hat aber noch eine weitere, tiefere Bedeutung: Nachdem wir die Wahrheit erlangt haben, „stirbt“ die Abhängigkeit vom festgelegten Denken, von Vorurteilen, abstrakten Lehren sowie von der vordergründigen Sinneswahrnehmung, und die alten, festgefahrenen Lebensphilosophien werden überwunden.

Das gilt sowohl für wirklichkeitsfremdes, idealistisches Denken als auch für den unbegrenzten Glauben an die materielle Welt der Wahrnehmung. Dieses „Sterben“ ist die Voraussetzung für die Balance von Körper und Geist. Jōshū besaß also die Fähigkeit, mit ganz wenigen Worten den Kern der buddhistischen Lehre auszudrücken, ohne in theoretische Abstraktionen zu verfallen.

 Seppō vermied es von da an seinerseits, wie es in der Geschichte heißt, weitere abstrakte Aussagen zu machen und sich in theoretische Diskussionen einzulassen.




[i] Meister Jōshū lebte von 778 bis 897.
[ii] Meister Seppō lebte von 822 bis 907.
[iii] Vgl. Nishijima, Gudo Wafu: Master Dogen’s Shinji Shobogenzo, Bd. 3, Nr. 84