Mittwoch, 14. Oktober 2015

ES hat geschossen




Das japanische Japanischen Wort Inmo.[i] bedeutet ursprünglich „etwas ganz Selbstverständliches“, das „Etwas“ und das „Es“. Häufig wird es mit „Soheit“ übersetzt und meint damit etwas Tatsächliches, das so selbstverständlich ist, dass man es eigentlich nicht erklären müsste. Und in der Tat kann man es mit Worten nur unzureichend beschreiben. Nach Zen-buddhistischer Lehre sind die Wirklichkeit und Wahrheit durch Denken und Überlegen nicht vollständig fassbar und mit der Sprache nicht oder nur sehr begrenzt auszudrücken.

Der Zen-Geist kann nicht erfasst werden, aber er ist wirklich und real. Genau um diese Wirklichkeit geht es auf dem Buddha-Weg zum Erwachen, zur Klarheit und zur Freiheit in unserem Leben; das ist der Zen-Geist. Für europäisches Denken mag die Unbestimmbarkeit der umfassenden Wahrheit einerseits und deren klare Realität andererseits ein unüberbrückbarer Widerspruch sein. Dieser besteht aber nur auf der Ebene des unterscheidenden Denkens, nicht im Augenblick des Handelns selbst.

Ich möchte nun die Bedeutung von Inmo, also des Etwas, anhand des bekannten Buches Zen in der Kunst des Bogenschießens von Eugen Herrigel erläutern.[ii] Er kam als deutscher Philosoph in den 1920er-Jahren nach Japan, um dort zu lehren und den Buddhismus, insbesondere den Geist im Zen-Buddhismus, zu studieren. Seine dortigen Freunde überzeugten ihn, dass er eine praktische, buddhistische Disziplin erlernen müsse, um diesen Geist zu „verstehen“, und so wählte er die Kunst des Bogenschießens.

n seinem Buch berichtet er, wie er sich unter der Leitung eines erfahrenen Meisters Schritt für Schritt in die körperlichen und geistigen Bereiche des Bogenschießens einarbeitete und dabei so manche schwerwiegende, grundsätzliche Fehler beging, die nicht zuletzt durch seine europäische kulturelle Herkunft und seine Philosophie bedingt waren. Unter anderem bereitete es ihm ein großes Problem, dass sich der Schuss des Pfeils in der höchsten Spannung des Körpers und Bogens wie von selbst lösen sollte, was ihm immer wieder gründlich misslang. Sein bewusster Wille, den Schuss zu lösen, erbrachte nicht die erstrebte Wirkung, dass der Schuss „wie eine reife Frucht“ fallen sollte.

Je angestrengter er versuchte, den Schuss willentlich auszulösen, desto mehr verkrampfte er, und desto mehr wich er von dem Geist der „reifen Frucht“ ab, den sein Meister ihm vorgegeben hatte. Dies führte schließlich dazu, dass der Meister den Unterricht abrupt beenden wollte, weil sein Schüler, wie er meinte, zu eigensinnig vorging, um endlich „Erfolge“ zu erzielen, wodurch er gerade die Aufmerksamkeit für das richtige Spannen und Auslösen des Schusses vernachlässigte. Nur durch Vermittlung seiner japanischen Freunde konnte Herrigel sein Training bei dem Meister doch noch fortsetzen, und er wurde dabei viel einfacher und bescheidener, so schreibt er.

Eines Tages löste sich dann ein Schuss wie von selbst genau im Augenblick der höchsten Spannung des Bogens und des Körper-und-Geistes, die gleichzeitig locker und natürlich war. Das war es! Das war das lange gesuchte „Etwas“! In der vollständig lockeren Haltung von Körper-und-Geist und gleichzeitig in der höchsten Spannung des Bogenschützens musste sich der Schuss von selbst lösen. Zur größten Überraschung des Philosophen Herrigel verneigte sich dann sein Meister vor ihm und dem Bogen und sagte:

ES hat geschossen.“

Der Meister erläuterte anschließend, dass die Ehrung durch die Verbeugung nicht ihm als Person gegolten habe, sondern dem Umstand, dass sich das „Etwas“ des Körper-und-Geistes verwirklicht habe. Er wollte damit ausdrücken, dass dieses Etwas genau die buddhistische Wahrheit ist, die beim Handeln über das Denken, die Wahrnehmung und alles Persönliche hinausgeht. Es ist zugleich die Spannung, Klarheit und das entspannte Gleichgewicht des Geistes und des Körpers.

In diesem Sinne verwendet der Zen-Meister Kurt Österle (KyuSei) als Titel für sein Buch über den Bogenweg den Kōan-Ausspruch

Wenn der Bogen zerbrochen ist – dann schieß!“[iii]

Damit wird klar, dass nicht ein materielles, physikalisches Verständnis des Bogens gemeint ist. Der isolierte, unnatürliche Geist „schießt“ nicht. Der Bogen steht hier aus meiner Sicht für das alte Ego, das zerbrechen muss, damit es wirklich schießt.






[i] Shobogenzo, deutsche Fassung, Bd. 2, S. 151 ff.; englische Fassung, Bd. 2, S. 119 ff.
[ii] Herrigel, Eugen: Zen in der Kunst des Bogenschießens. Der Zen-Weg
[iii] Österle, Kurt: Wenn der Bogen zerbrochen ist – dann schieß! Mit dem Bogenweg die Kunst des Lebens meistern