Sonntag, 19. Juli 2015

Geist und Natur lehren die Wahrheit


Dōgen schätzte den alten Meister Tozan außerordentlich und betont:

„Er hat die Wahrheit vollkommen erfasst und verwirklicht, dass den Geist und die Natur der Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen bedeutetet, den (wahren) Geist und die (wahre) Natur der Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen.“

Das heißt, er blieb nicht im unrealen Denken und nebulosen wohl klingenden Reden hängen, sondern war die Wirklichkeit selbst.

Tozans Aussage, dass im Tempel jemand ist, der den Geist erklärt und die Essenz darlegt, sei von zentraler Kraft und Wahrheit. Sie sei die Voraussetzung für die authentische Übertragung auf einen rechtmäßigen Nachfolger.

Anschließend spricht Dōgen davon, dass der Geist in der Einheit der konkreten „Existenz eines Menschen“ und der Idee der „menschlichen Existenz“ dargelegt werde. Dies sind die beiden Seiten derselben Wirklichkeit.[i]

Wie unterscheiden sich daher die beiden Formulierungen im Hinblick auf ihre Bedeutung? Die „Existenz des Menschen“ bedeutet seine konkrete Realität, sein wirkliches Leben und Handeln im Hier und Jetzt. Demgegenüber ist die „menschliche Existenz“ etwas Abstraktes und eine Idee. Bei diesem Begriff abstrahiert man von dem konkreten Menschen und betrachtet die Existenz an sich. Beide, also die Existenz des Menschen und die menschliche Existenz, müssen aber unbedingt eine Einheit sein, damit der Geist und die Natur wirklich erfahren und gelehrt werden können, erklärt Dōgen.

Er verstärkt diesen Ansatz, indem er sowohl für den Geist als auch für die Natur die Einheit von Inhalt-und-Oberfläche, also der äußeren Form, postuliert. Er bittet uns, diese Einheit sehr genau zu untersuchen und zu bedenken. Der wahre Geist ist niemals getrennt von der Darstellung und Darlegung, denn sonst wäre er nur ein abstrakter Gedankeninhalt, der keine reale Komponente in der Form und in der Natur hat.

Auch die Buddha-Natur ist nicht von der wirklichen Existenz im Handeln und Gleichgewicht zu trennen. Sie ist kein ideeller Gedankeninhalt der Lehre und keine Vorstellung, sondern immer konkret mit dem Hier und Jetzt verbunden. Die Buddha-Natur ist die konkrete Wirklichkeit mit zwei Aspekten, dem Inhaltlichen und der äußeren Form.
Dōgen betont, dass die Natur als Essenz des Buddha-Dharma sich selbst darlegt:

„Jene, die fest davon überzeugt sind, dass der natürliche Zustand sich selbst darlegt, sind buddhistische Meister und legitime Nachfolger. Zu sagen, dass der Geist unsicher (und unstetig), aber die Natur ruhig ist, ist die Sichtweise der Nicht-Buddhisten.“

Dass die Natur selbst die Wahrheit und den Dharma lehrt, ist auch ein wesentlicher Inhalt der Kapitel im Shōbōgenzō über die Natur. Dōgens Ausführungen dazu habe ich eingehend in meinem Buch Umwelt-ZEN[ii] behandelt. Die Natur ist kein getrenntes Objekt, das der Mensch beobachtet, bedenkt und untersucht, sondern sie ist die Wahrheit selbst und eine Einheit mit den Menschen, wenn wir die Ebene von Subjekt und Objekt verlassen. Es geht um die buddhistische Praxis des Geistes und der Natur und nicht um theoretische Überlegungen.

Dōgen hebt hervor, dass der Geist und die Natur sowohl von einem Menschen dargelegt werden als auch sich selbst – unabhängig von einem bestimmten Menschen – manifestieren und die buddhistische Wahrheit lehren. Allerdings kommt es vor, dass der Geist und die Natur fehlerhaft dargelegt und gelehrt werden. Und in diesem Fall ist es besonders wichtig, dass sich Geist und Natur auch ohne einen Menschen ausdrücken und selbst die Dharma-Wahrheit lehren.

Wer dies nicht verstanden habe, so Dōgen, bewege sich auf unfruchtbarem Boden und habe keinen Zugang zur „Quelle des Glücks“.




[i] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 3, S. 57, Fußnoten 24 – 26
[ii] vgl. Seggelke, Y. J.: Umwelt-ZEN. Im Auge des Zen, Bd. 3